KategorieRingsum Nacht

Reisigbesen

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Verschämt nehme ich ein Buch aus der Wühlkiste vor der Buchhandlung und trage es zur Kasse. „Die Magie von Mutter Natur. Handbuch für die moderne Hexe.“ Erscheinungsjahr auf Englisch: 2021. Auf Deutsch: 2023. Ein solcher Titel hat mich zuletzt in den 1980er Jahren angesprochen. Jetzt liegt es bei mir daheim und ich blättere darin.

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Wie komme ich zu einem Reisigbesen?

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Seit ich denken kann, berührt mich der Kult rund um das Fronleichnamsfest unangenehm. Bis mich eine Freundin darauf hinweist, wie sinnlich dieses Geschehen für sie als Kind war. Die vielen Blumen, das Gras auf der Straße, die Birkenbäumchen am Rand des Weges. Die Buntheit der Altäre. Wenn ich den katholischen Überbau weglasse und mir das alles als „Vodou Haiti“ vorstelle, bekommt es eine verspielt größere Dimension. Derart geöffnet baue ich mir dieses Jahr einen Fronleichnamaltar. Räucherwerk steht da. Ein paar Fetische, Federn und die Zweige vom Palmsonntag. Rosenblätter, Kräuter, Kerzenlicht und eine Opferschale. In sie lege ich zwei Zigarillos. Rum im Glas. Außerdem hänge ich ein Schild an unsere Haustür: „Hier wird Voodoo-Zauber für eine handverlesene Kundschaft hinter verschlossenen Türen vollzogen!“ Abends rufe ich dreimal meinen Namen, um sicherzustellen, dass er nicht gestohlen wird.

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Die heutige Körperpflege zeigt, dass sich ein Zeck in meine Brust verbissen hat.

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Manches Mal wirft man sich der Anerkennung zum Fraß vor.

Fledermaus


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Man will mich zwingen, an Festlichkeiten teilzunehmen um mich zu benebeln mit ausgelassenen Tänzen und gutem Wein und wie gerne habe ich das in früheren Zeiten getan und jetzt, um wie viel lieber nähme ich einen Faden und schlänge ihn mir um den Finger und strickte eine Runde – sogar im Kino, in das ich manchmal ginge um einen herz- und geisterwärmenden Film zu sehen, obwohl ich den dunklen Saal lieber ganz alleine für mich hätte und mich im Anschluss an den Zauber niemand fragen könne, weshalb ich bei dieser oder jener Stelle zum Lachen kam oder gar Tränen geflossen sind. Eine Flattermaus, ja die könnte ich als Gesellschaft noch akzeptieren, dieses nächtliche Geschöpf, ich würde es Hermann nennen und es, also er, würde mich gar nicht beim Namen nennen, sondern in seinem Winterquartier engen Körperkontakt zu mir suchen um einen Schlafverband mit mir zu bilden gegen die kalte Welt. Hermann würde schlecht sehen, irgendetwas wäre mit seinem Echoortungssystem nicht in Ordnung, trotzdem wäre es ihm ein Anliegen, mir eine kleine Bachschmerle zu fangen, doch schnappte er beim Fischen jedes Mal knapp daneben und wäre somit ganz auf die Solidarität seines Weibchens angewiesen. Ich würde ihm im Frühjahr ein Huhn für uns schlachten und mich im Anschluss an die Schmauserei in seinen Flügeln bergen, kurz rasten, bevor wir abheben, das Flattertier und ich, und sein Ruf nach unbändiger Ausgelassenheit würde die erlaubten 140 Dezibel um ein Vielfaches überschreiten.

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In einem einzigen Wort kann die ganze Welt transportiert werden.

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Das wird kein Honiglecken!

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Ich hänge einen Fledermauskasten in den Baum. Er hängt in 5 Meter Höhe und ist nach Südosten ausgerichtet. Bei großer Hitze im Sommer kann ein kühler Hangplatz überlebenswichtig sein. Ich habe darauf geachtet, dass der Anflug frei ist, damit die Fledermäuse vor dem Kasten schwärmen können. Unter dem Baum wachsen Leimkraut, Wegwarte und Seifenkraut.

Trauer

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Ein gebrochenes Herz sieht anders.

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Der Begriff „Trauerarbeit“ impliziert, dass es mit den richtigen Werkzeugen ein Leichtes ist, Trauer abzuhandeln und bei Seite zulegen. Man sollte sich nicht täuschen lassen.

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Die Künstlerin Evgenia Tsanana betreibt ein „Büro öffentlicher Entlastung“. Hier kann man ihr schlechte Träume erzählen oder „Grüße nach drüben“ schicken. Sie sitzt dabei an einem Holztisch unter freiem Himmel und ritzt auf Wunsch der Besucher*innen die Namen ihrer Toten in Holzstäbe. Die Angehörigen können dazu einen Gruß an die Verstorbenen formulieren oder einen Wunsch für sie verfassen. Hinterher verbrennt Tsanana die Stäbe und lädt ein, gemeinsam eine Totenspeise zu essen.

