KategorieRingsum Nacht

Verlorengehen

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Ich kleide mich neue ein. Inklusive Mantel und Schuhe. Ich möchte mir eine neue Seele überziehen. Ich bin zwar noch nicht kalt, aber Feuer hab ich keines mehr. Holt mich ab und bringt mich zur nächsten Demo gegen Rechts!
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Ich sperr mich in meinen Ritualen ein, die sich immer mehr verselbständigen und schleichend jegliche Flexibilität verscheuchen.Einfach losgehen – ohne vorher Gymnastik gemacht zu haben, ohne Zeitung gelesen zu haben, ohne Gesicht, Hände, Füße eingegcremt zu haben, ohne Zähne geputzt zu haben, ohne ein paar „wichtige“ Sätze aufgeschrieben zu haben – das ist jetzt unmöglich.
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Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, zwei Wochen nachdem bei der ärztlichen Untersuchung nichts Auffälliges festgestellt worden war.
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Der Freund zeigt mir eine neue Gegend: Das Blumenthal und den Heurigen Vielnascher in Kollnbrunn. Man fährt einfach in Kollnbrunn beim Bauernladen rein. Der hat auch am Donnerstag offen, genau wie der Heurige. Die Weinviertler Hügellandschaft ist eingeklemmt zwischen der Autobahn, der Brünnerstraße und noch ein paar anderen Wegen. Man kann also nicht verlorengehen.
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Mittlerweile wünschen mir schon mehrere Menschen von Herzen eine Wohnung in Wien. Es geht in Richtung ein Zimmer für mich allein.
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Bin ich in 5 Jahren auch so? neugierig?
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Meine Nachbarin sagt: „Ich bin sehr einsam, mir ist aber nie langweilig, weil ich so viel zu tun habe.“

Es mir vorstellen

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Worauf sich stürzen, wenn die Wahlen so ausgehen? Die Rechtsextremen gewinnen. Wir reimen wieder einmal: Eine Kombination aus Dummheit, Faulheit und Ignoranz führt in diese Gasse. Naja, alles in allem: nicht gut. Aber real. Ich mache einen Spaziergang. Die Menschen waren schon immer hier und ich war schon immer Teil einer Minderheit.
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Ein Freund sagt: Wie kann man ein Wiener Schnitzel essen wollen und dann Rohkost bestellen?
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Ich habe gelesen, dass in Italien ein Dieb geschnappt wurde, weil er in der Wohnung, in die er eingebrochen war, von einem Buch so gefesselt war, dass er sich nicht losreißen konnte. Er war leicht zu überführen.
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Ich fahre zur Supervision und entscheide mich, es als einen Ausflug in die Stadt meiner Träume zu sehen. Das ist heute halt Wien.
Ich schaue auf die Gleise und bemerke, dass sie stabil sind. Die Welt ist nass. In der Wolkersdorfer Gegend stehen plötzlich Seen, wo sonst keine sind. Das Hochwasser ist sichtbar, obwohl die Sonne scheint. Ich stelle mir vor, es könnte immer so sein, das Weinviertel, eine Seenlandschaft.
Im Bus sitzt eine Frau, die ich vom Sehen kenne, sie hat eine ausführliche Chemotherapie hinter sich. Man sieht es ihr an. Ein Sterbesegenheftchen fällt aus meiner Arbeitstasche. Ich stelle mir vor, dass ich es an ihrem Krankenbett brauchen könnte. Aber, es ist viel besser, hier gemeinsam im Bus zu sitzen und gemeinsam auf einen Regenbogen zu schauen.
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Ich kann nur mit jenen Menschen zusammenleben, die da sind. Nicht mit denen, die ich mir vorstelle.

Üben


1
Dürnkrut. Ich nehme die Nordbahn nach Wien. Die ist mir sehr recht. Notgedrungen höre ich zu: „So ein Gespräch hatten wir schon mal“, sagt die junge Frau zu ihrem Begleiter. In Stillfried sehe ich in einem fast ausgetrockneten Tümpel Fische nach Luft schnappen. Tallesbrunn, auch so ein schöner Name. Dörfles. Ich sitze in der S-Bahn nach Wien und denke an Kaminke. „Wer hat dich vorhun angerufen?“, fragt die Frau ihren Partner. Silberwald. Süßenbrunn. Bob Marley war wahnsinnig eifersüchtig. Er hatte offiziell 12 Kinder von 8 Frauen. Von den inoffiziellen wird gar nicht gesprochen. Stadlau. Der Schaffner schaut mein Kleid sehr genau an.

