KategorieRingsum Nacht

Zwecklos


1
Kraft meiner Person rufe ich nun im Bereich Seelsorge die vollkommene Zwecklosigkeit aus. So ist es!
2
Ein möglicher Zweck, geradezu der Sinn des Lebens, könnte darin liegen, als Martha eine Variation des Lebens ins Spiel zu bringen und zu erproben, ob das geht.
3
Ich mache die Erfahrung, dass die Intensität der Verwirklichung (und Erfüllung) meiner Ideen in direktem Verhältnis zur Länge und Schwierigkeit des Weges steht.
4
Es ist zwecklos, einen genauen Plan zu haben, es kommt ohnehin so, wie es kommen muss.

Geduld


1
Der Beruf einer Profitaucherin schwirrt mir öfter durch den Kopf. Das wäre eine richtige Alternative zu dem, was ich jetzt mache.
2
Das Gefühl ist viel schneller als der Verstand.
3
Bevor man mit einem Menschen spricht, doch lieber mit dem Herrgott sprechen. Das war wohl über lange Zeit das Motto der „typischen“ Weinviertler Bevölkerung. Liege ich dmita richtig? Und mit wem wird heute gesprochen?
4
Der Arzt fragt: „Was war denn am 25. Dezember los? Welche Aufregung hat da Ihr Herz belastet?“
„Das war der 20. Todestag meines Sohnes.“
5
Meine Eltern waren nicht die besten Eltern der Welt. Sie waren nur die einzigen Eltern in meiner Welt. So geht es uns allen.
6
Er ist Optimist, weil er nicht jeden Morgen daran denken möchte, was ihm ohnehin bekannt ist. Dass die Welt ungerecht und die Menschen grausam sind.
7
„Ich bin sehr dankbar für Deine Geduld. Heulsuse Martha

Dreck


1
Ungezählte Male am Tag schmiere ich mir die Hände mit Desinfektionsmittel ein.

2
Meiner Tochter fällt in den Weinkellern des Jura-Weinbaugebietes der viele Schimmel auf. Zudem lassen die Winzer*innen Naturhefen im Keller arbeiten und ziehen die Kellerkatze den Nirosta-Hygienevorschriften vor.

3
Wir sind uns einig darüber, dass es mit der Digitalisierung und Robotisierung gleichzeitig ein anderes Programm geben muss. Ein dreidimensionales. Er spürt es in seiner Reinigungsfirma, ich spüre es im Krankenhaus. Je hygienischer die Abläufe werden, desto mehr bröselt der Mensch weg. Vor allem jene Menschen, die schon etwas länger auf der Welt sind. Manche Menschen werden selber zur Oberfläche, zum Hygienegegenstand, zu einer hygienischen Figur. Manche Menschen werden hochsensibel. Eine Zeit der Dreidimensionalität klopft an. Und eine Zeit der Fokussierung.

4
Heute Morgen war ich im Jörgerbad. Schwimmen. In Unterwäsche. 20 Minuten lang. Das darf man zwar nicht, aber geschehen ist geschehen. Woher soll ich das auch wissen, bin ja fremd hier. Wie gut, dass ich nie nachfrage.

5
Weil wir‘s grade so schön haben, breche ich einen Streit vom Zaun.

6
Meine Mutter behauptet unter anderem, dass sich die Leute bei ihr im Haus so wohlfühlen, weil sie sich vor der Tür die Schuhe nicht ausziehen müssen. So geschah es unlängst, dass die beim Nachbarn arbeitenden Handwerker in den Pausen zu ihr zum Kaffeetrinken kamen und nicht zur Nachbarin. Das erfüllte sie mit stillem Stolz. 

Die Häufchen Dreck, die sie dann am Abend immer mit einem Besen zusammenkehrt, lässt sie einfach liegen. Zum Einsammeln mit Kehrschaufel und Beser‘l hat sie keine Lust oder das Bücken in jedem Raum ist ihr zu anstrengend.

Auch ich lebe in einem Haushalt ohne Staubsaugerroboter. Auch ich ertappe mich dabei, diese Kehr-Häufchen zu machen, mit dem Unterschied, dass ich nicht allein lebe und deshalb die Hoffnung hege
a) mein Mann sieht, wie fleißig ich bin und
b) er es in anerkennender Weise wegkehrt.

Ist das Ganze eine vererbte Verhaltensweise? Auf jeden Fall ist sie ziemlich durchgeknallt.

7
Ich krieg‘ die dunkel gefärbten Ränder unter meinen Fingernägeln nicht weg. Hab beim Hollerausdrücken vergessen, Handschuhe anzuziehen.

8
… wieder eine Tür in mir, hinter die ich nicht schauen mag?

Angst

1
Alle haben Angst vor dem maßlosen Verzicht. Selbst jene, die sonst sehr vernünftig scheinen.

2
Er wollte als Kind nicht ins Kaufhaus nebenan gehen, weil am Eingang ein großes, türbreites Gitter als Fußabstreifer angebracht war, über das er sich nicht zu gehen traute. Er hatte Angst vor dem, was er nicht sehen konnte.

