KategorieAlle Sieben am Tisch

Apulien


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Frage an den Ökonomen Donato Di Carlo: Sie sind im Süden Italiens aufgewachsen. Welche Optionen gibt es dort? Antwort: Emigration, organisierte Kriminalität, Schwarzarbeit oder Arbeit im öffentlichen Sektor. Na dann: fai buon viaggio!

  1. Dezember 2024

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Wien Schwechat. Um 5 Uhr morgens ist der Flughafen molto occupato. Das Flughafengeschäft funktioniert bis auf ein paar Sicherheitskram mittlerweile digital. Jede Fluglinie hat ihre App, die Bordkarte ist sowieso auf dem Handy, das Einchecken des Koffers erledigt auch eine Maschine. Wir leisten uns allerdings eine persönliche Assistenz: Sie navigiert uns durch diese kleinen und großen Abenteuer. Der ungarische Kellner, der uns noch am Boden ein kleines Frühstück serviert, ist sehr guter Dinge und unterstreicht unsere Vorfreude.
Für mich: Zum ersten Mal nach Bari fliegen. Abflug: 6.30 Uhr. Im Flugzeug geht die Sonne auf. Der Schneeberg leuchtet am Horizont, weil der Schnee das Licht reflektiert. Wir bestellen (auch digital!) zwei Bordgetränke: Whisky und Capri Um 7.05 Uhr wird angestoßen!

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Bari. Wir mieten uns ein Auto mit allen Versicherungen. Und uns gefällt das. Dass uns der Mann von Sixt die Bäckerei Fiore empfiehlt, erkennen wir erst während des Besuchs dort als freundlichen Tipp. Der erste Parkplatz, den wir anvisieren, entpuppt sich als weiteres erheiterndes Erlebnis: Wir können gar nicht so schnell schauen und Auto samt Schlüssel sind in fremder Hand. Die Parkwächter leisten ganze Arbeit. Es ist früher Vormittag und die Stadt wacht gerade auf. Ein erster Espresso plus ein erstes Germteiggebäck mit viel Zucker im Stehen genossen. Der erste Prosecco im Sitzen. Natürlich besuchen wir die Nikolauskirche und zünden Kerzen an. Wir kaufen ein Sackerl mit „hergeschnittenem Gemüse“ – am Abend wird es damit ein Leichtes sein, die beste Minestrone zu kochen. Die „älteren“ Frauen, die vor ihren Wohnungen direkt auf der Straße frisch zubereitete Orecchiette verkaufen, sehen wir leider nicht.

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Auf der zweistündigen Fahrt Richtung Brindisi gewöhnen wir uns noch nicht daran, dass uns die vorbeiziehende Landschaft weniger „niederkultiviert“ und die Bebauung triste vorkommt. Die Gegend wird immer zerlumpter. Die alten Olivenbäume machen uns (hier noch) staunen – weiter im Süden stehen sie als Baumruinen herum, weil sie von einem Feuerbakterium getötet werden. Aus den vielen halbfertigen und verlassenen Bauruinen schließen wir, dass immer wieder das Geld zu knapp wird. Das Meer begleitet uns ein Stück weit, die tief stehende Sonne wird unsere liebste Reiseführerin. Der Espresso im Barocco Cafe schmeckt natürlich hervorragend. Am Strand Pizzo springen zwei Delphine in den Sunset. Dieser Augenblick wird zu einem der Höhepunkte unserer Reise.

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Man wird im Alter einsam. Einsamer. Beginnt das jetzt schon? Ich kann mich noch so gut an meine Jugend-Einsamkeit erinnern – als ob es gestern gewesen wäre… und jetzt soll das schon wieder anfangen? Man kann hier und in Erdpreß einsam sein. Die Einsamkeit gehört zu unser aller Lebensweg. Aus ihr erwächst Kraft, Kreativität. Wir müssen Raum für sie schaffen, sie einladen, anstatt sie in einer Angst beliebig zu füllen. Wir sollten sie öfter aufsuchen, als sie mit Unwichtigem zu verdrängen.