2
Der Platz neben dem Nice Guys, der gefällt mir, weil er so unordentlich ist. Kreativ unordentlich. Ein Flecken in Wien, wie du ihn suchen musst! St. Marx für alle. In einem Dorf wäre das nicht erlaubt.

3
Er hat sich ein apfelgrünes Fahrrad gekauft.

4
Ich will nicht alt und senil werden. Ich sag zu meiner Tochter:  80 ist schon zu viel. Während ich es sage, fällt mir ein: Da habe ich allerdings nicht mehr lange. Meine Tochter erschrickt, obwohl sie mich schon vor Jahren dazu aufgefordert hat, für eine Seniorenresidenz am Ossiachersee Geld zu sparen.

5
Briefe und Geschenke mit der Post zu verschicken ist kostspielig aber ideal.

6
Meine Schwester schickt mir ein Buch, in dem Sex eine herausragende Rolle spielt. Sie meint, ich solle beim Lesen des Buches nicht auf sie zurückschließen. Sie schreibt auch: Hab dich lieb.

7
Ich will nicht ernst sein. Oder so ernst wirken. Da heißt es: üben! üben! üben!

8
Zuhören = Energie

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„Warum sollte ich schreiben?“

kümmern


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Um gesehen zu werden, wie man ist, muss man sich zeigen, wie man ist.

2
Du bist eine komische Frau. Humorvoll. Uneinschätzbar. Ja, du kannst was!

3
Im Café Frida darf ich meinen Laptop nicht auf den Tisch stellen. Gut, dann muss ich auch meinen Aperitif stehen lassen und weitergehen. Beim Türken nebenan ist mehr möglich. Ich mag es nicht, wenn Wirte mich erziehen wollen! Aus dem Alter bin ich draußen.

4
Die Schwerkraft zieht meine Wangen nach unten. Nun ist es auch bei mir so weit, dass ich meine Mundwinkel bewusst nach oben zwingen muss, wenn ich nicht mit einem griesgrämigen Gesichtsausdruck durch die Welt steigen möchte.

5
Seid glücklich, so sehr ihr nur könnt.

6
Ich tröste beim Putzen unsere Eingangstür, streiche kurz drüber, weil sie eigentlich restauriert gehört und sich niemand darum kümmert.

7
In meinem Leben jetzt: was fehlt?

Schreibresidenz


1
Was hindert mich daran, es endlich umzusetzen?
Einen Monat lang nur zu schreiben. Solange ich und meine Liebsten noch leben. Von ihnen zu erzählen. Von uns zu erzählen.

2
Wenn ich von einer Tätigkeit zur nächsten eile, bekomme ich Kopfweh. Das geschieht täglich.

3
An einem guten Gedicht muss ich wohl nicht monatelang schreiben!

4
Es ist schön, wenn Menschen, die etwa 20 Jahre jünger sind als ich, auf mich zukommen und sagen, dass sie mich treffen möchten. Für die kurze Zeit der Begegnung gehören wir einander. Wir machen es uns gut, wir erzählen einander Geschichten, fragen um Rat, tun unsere Meinung kund, vergolden einander Zeit.

5
Und doch habe ich das Gefühl, meine Zeit nicht richtig zu nutzen. Das ist ein Irrtum.

Geheimnislos


1
Er gibt mir einen guten Rat:
Wir Männer brauchen Frauen, die uns auf die Füße treten und Dampf machen.

Sie sagt:
Ich habe die Männer nie richtig verstanden, aber ich hatte sie gerne an meiner Seite.

Eine Freundin sagt:
Ich möchte verschwinden.

Eine andere sagt viel zu viel.

Eine dritte zeigt mir ein Video von ihrem Enkelsohn, aufgenommen in der 24. Schwangerschaftswoche. Das Kind sieht aus wie ein Greis.

2
Am Krankenbett:
Der eine besucht ihn, weil er etwas von ihm braucht.
Der andere kommt, weil er ihn mag.
Der dritte kommt, weil er sich selbst mag.

