KategorieLicht am Stelldichein

Erschöpfung

1
Die große Müdigkeit hat mich gestern Abend erreicht. Und heute ziehen deren Ausläufer wie ein feiner, zäher Schleim über den ganzen Tag. In der Arbeit ist die Ablenkung Erholung. Die anderen halten mich aufrecht. Das Arbeitspensum. Die Menschen, die etwas brauchen oder wollen. Die schönsten Stunden sind jene am frühen Morgen. Ich sollte wieder einmal zu essen aufhören, dann kommt die Energie zurück.

2
Jedes Mal vor meinem Dienst stehe ich vorm Spind und höre mich zu ihm sagen: „Kasten, ich möchte dich nie wieder aufsperren!“ Ich stelle mir vor, wenn ich ihn das letzte Mal ausräume, darin einen kleinen Zettel für meine Nachfolgerin zu hinterlassen, auf den ich schreibe: „Ich wünsche Dir Freiheit!“

3
„Du bist erschöpft, eh klar!“ Das darf genau niemand zu mir sagen!

4
Sechs Wochen Kur? Sechs Wochen im Kreis mit 12 anderen Belasteten zusammensitzen und mir ihre Geschichten anhören??

5
Die Gegenwartserschöpfung ist keine Befindlichkeit, sondern ein politischer Zustand.

6
Können bitte einmal alle damit aufhören!

7
Man sollte eine Zeitlang durch den Wald gehen und zu schreien beginnen. Es sollte ein lautes, unermüdliches Schreien sein bis hin zur Erschöpfung am Ende sollte man vergessen haben, was einen so umtreibt. Man sollte nur noch den Körper spüren, sein Zittern, seine Ermattung.

8
„Ich habe für eine Beschwerde bei der Mobbingstelle keine Kraft mehr!“, sagt er

 „Hoffnung habe ich keine mehr, aber Kraft hab ich noch!“, sagt sie.

„Die Therapeutin habe ich aufgrund ihres Vornamens ausgewählt. Sie heißt so wie meine Enkeltochter“, sagt eine andere.

 „Ich war meist etwas müde und konnte somit alles gut genießen“, schreibt mir meine Schwester.

Was mir das Auffallendste ist: meine Gefühlsarmut. „Blende es aus. Blende einmal alles aus, was weh tut“, sage ich zu mir.

9
Motorsensen können ganz schön penetrant sein.

Die Zeit haben, etwas ausklingen zu lassen, … das Gespräch oder einen Arbeitstag oder das gehörte Lied…

„Los lei lafn“, sagt Fuzzmann

10
Beide sitzen wir fest in unseren Leben und können nicht zueinander.

11
So tun, als ob es regnet.
Ins Grün schauen.

 

 

 

Verrückt


1
Ich will mich wieder so einkriegen, dass ich schön bin für andere!

2
Er studiert auf dem zweiten Bildungsweg Psychologie, um so die eigene Meise zu therapieren.

3
Das Ganze dauert eine gute halbe Stunde am helllichten Tag. Die Frau, die rabiat wird, ist noch relativ jung und sieht gar nicht verwahrlost aus. Sie spricht sehr laut, schreit allerdings nicht und ist trotzdem im ganzen Lokal zu hören. Ihre Behauptungen und Anschuldigungen werden immer wüster und unzusammenhängender. Die Besatzung ist nicht in der Lage, sie – zuerst mit gutem Zureden und später mit eindringlichem Verweis – dazu zu bewegen, die Bar zu verlassen. Im Raum macht sich Unruhe breit. Inzwischen wird Unterstützung gerufen, drei Polizisten kommen und versuchen nun, die Frau zu beruhigen. Sie schaffen es. Wie auch immer. Es ist wohl die Mischung aus Uniform und ausführlicher Aufmerksamkeit. Drei Polizisten sind für eine halbe Stunde ganz für sie da. Zu viert verlassen sie in aller Ruhe die Bar, hinaus auf den Yppenplatz.