3
Machterhalt baut auf Jugendarbeit und Aufmärsche.

4
Die Sommersonnenwende ist der ideale Zeitpunkt, um Zirbennüsse zu pflücken. Sie sollten nicht vom Boden aufgelesen werden, sondern vom Baum gepflückt. Vor meinem Elternhaus stehen vier hohe Bäume. Und niemand nimmt das Wagnis auf sich, da rauf zu klettern, um die Nüsse zu holen.

 

 

 

Reisigbesen

1
Verschämt nehme ich ein Buch aus der Wühlkiste vor der Buchhandlung und trage es zur Kasse. „Die Magie von Mutter Natur. Handbuch für die moderne Hexe.“ Erscheinungsjahr auf Englisch: 2021. Auf Deutsch: 2023. Ein solcher Titel hat mich zuletzt in den 1980er Jahren angesprochen. Jetzt liegt es bei mir daheim und ich blättere darin.

2
Wie komme ich zu einem Reisigbesen?

3
Seit ich denken kann, berührt mich der Kult rund um das Fronleichnamsfest unangenehm. Bis mich eine Freundin darauf hinweist, wie sinnlich dieses Geschehen für sie als Kind war. Die vielen Blumen, das Gras auf der Straße, die Birkenbäumchen am Rand des Weges. Die Buntheit der Altäre. Wenn ich den katholischen Überbau weglasse und mir das alles als „Vodou Haiti“ vorstelle, bekommt es eine verspielt größere Dimension. Derart geöffnet baue ich mir dieses Jahr einen Fronleichnamaltar. Räucherwerk steht da. Ein paar Fetische, Federn und die Zweige vom Palmsonntag. Rosenblätter, Kräuter, Kerzenlicht und eine Opferschale. In sie lege ich zwei Zigarillos. Rum im Glas. Außerdem hänge ich ein Schild an unsere Haustür: „Hier wird Voodoo-Zauber für eine handverlesene Kundschaft hinter verschlossenen Türen vollzogen!“ Abends rufe ich dreimal meinen Namen, um sicherzustellen, dass er nicht gestohlen wird.

4
Die heutige Körperpflege zeigt, dass sich ein Zeck in meine Brust verbissen hat.

5
Manches Mal wirft man sich der Anerkennung zum Fraß vor.

Fledermaus


1
Man will mich zwingen, an Festlichkeiten teilzunehmen um mich zu benebeln mit ausgelassenen Tänzen und gutem Wein und wie gerne habe ich das in früheren Zeiten getan und jetzt, um wie viel lieber nähme ich einen Faden und schlänge ihn mir um den Finger und strickte eine Runde – sogar im Kino, in das ich manchmal ginge um einen herz- und geisterwärmenden Film zu sehen, obwohl ich den dunklen Saal lieber ganz alleine für mich hätte und mich im Anschluss an den Zauber niemand fragen könne, weshalb ich bei dieser oder jener Stelle zum Lachen kam oder gar Tränen geflossen sind. Eine Flattermaus, ja die könnte ich als Gesellschaft noch akzeptieren, dieses nächtliche Geschöpf, ich würde es Hermann nennen und es, also er, würde mich gar nicht beim Namen nennen, sondern in seinem Winterquartier engen Körperkontakt zu mir suchen um einen Schlafverband mit mir zu bilden gegen die kalte Welt. Hermann würde schlecht sehen, irgendetwas wäre mit seinem Echoortungssystem nicht in Ordnung, trotzdem wäre es ihm ein Anliegen, mir eine kleine Bachschmerle zu fangen, doch schnappte er beim Fischen jedes Mal knapp daneben und wäre somit ganz auf die Solidarität seines Weibchens angewiesen. Ich würde ihm im Frühjahr ein Huhn für uns schlachten und mich im Anschluss an die Schmauserei in seinen Flügeln bergen, kurz rasten, bevor wir abheben, das Flattertier und ich, und sein Ruf nach unbändiger Ausgelassenheit würde die erlaubten 140 Dezibel um ein Vielfaches überschreiten.

2
In einem einzigen Wort kann die ganze Welt transportiert werden.

3
Das wird kein Honiglecken!

4
Ich hänge einen Fledermauskasten in den Baum. Er hängt in 5 Meter Höhe und ist nach Südosten ausgerichtet. Bei großer Hitze im Sommer kann ein kühler Hangplatz überlebenswichtig sein. Ich habe darauf geachtet, dass der Anflug frei ist, damit die Fledermäuse vor dem Kasten schwärmen können. Unter dem Baum wachsen Leimkraut, Wegwarte und Seifenkraut.

Trauer

1
Ein gebrochenes Herz sieht anders.

2
Der Begriff „Trauerarbeit“ impliziert, dass es mit den richtigen Werkzeugen ein Leichtes ist, Trauer abzuhandeln und bei Seite zulegen. Man sollte sich nicht täuschen lassen.