3
Der Mensch ist geheimnislos.

Zumutungen

1
Ich unterhalte mich sehr gerne mit unseren Kindern! Zum Beispiel darüber, welche Musik sie gerne hören oder warum man heutzutage noch Kinder bekommen sollte.
2
Ich kenne einen Künstler, er ist derart verletzlich, dass er sich jeder Form von Kritik entzieht,  weil ihn Kritik nicht nur verletzt, sondern vernichtet. Deshalb geht er mit seinen Werken nicht an die Öffentlichkeit, er zeigt sie niemandem außer seiner Frau. Ich halte ihn für einen beseelten, begnadeten Künstler mit vielen Kunstwerken, die niemand sehen darf. Ich denke gerne an ihn und an seine mir unbekannten Arbeiten.
3
Kann man ein Luftschloss zerstören, das man sich in der Vergangenheit gebaut hat?
4
Dass junge Menschen von ihren Eltern über alle Maßen behütet werden, dass sie dann beim ersten Menschen, der ihnen einen Wunsch nicht erfüllt, zum Beispiel die Liebe nicht erwidert, in einen derart großen Kummer verfallen, dass sie in der Psychiatrie landen oder im schlimmsten Fall sogar unter einem fahrenden Zug, das fällt auf.
5
Veranstalterin: „Martha, vertrittst du die Hohe Geistlichkeit?“
Ich: „????“
6
Wie soll das denn gelingen? Wertschätzung des immer größer werdenden Angewiesenseins?
7
Weglassen. Loslassen. Zulassen. Einlassen.
Es stimmt.
8
Ich höre, dass die junge Frau ihr Kind abtreiben lässt. Es wurde das Downsyndrom diagnostiziert. Sie macht sich die Entscheidung nicht leicht. Ich versuche, sie zu stützen. Eigentlich versuche ich, ihr familiäres Umfeld zu stützen. Der Zufall will es so, dass ich gerade heute beim Mittagessen einem Mann gegenübersitze, der mit dieser Krankheit (?) lebt.
9
Weint mein Kollege manchmal?
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Die rote Gartenbank bricht unter uns zusammen. Der Nachbar geht mir gut zu. Meine Mutter geht mir nicht gut zu. Aber alles ist, wie es ist. Ich bemühe mich, wertfrei zu bleiben. Die Muse küsst mich nicht. Was soll ich sagen, ich falle dann in ein Loch. Und meine Tochter sagt, in jedem Loch ist es scheiße. Es gibt kein gutes Loch.
11
Nüsse vergolden hilft heute nicht.
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Ich messe mit zweierlei Maß. Und diese Frechheit erlaube ich mir voll und ganz.
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Was ist los mit mir? Einmal am Tag weinen? Was alles ist mir zu viel? Ich fühle mich hin und hergeschubbst.
14
Er findet Bologna sehr schön – ist das die schönste Stadt Italiens?
15
Sie möchte über Sex reden. Sie möchte nicht über Sex reden. Sie möchte Sex haben.

Spinne


1
Ein ganzer Freitag, der nur mir und meinen Ideen gehört. Und wie lautet der erste Gedanke in der Früh? „Soll ich einen Tisch im Stundenhotel reservieren oder selbst ein Fünf-Gänge-Menü kochen?“ Ich habe Lust darauf, unprätentiös und fein, geschmacklich komplex und perfekt aufeinander abgestimmtes Essen zu mir zu nehmen und mit allen Sinnen in einer zeremoniellen Langsamkeit zu genießen.
2
Plötzlich sitze ich im Dorfkaffee und wohne einer seichten Theateraufführung bei. Es kommt mir vor, als müsste ich jeden Sonntag bei meiner Schwiegermutter zu Mittag essen (was nie der Fall war!) In diesem Zusammenhang lerne ich, dass unser Gehirn offenbar keine Überraschungen mag. Stimmt das? Und wenn es gute sind?
3
Ich trinke mit meiner Tochter einen hervorragenden Welschriesling aus dem Südburgenland. Ich unterhalte mich mit ihr über die Grenzen des Dorflebens, über ihre Zukunft an der Uni und darüber, dass sie ihre Wohnung in Wien neu einrichten will. Die Leute rund um uns meinen: „Monogamie, das klingt so verführerisch!“
4
In den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es laut. Man setzt sich in die U-Bahn, um mit der Familie in einem fernen Land zu chatten. Oder um Videos zu schauen (ohne Kopfhörer). Oder alles auf einmal.
5
Das Café am Heumarkt bleibt unverändert außergewöhnlich. Ruhig. Verschroben. Wir essen zusammen ein Menü. Nudelsuppe und einen Schweinsbraten mit Knödeln, Sauerkraut. Und einen Schnaps, den trinken wir dazu.Es ist still im Raum. Nur eine große Säule, ein Nistplatz aus Heu unter den Heizkörpern für die Mäuse und ein paar Gäste, die sich ruhig verhalten, und immer wieder zum Rauchen vor die Tür gehen.
6
Trennen oder zusammenbleiben? Diese Frage stellt sich oft. Und es ist das Einzige, worüber wir reden wollen, wenn es nichts mehr gibt, was noch vor uns liegt. Vielleicht sind wir nur auf der Welt, um die Menschen zu lieben, die wir kennen, um uns um sie zu kümmern, und selbst dann noch zu lieben und uns um sie zu sorgen, wenn es Wichtigeres zu tun gäbe.
7
Wir machen vieles deshalb, weil wir es können.
8
Ich lasse mich von seinem wachen Geist ein bisschen hin- und herschubsen. Zwei Gläser Prosecco, ein gefülltes Salzstangerl und die Nusskekse meiner Freundin sind unsere Nahrung, um abzunehmen. Wir sitzen in einem Raum mit dunkler Tapete und Fotografien mit grünen Motiven an den Wänden. Die Fenster sind weiß und der Ausblick auf den Stephansdom ist einzigartig.
9
Es ist da ein Innenraum, ausgespannt mit jenen Fäden, die meine sind, die mein Hirngespinst sind, meine Gedankenfäden, mein Spinnennetz. Der Boden unter meinen Füßen wird fester, wenn ich diesen Raum manchmal aufräume, ausräume, nur mit jenen Gespinsten bestücke, die mir gefallen. Mein kurzes, kostbares Leben erkennend, selbstvoll … der Raum einer Liebenden.
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Weiterspinnen
11
Faulenzen macht nur Sinn, wenn man ausgeschlafen ist.