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Wann wird das Begräbnis sein, damit ich eine Kerze anzünden kann?

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Manchmal möchte ich, wenn ich aus dem Krankenhaus rausgehe, nur mehr unversehrte Körper sehen.

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Ereignisarmut passt nicht zu Erlebnishunger. Ereignisarmut lebt von Nähe. Erst dann entfaltet das Nichtssagende seine Kraft.

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Es gibt nichts Erregenderes, als beim Verlassen eines Landes mit dem Schiff, von einer wohligen Trauer durchrieselt zu werden, die alles umfasst, das ganze Leben, das ganze Sein, die Welt, und zu fühlen, wie viel mir fehlt, ohne sagen zu können, worin es besteht.

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Trauer braucht Schonung; man spürt sie erst, wenn sie weg ist.

Leidenschaft


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Lange Gespräche mit wenigen Patient*innen und danach müde sein. Das liebe ich.

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Cohen: Da ist ein Riss, durch den ein Licht fällt.

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„Aneignung“ ist ein kapitalistisches Wort. Kulturelle Aneignung, das ist ja gar nicht möglich, wenn man Kultur zu verstehen versucht.

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Ideologiefreiheit. Soweit möchte ich kommen.

5
Meine Freundin, die gar nicht weiß, dass sie meine Freundin ist, hat 3600mal das Wort Nein auf weiße Blätter Papier geschrieben. Mit der Hand. Depressionsprophylaxe, meint sie.

6
Meine Mutter meint, vielleicht sollte man Kinder nicht zu lange stillen, sie neigen laut ihrer Erfahrung zur Verweichlichung. Milupa sei besser als sein Ruf. Die durchaus widerlegbaren Thesen meiner Mutter liebe ich. Sie versucht mit großem Erfolg die Welt zu verstehen und den Laden zu schupfen.

Widerspruch


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Ein widersprüchlicher Mensch zu sein, das kann eine große Stärke sein. Sie ist verbunden mit dem Recht, auch eine andere zu werden. Ein widersprüchlicher Mensch zu sein bedeutet, ein durstiger Mensch zu sein, hungern nach dem, was über die eigenen Grenzen hinaus geschieht. Widersprüchlichkeit meint dann eine mystische Gleichzeitigkeit von traurig und glücklich, bitter und süß, verbindend und zerstörerisch und sie überrascht mit gegensätzlichen Meinungen, Eigenschaften, Ideen.

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Die Gefahr, dass mein Denken und Fühlen auseinanderbrechen, ist bei mir nicht sehr groß. Bis jetzt.

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Zweifel ist eine geöffnete Tür.

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Burnout geht gut. Alkoholismus geht nicht.

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Zu denken, dass alles gut wird, wenn wir von Ort zu Ort reisen, ist Unsinn. Gleichzeitig reisen wir von Ort zu Ort.

Wehen


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Der Verstand kehrt zurück, doch du setzt ihn nicht ein. DIE FANTASTISCHEN VIER.

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Im Radio höre ich jemanden sagen, dass es wenige Lebensmodelle gibt, die sich nicht am Kapitalismus, sondern an der Einfachheit orientieren, ohne sich dabei arm vorzukommen. Ich halte mich an Sternenfotos. Sterne und Poesie. Das James-Webb-Weltraumteleskop. Das Sternenlicht, das wir dadurch sehen, ist viel älter als alles Leben auf der Erde.

3
Meine Schwester macht sich hauptsächlich Gedanken zu ihren Kindern. Was sonst noch da ist, das müssen wir ein nächstes Mal besprechen.

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Mein Sohn überlegt, die schmerzenden Stellen auf seinem Körper mithilfe einer schwarzen Tätowierung zu kennzeichnen.

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Ich halte mich daran zu wissen, dass wir nichts in der Hand haben und ich das schon lange weiß. Ich halte mich daran, dass ich spüre, wenn etwas Sinn für mich macht. Ich halte mich daran, dass ich als Kind gelernt habe, mich an etwas zu halten. Solidarität ist nicht neu für mich.

6
Neu für mich ist der Hinweis, dass eine richtige Gemeinschaft nicht aus vielen Menschen bestehen muss.
Die Weltengemeinschaft ist eine Katastrophengemeinschaft, der es manchmal gelingt, die Katastrophen abzuwenden. Aber nie im Leben wird das eine Solidargemeinschaft!

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Meine Welt wird immer kleiner.

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Nachwehe.

Demut


1
Man darf sich halt nicht immer alles wünschen, zum Beispiel dass man in der Nacht durchschlafen möchte.

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Nach seiner Fußoperation will er nicht über das Gehen reden, sondern über die Demut.