3
Die Künstlerin Evgenia Tsanana betreibt ein „Büro öffentlicher Entlastung“. Hier kann man ihr schlechte Träume erzählen oder „Grüße nach drüben“ schicken. Sie sitzt dabei an einem Holztisch unter freiem Himmel und ritzt auf Wunsch der Besucher*innen die Namen ihrer Toten in Holzstäbe. Die Angehörigen können dazu einen Gruß an die Verstorbenen formulieren oder einen Wunsch für sie verfassen. Hinterher verbrennt Tsanana die Stäbe und lädt ein, gemeinsam eine Totenspeise zu essen.

4
Wann wird das Begräbnis sein, damit ich eine Kerze anzünden kann?

5
Manchmal möchte ich, wenn ich aus dem Krankenhaus rausgehe, nur mehr unversehrte Körper sehen.

6
Ereignisarmut passt nicht zu Erlebnishunger. Ereignisarmut lebt von Nähe. Erst dann entfaltet das Nichtssagende seine Kraft.

7
Es gibt nichts Erregenderes, als beim Verlassen eines Landes mit dem Schiff, von einer wohligen Trauer durchrieselt zu werden, die alles umfasst, das ganze Leben, das ganze Sein, die Welt, und zu fühlen, wie viel mir fehlt, ohne sagen zu können, worin es besteht.

8
Trauer braucht Schonung; man spürt sie erst, wenn sie weg ist.

Leidenschaft


1
Lange Gespräche mit wenigen Patient*innen und danach müde sein. Das liebe ich.

 2
Cohen: Da ist ein Riss, durch den ein Licht fällt.

3
„Aneignung“ ist ein kapitalistisches Wort. Kulturelle Aneignung, das ist ja gar nicht möglich, wenn man Kultur zu verstehen versucht.

4
Ideologiefreiheit. Soweit möchte ich kommen.

5
Meine Freundin, die gar nicht weiß, dass sie meine Freundin ist, hat 3600mal das Wort Nein auf weiße Blätter Papier geschrieben. Mit der Hand. Depressionsprophylaxe, meint sie.

6
Meine Mutter meint, vielleicht sollte man Kinder nicht zu lange stillen, sie neigen laut ihrer Erfahrung zur Verweichlichung. Milupa sei besser als sein Ruf. Die durchaus widerlegbaren Thesen meiner Mutter liebe ich. Sie versucht mit großem Erfolg die Welt zu verstehen und den Laden zu schupfen.

Widerspruch


1
Ein widersprüchlicher Mensch zu sein, das kann eine große Stärke sein. Sie ist verbunden mit dem Recht, auch eine andere zu werden. Ein widersprüchlicher Mensch zu sein bedeutet, ein durstiger Mensch zu sein, hungern nach dem, was über die eigenen Grenzen hinaus geschieht. Widersprüchlichkeit meint dann eine mystische Gleichzeitigkeit von traurig und glücklich, bitter und süß, verbindend und zerstörerisch und sie überrascht mit gegensätzlichen Meinungen, Eigenschaften, Ideen.

2
Die Gefahr, dass mein Denken und Fühlen auseinanderbrechen, ist bei mir nicht sehr groß. Bis jetzt.

3
Zweifel ist eine geöffnete Tür.

4
Burnout geht gut. Alkoholismus geht nicht.

5
Zu denken, dass alles gut wird, wenn wir von Ort zu Ort reisen, ist Unsinn. Gleichzeitig reisen wir von Ort zu Ort.

Wehen


1
Der Verstand kehrt zurück, doch du setzt ihn nicht ein. DIE FANTASTISCHEN VIER.

2
Im Radio höre ich jemanden sagen, dass es wenige Lebensmodelle gibt, die sich nicht am Kapitalismus, sondern an der Einfachheit orientieren, ohne sich dabei arm vorzukommen. Ich halte mich an Sternenfotos. Sterne und Poesie. Das James-Webb-Weltraumteleskop. Das Sternenlicht, das wir dadurch sehen, ist viel älter als alles Leben auf der Erde.

3
Meine Schwester macht sich hauptsächlich Gedanken zu ihren Kindern. Was sonst noch da ist, das müssen wir ein nächstes Mal besprechen.

4
Mein Sohn überlegt, die schmerzenden Stellen auf seinem Körper mithilfe einer schwarzen Tätowierung zu kennzeichnen.

5
Ich halte mich daran zu wissen, dass wir nichts in der Hand haben und ich das schon lange weiß. Ich halte mich daran, dass ich spüre, wenn etwas Sinn für mich macht. Ich halte mich daran, dass ich als Kind gelernt habe, mich an etwas zu halten. Solidarität ist nicht neu für mich.

6
Neu für mich ist der Hinweis, dass eine richtige Gemeinschaft nicht aus vielen Menschen bestehen muss.
Die Weltengemeinschaft ist eine Katastrophengemeinschaft, der es manchmal gelingt, die Katastrophen abzuwenden. Aber nie im Leben wird das eine Solidargemeinschaft!

7
Meine Welt wird immer kleiner.

8
Nachwehe.