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Taviano, Villa Li Giannelli, Province of Lecce. Wir finden die Villa des Freundes. Wir finden fast alle passenden Schlüssel zu den Schlössern der vielen Tore und Türen. Im Laufe der Tage finden wir Gefallen an all den Lampen und Lichtern, die überall im Haus verteilt sind. Wir kommen dem Vermieter, näher, obwohl wir ihn kaum kennen. Ich hasse Überwachungskameras. Mit so was können Jugendliche nicht einmal mehr nachts von daheim wegschleichen. Hauptsache, potenzielle Einbrecher werden nicht abgeschreckt! Die Nachbarn und Haus- und Hofkümmerer Guiseppe und Gabriela besuchen uns zweimal, um uns mit Warmwasser und Heizung unter die Arme zu greifen. Gabriela war schon einmal die Befane zu Heiligendreikönigen. Das erzählt sie stolz.

  1. Dezember

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Die Schönheit des Gartens wird mir erst am zweiten Tag bewusst. Hier hat jemand schon viel Liebe hineingesteckt. Granatapfelbäume, Zitronenbäumchen, frisch gepflanzt, Olivenbäume, gelb blühender Sauerklee. Die Wege sind geschottert, Büsche, deren Namen ich nicht kenne, säumen sie. Viele Pflanzen werden bewässert. Oleander, Kakteen, Gräser. Verschiedene Arten von Palmen. Hoch, majestätisch. Ich lese im Buch über die Liebe von Baum-Schüchternheit: Bei einigen Baumarten wird beobachtet, dass sich die vollen Baumkronen nebeneinader stehender Pflanzen nicht berühren. Pflanzen sind also sehr wohl in der Lage, die Grenzen ihres Selbst und die des Nachbarn wahrzunehmen und zu wahren. Huhhh! Artischocken aus Beton oder Keramik zieren die Stiegenaufgänge. Überall Sitzplätze und Hängesessel. Diese werden hauptsächlich Rossino und Madame Miau aufgesucht.

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Die Entdeckung des Schwedenofens: Es wird jetzt richtig warm im Wohnzimmer. Die Tochter sagt mir zu, dass es zu den Menschenrechten zählt, einen Espresso zu trinken. Mir kann nichts mehr passieren.

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Im Supermarkt lernen wir neue Freunde kennen. Sie sprechen uns an, weil sie gerne Deutsch hören. 20 Jahre haben sie als Gastarbeiter in Hamburg gelebt und gearbeitet, zwei Töchter geboren und großgezogen. In die Pension sind sie zurückgekehrt. Hier ist es ruhiger. Sie wohnen nur vier Kilometer vom Meer entfernt. Die Töchter sind geblieben… Katja und Sabine …. Wohl auch wegen des Bildungssystems und der wirtschaftlichen Situation …. Sie vermehren sich weiter. Heute, kurz vor Silvester, werden die Großeltern wehmütig, so weit weg von ihren Lieben.

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Wildgemüse und Obst am Standl von Sandro Spennato. Ein einfacher Holzverschlag und unverstellte Freundlichkeit empfangen uns. Käse und Ricotta bei Margheritas Caseificio versteckt sich hinter einem Friseurgeschäft. Beide Einrichtngen empfiehlt uns unser Vermieter, wir hätten diese einfachen Verkaufsstände nie ohne genaue Adressangabe gefunden! Und wie glücklich es uns macht, hier einzukaufen. Gerade weil die Auswahl nicht so groß ist. Die Qualität, wir werden es später noch merken, ist hervorragend. Das Gemüse und der Käse sind sogar eine Woche später -zurück im Weinviertel – wunderbar zu essen. Claudios Bar. Pasticceriea. Der bestenPannetone ever! Einmal gefüllt mit Schokolade, einmal mit kandierten Orangen. Tonis Kuchen! Grappa, Frizzante. Foccacia. Pasticciotto con crema. Was wollen wir mehr.

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Wir entdecken die Dachterrasse.
Wir baden in der Bucht, nahe unserer Villa, in Sonne, Meer und guter Luft.

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Ich habe mich in den wilden Broccoli verliebt. Orecchiette con cima di rapa.
Das Leitungswasser schmeckt salzig. Das Wasser kommt über ein Rohrsystem (Acquedotto Pugliese ) aus der Basiliata. Das Salz schummelt sich ins Trinkwasser – entweder sind die Leitungen undicht oder es vermischt sich mit dem Grundwasser. Dieses salzige Wasser muss eine Herausforderung für die Hausfrauen und -männer und ihre Küchengeräte sein.

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In Gallipoli ist immer Weihnachten.