4
Wir telefonieren oft miteinander. Es gibt  große Unterschiede in diesen Gesprächen. Manchmal ist sie die große Weise und ein anderes Mal blickt sie nicht über ihren Tellerrand, der mit Nachbarinnen und Vereinsleben und derlei Hickhack vollgeräumt ist. Es gefällt mir, dass sie mich heute Abend dazu ermuntert, doch noch ein Schnäpschen zu trinken und mich dabei auf den Tisch zu setzen, um mit den Füßen zu baumeln.

5
Er sitzt auf einer Anhöhe über dem Dorf, in dem er seit 55 Jahren lebt. Er sagt: „Ich komme mir hier so richtig fremd vor, als wäre ich ein Flüchtling.“

6
Es hat Minus Acht Grad Celsius. Heute begegnet mir bereits der zweite Mann, der mit kurzer Hose unterwegs ist. Auf dem Kopf trägt er eine dicke Mütze.

7
Es ist verrückt, nicht alles liegen zu lassen, um Dich zu besuchen.

Moment

1
…jener, an dem Du es wagtest, mich anzusprechen.

2
Ich kann ruhig langsamer werden.

3
Ich kehre am Morgen mit einem Besen unseren Küchenboden. Holzspäne. (Du hast gestern im Wald Holz gemacht und sie mit deinem Hemd ins Haus gebracht) Zwiebelschalen vom Abendessenkochen. Rote Blütenblätter. (Der Sonnenhutstrauss am Tisch lässt Federn.) Staub.

4
Martha, denk an die Musiker, an den Puppenspieler, an den Zauber des Abends, an den feinen Stoff der Puppenkleider, die Figur der Nacht in ihrem hauchdünnen, schwarze Glitzer. Denk an die Träume, die wie Würmer und Kröten und Fabelwesen über die Bühne schweben. Der Drache speit eine Rauchwolke aus. Sie bleibt als schwebendes Monument in der Luft stehen, bewegt sich, verändert laufend die Form, steigt auf und verschwindet schließlich wieder.

Veränderung 2

1
Ein Gedicht weckt mein Bedürfnis nach Veränderung.

2
Jene Schwestern, die auf der Palliativstation arbeiten, brauchen nach 12 Jahren Abwechslung zum Tod.
Bergsteigen? Tanzen? Davonlaufen?

3
Damals, als ich noch jung war, gab es keine Sicherheitsgurte im Auto. Und wo saßen wir? Vorn auf dem Schoß der rauchenden Mutter.

4
Die Ärztin fragt mich danach, wie die eigene Ausscheidung riecht. Um einen Anhaltspunkt zu haben, rufe ich mir in Erinnerung, wie das damals gerochen hat im Stall bei den Schweinen, den Kühen und Kälbern, bei den Hühnern. Den Schafen. Am besten hat es bei den Pferden gerochen. Und nun im Vergleich dazu ich selber, wie rieche ich wohl…

5
Meine Schwester erzählt davon, dass die Sandkiste dem Tischtennistisch weichen muss und der Sand unverzüglich in ein frisch angelegtes Spargelbeet wandert. Die Kinder wachsen, die Pflanzen wachsen auch.

6
Dass meine Veränderungen eine Enttäuschung für andere sind, weil die mich ja so nicht kennen, sehe ich. Derweil bleibe ich ich. Nur mein Innen kehrt sich deutlicher nach außen.

7
Eine Definition von Liebe ist der Wunsch, sich tatsächlich für jemand anderen zu verändern.

8
Beim Zugfahren denke ich mir, es gibt zu viele Menschen auf der Welt.

Gelegenheit


1
Wenn wir einen ganzen Tag herumgaukeln, kommt viel zur Sprache.

2
Selbst die Katastrophen meines eigenen Lebens bekam ich noch eindrucksvoll langsam hin.

3
Hoffentlich bereue ich nicht einmal meinen anständigen Lebenswandel! (Was für ein Dämon beherrscht mich, dass ich mich so gut benehme? H.D. Thoreau.)

