KategorieRingsum Nacht

Demut


1
Man darf sich halt nicht immer alles wünschen, zum Beispiel dass man in der Nacht durchschlafen möchte.

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Nach seiner Fußoperation will er nicht über das Gehen reden, sondern über die Demut.

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Sie arbeitet schon seit 43 Jahren im Krankenhaus. Hier hat sie ihren Lehrberuf erlernt und hier wird sie in Pension gehen.

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Ein junger Mensch weiß nicht, wie es ist, alt zu sein. Ein alter hingegen schon, wie es ist, jung zu sein.

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Wenn man etwas realisiert, beginnt schon der Kompromiss. In Tagträumen hingegen kann man sich die Welt noch so ausmale, wie man sie haben möchte…

 

Gebärmutter

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Die Frau hat ein Kind mit einem Trinker. Mittlerweile ist dieses Kind eine Jugendliche. Sie wollte es nicht und hat deshalb ein schlechtes Gewissen, weil sie meint, die seelischen Probleme der Tochter lägen in dieser vorgeburtlichen Ablehnung begründet. Wer ihr das wohl einredet? Mit 30 hat die Frau zu Gott gefunden. Vorher dürfte sie ein normales Leben gelebt haben. Sie sieht wunderschön aus – eine natürliche Schönheit mit einem üppig-warmen Körperbau.

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Der Mann ist im Krieg. Der Sohn steht knapp davor, im Krieg mitzukämpfen. Die Frau lebt mit den zwei volksschulpflichtigen Kindern seit einigen Monaten als Flüchtlingsfamilie im Weinviertel. Das allein klingt schon wie einem dystopischen Film entliehen. Jetzt verlässt sie auch ihre Gesundheit. Sie liegt im Krankenzimmer, in das die Krankenschwestern gar nicht hineinwollen, weil sie es nicht aushalten, dass so junge Frauen dieses schicksalsschwere Leben ertragen müssen. Leben müssen. Mit Sinn erfüllen müssen. – Nein, damit müssen sie es nicht erfüllen.

3
Meine Reise durch das Krankenhaus führt mich in die Gebärmutter einer Rumänin. Darm, Gebärmutter, Eierstöcke sind miteinander verwachsen, bilden eine hochexplosive Insel mitten in ihrem Körper. Sie ist vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit Mann und halbwüchsigem Sohn in das halbfertige Haus eines Scheidungspaares gezogen. Das kann man sich leisten. Seit der Diagnose steht ihr Leben Kopf. Über allem stehen Schock und Ende.
Ich suche Luft zwischen den Gesprächen mit ihr, finde Windhauch …

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Der Mensch braucht sehr viel Kraft, um das Leben zu überstehen.

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Meine Mutter: „Mach es mit Freude, auch das, was Du machen musst.“
Ihre Mutter: „S‘ is wia’s is.“

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Meine Mutter weiß, dass es ein spezielles Training für Frauen gibt, um ihre Sprechstimmen tiefer zu legen. Angeblich ist es so, dass man Männern aufgrund ihrer tieferen Stimmlage lieber zuhört. Ich weiß nicht …

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Wer kann nicht nur zeigen, was ist, sondern auch, was sein könnte?

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… vor mich hin werkeln …

Rand


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Ich höre die Windräder laufen.

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Ästhetische Erfahrungen sind nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit Literatur, Kunst und schönen Dingen, sondern Wahrnehmungen, die uns im Alltag anfassen und überwältigen. Das Flüchtige, Ungeduldige, das Erstaunen, Ergriffensein. Kraft.

„Kraft ist eine Erfahrung, die ich machen kann, ohne etwas zu können“
Christoph Menke

Fotos sind präzise und wahr. Manchmal sind allerdings Lügen besser. Deshalb sollte ich schreiben.

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Auch die Lauten haben einen Platz und die Esoteriker und die Alles-Zerredner und die Grüblerinnen und jene, die in der Nase bohren.

4
Ich zweifle derart an meinen künstlerischen Fähigkeiten, dass es weh tut.

5
Ich werde älter.

6
Meiner Psyche bin ich oft schutzlos ausgeliefert. Um damit fertig zu werden gibt es die Liebe.

Bank

1
In Simbabwe gibt es das Konzept der friendship – bench, einer Parkbank, auf der psychologisch geschulte Bürger sitzen und sich mit Menschen unterhalten, die gefährdet sind, an einer Depression zu erkranken.