  1. Dezember

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Wir suchen den südlichsten Teil Apuliens auf. Santa Maria De Leuca. Eine Wanderung zum Ende des apulischen Aquädukts, der als Wasserfall angelegte Hang führt kein Wasser. Ich wage ein kleines Tänzchen zu „Last Christmas“, das aus einem Lautsprecher über dem Meer erschallt.

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Die Sonne scheint betörend hell. Zu jeder Tageszeit. Ich beginne damit, ein Buch über die Liebe zu lesen. Die Liebe zu Menschen, zu Tieren, zu Dingen. Ein Weihnachtsgeschenk. Natürlich bin ich mit Menschen unterwegs, die ich liebe. Die zwei Katzen, die in der Villa daheim sind, liebe ich nicht, wahrscheinlich. Das Exquisite der frittierten Mohnblätter (- sind wohl eher gedünstet, zum Frittieren fehlt das Fett -) müsste sich erst noch zeigen. Liebe ist, mit der eigenen Einsamkeit freundlich und wohlwollend umzugehen, lese ich in meinem Buch. Ich salze zu viel. Zumindest das Silvesteressen. Welt versalzen. Die lieben Mitreisenden finden einen Neujahrsvorsatz für mich: kein Salz verwenden. Ich weiß, das schaffe ich keinen halben Tag.

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Tarotkarten ziehen und den Zauber des neuen Jahres erahnen … hoffentlich werden wir leichtfüßig auftreten. Das ist mein Platz im Kosmos, ein Staubkorn, ein Schnappschuss – federleicht und flüchtig. Und das Wintersternenbild Orion ist natürlich auch hier deutlich zu sehen. Die Tochter geht zu Mitternacht baden im Pool.

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Je länger ich lebe, desto klarer wird, dass die Liebe siegt. Ob wir sie nun Freundschaft, Familie oder Romantik nennen – darin besteht, das Licht des anderen zu spiegeln und zu vergrößern (James Baldwin)

1. Jänner 2025

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In Lecce spielt eine französische Mutter mit ihren beiden Kindern „Donner, Wetter, Blitz“ auf der Straße. Wir sitzen im scheinbar ersten Lokal, das in Lecce öffnet. Doppia zero. 00. Erst später lesen wir im Reiseführer, dass es ein sehr unfreundliches Restaurant ist. Und das spüren wir auf den ersten Blick. Zu viel Erfolg? Laut Reiseführer sind die Leute in Lucca generell so eingestellt: „Lecce ist eine Stadt der Kunst. Uns ist scheißegal, wer kommt und wer geht!“ Diese Stadt rinnt also nicht in mich. Barock. Es wird viel gebettelt. Wir finden den Fanshop von AC Lecce und das Stadion. Von außen gesehen: ein Betonbunker. Die Frau vom kleinen Stand mit selbstgemachtem Schmuck ist der freundlichste Mensch, dem wir begegnen. Sie leuchtet ganz bescheiden in einem Winkel an einer Hauswand. Ihr Rad lehnt neben dem provisorisch aufgebauten Standl. Sie verkauft uns einen Hals- und einen Armreifen. Sorgfältig packt sie alles ein und entfacht ein kleines Gespräch.

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Am Abend kocht die Freundin endlich viel Pasta mit viel Soße! Und ich versuche, die Minestrone nicht zu versalzen. Nach dem Essen genieße ich die Zeit, an der am Nebentisch irgendein Spiel gespielt wird und ich in Ruhe lesen kann. Wir sind einander freundlich zugewandt und verstehen uns auch ohne Worte. Meine Meinung wird relativiert. Sie ist nicht die wichtigste, na so was! ?!?

  1. Jänner

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Im Weinviertel ist’s jetzt frostig kalt. Ich entdecke dazu ein paar Fotos im WA Status oder auf Insta. Auch unsere Reisegruppe ist diesmal in den sozialen Medien aktiv. (Wieder zu Hause zurück werde ich sehr oft gefragt, wie es denn im Urlaub war. Und denke mir: woher wissen die Leute das?! Es ist auch ein lustiges Spiel, dieser Tratsch im Netz. Dieses Anteilhaben aneinander, kann man auch sagen!) Trotzdem werden die Menschen, denen ich zu Hause fehle, immer weniger. Was wird in 20 Jahren sein?