4
Ich freue mich, unter Ihnen zu sein.

5
Wir zwei bauchen keine erneute Gelegenheit, wir haben uns einander schon ganz gezeigt, wir haben schon alles.

6
Mein Job, das ist eine Dokumentation des Untergangs.

Gabe

1
Zu sehr viel Geld kommt man am allerleichtesten, wenn man gar nix dafür tut. Man ist einfach Sohn oder Enkelin oder sonst irgendwie Erbin.
Am Zweitleichtesten verdient man viel Geld, wenn man andere für sich arbeiten lässt. Und zu kaum Geld kommt man durch Arbeit, sagt mein Freund.

2
Es gibt mich. Das als Aufgabe zu erkennen ist meine Antwort darauf.

3
Ich habe eine Freundin, sie ist Lehrerin und sie kann von jedem ihr anvertrauten Kind die gesamte Biographie erahnen. Sie kann alle Möglichkeiten und Talente sehen. Das ist eine wertvolle Gabe, die allerdings nur wenige sehen wollen.

4
Wenn wir auf Abstand leben, hat unsere Seele keine Geschichte, sie weiß nicht, womit sie sich verbunden fühlen soll. Wie soll Hingabe gelingen, oder Öffnung, oder Weite? Wir werden uns bedingungslos der Gnade unterwerfen, dort werden wir in Zukunft zu liegen kommen.

5
Die frisch geborene Mutter teilt ihre Gedanken mit mir, sie spricht über die Naturgewalt der Geburt, über des Messers Schneide, die über Leben und Tod entscheidet – in anderen Ländern zu anderen Zeiten hätten wir nicht  überlebt. Möglicherweise unberührt von unserem Nachsinnen reißt der Winzling an ihrer Brust die Augen auf, schwimmt mit den Ärmchen durch die Luft und gähnt gelassen.

6
Er:  Von wem sind die Rosen?
Sie: Von ihm.
Er:  Schon wieder?
Sie:  Ja. Ich nehme sie mit offenen Armen.
Er:  Ich muss mit ihm reden. Er darf dich nicht so verwöhnen.
Sie: Warum nicht?
Er:   Du verstehst keinen Spaß!
Sie: Ja, und dich in einen Prinzen verzaubern kann ich auch nicht.

Zuneigung

 

1
Ich schreibe mir am Abend eine E-Mail an meine Dienstadresse, damit ich etwas Erfreuliches lesen kann am ersten Tag nach dem Urlaub.

2
Wir trauen uns heute zu, Einfühlungsvermögen in einen Hund zu haben, nicht aber in einen anderen Menschen.

3
…eine nachhaltige Beziehung zu Objekten entwickeln. Bei Kunstwerken schlafen. Ein Buch in die Hand nehmen. Meistens zu ein und demselben Kochtopf greifen…

4
Mittlerweile möchte ich die meisten Menschen aus der Ferne lieben.

5
Sie ist empfänglich für detailreiche Schilderungen einer Körperwahrnehmung. Ich nutze diese Bereitschaft schamlos aus, um über meine Libido zu sprechen.

6
Jetzt schreibe ich zum Beispiel schon das Wort Ton mit weichem D. Weil aus jedem Wort, das ich festhalte, ein Du werden müsste. Also schreibe ich Don.

7
Immer wenn die Enkeltöchter das Haus verlassen, winkt sie zum Abschied. Damit diese Geste nicht allzu schwermütig daherkommt, ist ihr jeder Vorwand recht, um so unbeabsichtigt wie möglich vor die Tür zu treten. Zum Briefkasten oder in den Vorgarten zu gehen, ein paar unaufgeregte Handgriffe verrichtend.

8
Schon vor vielen Jahren hat mein Ehemann den Ehering an den Nagel gehängt. Jetzt hänge ich meinen dazu um zu schauen, was weiter passiert.