2
…zwei Wochen lang durchgehend auf einer Bank vor dem Haus sitzen. Nur aufstehen, um sich im Bett schlafen zu legen…

3
Für alles, was ich erlebe, brauche ich mittlerweile sehr viel Zeit, es zu verarbeiten. 

4
Der Mensch ist dabei, sich selber möglichst schnell an die Wand zu fahren. Wir sind nicht so weit, selbst zu entscheiden, was uns guttut.

5
In der Zeitung lese ich: Die Kinder und Jugendlichen sind Verlierer der Krisen. Niemand kümmert sich. Die Alten sind am Rande der Gesellschaft. Sie werden missachtet. Alle anderen sind erschöpft.

Wir alle sitzen in einem Boot und schauen in die Sterne.
Weite und Unbedeutsamkeit schenken pure Freiheit.

Scheitern


1
Sie geht in Pension. Diese Veränderung stürzt sie in eine bisher unbekannte Leere. Der geliebte Arbeitsplatz bricht weg. Alles bricht weg.
Die sinnliche Freude mit dem Liebhaber hat keine Kraft mehr. In ihrem Garten sieht sie nur den Schatten, der das Wachstum der Pflanzen einschränkt. Es macht keinen Sinn für sie, am Morgen das Bett zu verlassen.

2
Regelmäßig nehme ich Fühlung mit dem auf, „auf das es ankommt“. Gedanken, die mir die offene Straße, die offene Welt eingeben. Ich reise zu Fuß. Das ist allerdings keine Garantie dafür, mich zu schützen vor dem Absturz in den mühsamen Alltag, ins Grau, ins Scheitern.

3
Ich sehe seine Schwächen…. Ich suche seine Stärken.

4
Ich fordere Schmerzensgeld von der Kirche.

5
Ich hasse Rätsel.

Gut und Böse


1
Fuckingdorf. Dort treffen wir einander.

2
Ist es zu spät für mich, aus der Schmollecke herauszutreten und nach der Macht zu greifen? …zuerst befehle ich, dass diejenigen, die vom Geist des Geldes besessen und von der Ichsucht ergriffen sind, eine Entziehungskur machen müssen…

3
„Das größte Geschenk unserer Eltern an uns, ist deren Armut an Geld“, sagt meine Freundin Angela.

4
Ein Jedermann liegt hinter mir.
Wie krank ist das denn, jede Menge Geld für Karten, Essen und Wohnen in Salzburg hinzulegen und mir genau dieses Stück anzuschauen!
Der Bachchoral gefällt mir am besten. Die schauspielerische Leistung ist solide. Das Bühnenbild auch. Großes, langweiliges Theater. Berührt hat mich nur die lange Stille nach dem Auftritt der beiden Vettern.

5
Die Verletzungen, die man sich innerhalb der Familien zufügt, die sind allerorts  gravierend. Wir sitzen am Familientisch und erzählen einander. Mein Cousin mit seiner irren Schwester. Meine Schwester mit ihren Schwiegertöchtern. Wir mit unseren Ehepartnern. Alles bitterschwere Arbeit.

6
Ich setze mich mit meiner Steinschleuder in den Weingarten und verschrecke Stare.

7
Meine Nachbarn sind wunderbar. Sie füttern meine Katze, weil ich das nicht richtig kann. Sie nehmen meine Hühner mit ins Bett, weil diese durch innige Zuneigung mehr Eier legen. Sie beschwören meinen ungepflegten Vorgarten mit Rauchstäbchenritualen, sich doch etwas geordneter zu entwickeln. Sie fangen jeden meiner Gäste vor meiner Haustür ab, um sie vor meiner Griesgrämigkeit zu warnen und ihnen ein Schutzschild in die Hand zu drücken.  Und sie würden es sicher riechen, wenn ich tagelang tot in meinem Bett herumliege um mich dann zu bergen und mit Engelsgesang in den Himmel zu begleiten.

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Ich werde im Krankenhaus ab nun Freiheitsbeschränkung dokumentieren.

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Reguliert euch doch selbst!

Einsamkeit


1
Es hat vier Tage ununterbrochen geregnet. Kein Mensch war zu Besuch. Ich mache auch keinen Schritt vor die Tür. Die Einsamkeit hat voll zugeschlagen.