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Sie arbeitet schon seit 43 Jahren im Krankenhaus. Hier hat sie ihren Lehrberuf erlernt und hier wird sie in Pension gehen.

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Ein junger Mensch weiß nicht, wie es ist, alt zu sein. Ein alter hingegen schon, wie es ist, jung zu sein.

5
Wenn man etwas realisiert, beginnt schon der Kompromiss. In Tagträumen kann man sich die Welt noch so ausmalen, wie man sie haben möchte.

 

Gebärmutter

1
Die Frau hat ein Kind mit einem Trinker. Mittlerweile ist dieses Kind eine Jugendliche. Sie wollte es nicht und hat deshalb ein schlechtes Gewissen, weil sie meint, die seelischen Probleme der Tochter lägen in dieser vorgeburtlichen Ablehnung begründet. Wer ihr das wohl einredet? Mit 30 hat die Frau zu Gott gefunden. Vorher dürfte sie ein normales Leben gelebt haben. Sie sieht wunderschön aus – eine natürliche Schönheit mit einem üppig-warmen Körperbau.

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Der Mann ist im Krieg. Der Sohn steht knapp davor, im Krieg mitzukämpfen. Die Frau lebt mit den zwei volksschulpflichtigen Kindern seit einigen Monaten als Flüchtlingsfamilie im Weinviertel. Das allein klingt schon wie einem dystopischen Film entliehen. Jetzt verlässt sie auch ihre Gesundheit. Sie liegt im Krankenzimmer, in das die Krankenschwestern gar nicht hineinwollen, weil sie es nicht aushalten, dass so junge Frauen dieses schicksalsschwere Leben ertragen müssen. Leben müssen. Mit Sinn erfüllen müssen. – Nein, damit müssen sie es nicht erfüllen.

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Meine Reise durch das Krankenhaus führt mich in die Gebärmutter einer Rumänin. Darm, Gebärmutter, Eierstöcke sind miteinander verwachsen, bilden eine hochexplosive Insel mitten in ihrem Körper. Sie ist vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit Mann und halbwüchsigem Sohn in das halbfertige Haus eines Scheidungspaares gezogen. Das kann man sich leisten. Seit der Diagnose steht ihr Leben Kopf. Über allem stehen Schock und Ende.
Ich suche Luft zwischen den Gesprächen mit ihr, finde Windhauch …

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Der Mensch braucht sehr viel Kraft, um das Leben zu überstehen.

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Meine Mutter: „Mach es mit Freude, auch das, was Du machen musst.“
Ihre Mutter: „S‘ is wia’s is.“

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Meine Mutter weiß, dass es ein spezielles Training für Frauen gibt, um ihre Sprechstimmen tiefer zu legen. Angeblich ist es so, dass man Männern aufgrund ihrer tieferen Stimmlage lieber zuhört. Ich weiß nicht …

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Wer kann nicht nur zeigen, was ist, sondern auch, was sein könnte?

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… vor mich hin werkeln …

Rand


1
Ich höre die Windräder laufen.

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Ästhetische Erfahrungen sind nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit Literatur, Kunst und schönen Dingen, sondern Wahrnehmungen, die uns im Alltag anfassen und überwältigen. Das Flüchtige, Ungeduldige, das Erstaunen, Ergriffensein. Kraft.

„Kraft ist eine Erfahrung, die ich machen kann, ohne etwas zu können“
Christoph Menke

Fotos sind präzise und wahr. Manchmal sind allerdings Lügen besser. Deshalb sollte ich schreiben.

3
Auch die Lauten haben einen Platz und die Esoteriker und die Alles-Zerredner und die Grüblerinnen und jene, die in der Nase bohren.

4
Ich zweifle derart an meinen künstlerischen Fähigkeiten, dass es weh tut.

5
Ich werde älter.

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Meiner Psyche bin ich oft schutzlos ausgeliefert. Um damit fertig zu werden gibt es die Liebe.

Bank

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In Simbabwe gibt es das Konzept der friendship – bench, einer Parkbank, auf der psychologisch geschulte Bürger sitzen und sich mit Menschen unterhalten, die gefährdet sind, an einer Depression zu erkranken.

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…zwei Wochen lang durchgehend auf einer Bank vor dem Haus sitzen. Nur aufstehen, um sich im Bett schlafen zu legen…

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Für alles, was ich erlebe, brauche ich mittlerweile sehr viel Zeit, es zu verarbeiten. 

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Der Mensch ist dabei, sich selber möglichst schnell an die Wand zu fahren. Wir sind nicht so weit, selbst zu entscheiden, was uns guttut.

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In der Zeitung lese ich: Die Kinder und Jugendlichen sind Verlierer der Krisen. Niemand kümmert sich. Die Alten sind am Rande der Gesellschaft. Sie werden missachtet. Alle anderen sind erschöpft.

Wir alle sitzen in einem Boot und schauen in die Sterne.
Weite und Unbedeutsamkeit schenken pure Freiheit.