9
Es ist alles gut, vor allem, weil wir schon lange zusammenleben und miteinander suchen, ein gutes Auskommen zu finden, eine lebensbejahende Zugewandtheit. Es ist nichts gut, vor allem, weil wir schon lange zusammenleben und miteinander suchen, ein annehmbares Auskommen zu finden, eine immerwährende Zumutung.

Offenbarung

1
Das Leben hat keine Handlung.

2
Da bin ich unerschrocken!

3
Und?“, sagt der Bruder zur Schwester. Das waren seine klugen Worte.

4
Ich finde mehr und mehr zu einem Ablauf der Dinge, der mich glauben lässt, es sei immer schon so gewesen. Mehr noch: genau das habe ich immer schon gesucht. Als sei es immer schon so in mir angelegt gewesen und jetzt habe ich jenen Ort gefunden, wo ich mich so richtig entfalten kann. Er befindet sich unter meinen Füßen. Am frühen Morgen stecke ich die Füße in ein warmes Bad, creme sie danach ein und stelle mich dem Tag.

6
Zufälle sind zuverlässig.

5
Irgendwann ist man zu alt fürs Kino.

7
Ich schaue mir keine Serien an, lebe selber in einer.

Versuchung

1
Neue, ekstatische Wahrheiten über das Leben festhalten

2
Ein Krankenbesuch. Eine Frau von 80 Jahren singt mir ein Lied vor:
„i kumm heit zu dir, oba net durch die tür, i klopf an die fenstal an. i muass da wos sogn und muass di wos frogn, es hängt unsa glück davon ob.“

Das habe ihr verstorbener Mann immer wieder gesungen, wenn er schlafen ging. Unabhängig davon, ob sie selber noch wach war oder schon geschlafen habe. Mit zunehmendem Alter habe er immer öfter und frohlockender gesungen.

3
Ilse Aichinger: Schreiben kann man wie beten eigentlich nur, anstatt sich umzubringen. Dann ist es das Leben selbst.

4
Frage: Soll ich mir den Briefwechsel von Camus und Maria Casares, Schreib ohne Furcht und viel, kaufen? Antwort: Schreib lieber!

5
Es macht keinen Sinn, am Abend fernzusehen.
Es macht Sinn, den ganzen Tag und den Abend im Freien zu verbringen.

 

 

 

 

Meer

1
Die March bringt uns in Stimmung, der Fluss, der stetig neben uns rinnt. Ein Rotmilan, ein Graureiher, die singende Meise, die Weidenbachmündung und die tanzenden Bäume, das Schwemmholz, der Sand unter den Füßen. Den Kreislauf der Natur vor Augen, das Leben vergehen sehen, dich an meiner Seite wissen. Limoncello im Picknickkorb. Alles wie ein Tag am Meer.

2
Ich werde nie ankommen. Immer wieder. Der Jenseitsgedanke hat sich aufgelöst.

3
Wir nehmen die Fähre. Das Paar, das die Fähre betreibt, muss nicht zwangsläufig ein Ehepaar sein. Eine Frau und ein Mann. Sie bringen im Halbstundentakt Menschen von einem Seeufer zum anderen. Von der Zugstation zum Ortskern. Und wieder zurück. Den ganzen Tag lang bei (wahrscheinlich) jedem Wetter. Den Fahrgästen geben sie bereitwillig Auskunft darüber, wo die besten Wirtshäuser im Dorf zu finden sind, darüber, ob die Berge eine Gefahr für die Menschen, die da leben, darstellen, wie viel Kriminalität es hier gibt, wo sich das nächste Krankenhaus befindet.
Ungefragt beschreiben sie, wie wir die tiefste Stelle des Sees zu Fuß erreichen können. Wir finden den Weg zur Hängebrücke, die über besagte Stelle führt.  Wir bleiben stehen und staunen in die Tiefe.

4
Der Zaunkönig huscht wie eine Maus im Gebüsch von Strauch zu Strauch. Wir stören ihn kurz im Vorbeigehen. Er bleibt hier über den Winter, ihn zieht nichts Richtung Süden.