2
Es kann doch nicht sein, dass sie ihr ganzes Glück von der Beziehung zu einem Mann abhängig macht?

3
…die Faszination meines Besuchers ob der ländlichen Einsamkeit und die Antwort der im Landleben Geübten: „Vieles bleibt am Landleben wohl Illusion.“…

4
Und ich beobachte eine zunehmende Schweigsamkeit an mir, wenn wir zusammensitzen und miteinander reden. Gerne fällt man mir ins Wort oder lässt mich erst gar nicht reden. Weil ich zu langsam bin. Weil ich unsicher bin, was ich zu sagen habe.

5
Ich kann mir selbst eine Stabilität geben, ohne sie im Außen zu suchen, in den Beziehungen, Gesprächen, Lieben. Ich soll mir eine Stabilität im Rückzug sichern, ich will mich in der Konstanz meiner eigenen Existenz erholen.

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Streichel mich mal!

Mystik


1
Taghelle Mystik, nichts erscheint für sich allein, sondern stets als Teil einer ganzen Welt

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Bleib am Singen dran! Die Stimme ist mir das wichtigste Ausdrucksmittel, wenn es um Ekstase geht.

3
Die Jungfernlese ist schon geschehen. Stare haben das erledigt. Der Abend nach dem Tag an dem wir den Verlust bemerken, ist ein trauriger. Obwohl ich mich ablenke mit dem Einkochen von schwarzem Holler, Pfirsichen und Zwetschken, die reichlich an den Bäumen hängen. Und obwohl wir wissen, dass es im Judentum für die Herstellung von koscherem Wein üblich ist, die erste Lese der Natur zu schenken. Die Natur macht einen klein.

4
Die Natur ist DAS Ereignis.

 

Perfektionismus

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…geht mir voll auf die Nerven

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Und wenn ich auf andere auch so wirke?
Wieso kann ich mir denn nicht freundschaftlich eingestehen, dass ich so bin, wie ich bin, weil ich weiß, dass ich nicht perfekt sein kann. Nie.

3
Sie schreibt mir:
„Die spannendsten Entwicklungen meinerseits: 

  • Ich nehme Abstand vom Perfektionismus.
  • Ich ziehe weg.“

Tränen


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Kannst Du Dich erinnern, was Dich damals so berührt hat bei der Lektüre des Buches, sodass Du weinen musstest? Gab es da einen besonderen Gedanken oder etwas, was Dir aufgegangen ist, was Dich erschüttert hat?

2
Die Frau liegt im Bett und weint und redet sich den Kummer von der Seele. Sie kommt nicht vom Fleck, weil der Schmerz groß ist.

Der Fünfundneunzigjährige möchte die Trauer über seine Enkelin ausdrücken, die überraschend in einen Karmel in Frankreich eingetreten ist und die er sicher – nach den dort herrschenden strengen Regeln – nie wieder sehen wird. Also weint er.

Der zu Tode verurteilte Winzer, der dem Sohn nicht zutraut, jetzt die ganze Arbeit alleine zu machen, der ihn nicht im Stich lassen möchte, der mitgestalten will, der seine Handschrift noch nicht stilllegen will, er weint.

Er erzählt die Geschichte seiner Beziehung. Dass ihn seine Frau immer weniger versteht. Dass er nicht mehr kämpfen möchte, dass er nicht mehr müssen möchte. Er weint.

Auf der Treppe treffen wir den Freund, gezeichnet von der letzten Chemotherapie, trotzdem ein Strahlen im Gesicht. Seine Frau dreht sich weg von uns und weint.

Der Sohn sieht in der Vorhalle der kleinen Dorfkapelle die schon vergilbte Parte seines Vaters an der Wand hängen. Das rührt ihn zu Tränen. Hier, hunderte Kilometer weit weg von der Stadt gibt es einen Ort, an dem er beheimatet war, sein Vater.

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Ich strebe eine Auflistung tränentauglicher Filme an, um zu sammeln, wie viel angestaute Traurigkeit im Umlauf ist.

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Viel spricht dafür, dass es der kulturell dominant gewordene Kapitalismus ist, der unsere Gesellschaft und Lebensführung beherrscht. Er ist seit längerem viel mehr als nur eine teils höchst erfolgreiche, teils höchst ungerechte Weise, die Wirtschaft zu organisieren. „Wo Geld zum einzigen Regulativ des symbolischen Tauschs wird, sind trockene Augen und ein entschiedenes, zielgerichtetes Auftreten geboten“, sagt Isabella Guanzini