Am Abend

1
Die Anstrengung der Freundlichkeit für einen Abend lang riskieren.

2
Der Beginn eines Tanzes soll eine Umarmung sein.

3
Sie kommt nach einem zehnwöchigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nach Hause. Im Haus ist es kalt. Unter dem Benjamin-Ficus liegen viele Blätter. Im Kühlschrank findet sie eingetrocknetes Gemüse, ein Stück Butter, ein paar Gläser Eingemachtes.

4
Der Mann ist um die 80 Jahre alt. Seine Schwester spielt mit ihm seit neuestem bei ihren wöchentlichen Besuchen im Heim mit Duplosteinen. Das rührt sie zutiefst. Sie erinnert sich an ihre gemeinsame Kindheit. Sie empfindet eine Mischung aus Scham und großer Nähe.

5
Wir spielen ein Wortspiel
„Glas berührt nicht, Baum schon!“
Die Regel dahinter: Unterscheide Wörter, bei denen sich die Lippen berühren von Wörtern, bei deren Aussprache sich die Lippen nicht berühren.

6
Er hat Angst vor Schmerzen oder Atemnot beim Sterben. Er möchte gerne gehen und wie ein Kind glauben. Dass vieles offen bleibt, findet er gut. Beten Sie für mich, sagt er zum Abschied. Später schickt er mir eine Weihnachtskarte aus dem Hospiz: Ich würde mich freuen, wenn wir uns in einem offenen Himmel wiederfinden.

7
Seine Bilder will er nicht hergeben.

8
Sie möchte erfolgreich sein bei der Suche nach einer Gemeinschaft, einer Familie und einem inneren Einklang mit der Welt, nach einem Ort, an dem sie aufhört, wegzulaufen, nach einem Ort, der die Möglichkeit birgt, bei sich selbst anzukommen … Weil ich grad dran bin, werde ich jetzt einmal für sie beten. Dass sie vorerst einmal einen eleganten Liebhaber findet.

9
Solange ich der Meinung bin, dass es darum geht, den Dingen auf den Grund zu gehen, kann ich im Leichten nicht froh werden.

10
Ich bin Heiligabend – Ultra.

11
Ich räuchere, was das Zeug hält.

12
Meine Augen leuchten.

13
Sei nicht verloren!

Bruch


1
Niemand muss irgendwo hinziehen. Niemand muss bleiben, wo er ist. Niemand muss festsitzen.

2
Im Dorf kümmert man sich gerne um frisch gebackene, junge Witwen und Witwer. Ohne Rücksicht auf Verluste. Einkochen. Ans Fenster klopfen. Behaupten: Du willst doch nicht allein bleiben, oder?

3
Im Krankenhaus:

Opfer und Täter, das liegt hier sehr nahe beieinander.

Nach der erschreckenden Diagnose ist sie natürlich außer sich. Sie wird zur kontrollierenden Beobachterin ihrer selbst und ihrer Liebsten.

Jede Gesunde ist für jede Kranke eine Zumutung.