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In der Nacht sucht mich ein ausführlicher erotischer Traum heim. Lehrer, Kaffeehäuser, meine neue karierte Jacke und Penisse spielen eine Rolle. Ich schlafe schlecht. Wahrscheinlich sind auch die vielen Flugzeuge, die tagsüber über uns kreisen, ein Grund dafür; sie irritieren mich, erzeugen ein beklemmendes Gefühl. Nichts mehr mit „in der eigenen Einsamkeit daheim sein“. Lecce hat einen Militärflughafen.

  1. Jänner

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Ein kühler Wind begleitet uns heute auf unserem Ausflug zu den Trulli. Alberobello heißt der Ort, den wir besuchen. Rundhäuser, um der Bürokratie ein Schnippchen zu schlagen. Ansonsten lebt die Architektur hier von Licht und Steinmauern. Das Dorf erinnert uns alle ein wenig an die Kellergassen im Weinviertel. Sich von einem Raum, von der Architektur des Raumes umarmt zu fühlen, das gelingt in kleinen Einheiten leichter. Die Idee, ein zwischenmenschliches Gefühl in Architektur, in Kunst umzusetzen, ist uralt, ein Urinstinkt des Menschen. Es passiert sehr viel an einem Tag. Schokoladeeis wärmt uns alle und alle wollen bald wieder einmal nach Monopoli.

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Die Hupschwelle der AutofahrerInnen liegt viel niedriger als in Wien. Ich sehe ein Artischockenfeld nach dem anderen vorbeiziehen. Oder sind es Karden? Der Sohn hält eine Vorlesung über die berühmtesten Menschen Apuliens. Ich merke mir nur Tito Shipa, einen Opernsänger. Er empfiehlt uns die Krimiserie Lolita Lobosco. Sie spielt in Bari. Wer Prime hat, möge in den Genuss kommen … Rita Levi Montalcini, die Mikrobiologin und Alda Merine, eine Poetin aus Bari,muss ich ihm aus der Nase ziehen. Im Netz finde ich ein Gedicht, das gut zu meiner anderen Reiselektüre passt:

„Ich liebe dich“

Ich liebe dich,
wie die Nacht den Tag liebt,
wie der Wind die Blätter liebt,
wie das Wasser die Steine liebt.

Ich liebe dich,
mit der Kraft der Stürme,
mit der Zärtlichkeit der Wellen,
mit der Stille der Sterne.

Ich liebe dich,
in der Einsamkeit und im Lärm,
in der Freude und im Schmerz,
in der Hoffnung und der Verzweiflung.

Ich liebe dich,
und das ist mein Leben,
meine Freiheit,
mein ganzes Sein.

  1. Jänner

24
Am Frühschoppen dominiert zum Ausgleich der Weltverdruss. Auch andere neue Ideen liegen auf dem Frühstückstisch. Wir machen die Prozesse hinter den Dingen und Gefühlen sichtbar.

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Die Sonne und das viele Gehen tun mir nach wie vor sehr gut. Der letzte Spaziergang zum Wasser. Die Natur in Form von Meer, Palmen, Olivenhainen, Orangenbäumen, Wintergemüse, Radicchio, Fenchel. Raukenblättriger Doppelsame als Gründüngung. Immer wieder einmal die Bourgainvillea, der Flieder des Südens. Bei jedem Spaziergang erhalten wir mehr als wir suchen. Schwimmen im kalten Meer. Nase und Rachen sind vom Salzwasser durchgeputzt.

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Ein sehr gutes Abendessen in Galipuli. Wie es im Buche steht. Mit frischem Fisch in allen möglichen Variationen. Cozze-Suppe. So gut, wie noch nie. Selbst die ungehobelte Blöd-Frau am Nachbartisch gehört dazu. Der Aperitif vorher in der Bar – ein bisschen kühl, trotz Heizstrahler – belebt uns. Wir reden über große und kleine Hunde und über Katzen. Mit frischem Fisch ist leicht gut kochen! Es ist ein Festmahl. Wir können es den Jungen nicht oft genug und früh genug sagen, dass sie richtig sind, wo und wie sie sind. Dann kommen sie gut durch Pubertät und Wechsel und Veränderung und andere Höhen und Tiefen im Leben, meint die Freundin. Wir ermutigen uns gegenseitig in dem Glauben, jenseits von Produktivität existieren zu dürfen.

  1. Jänner

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Ich sehe die Berge Montenegros am Horizont. Sie sind schneebedeckt. Mitten in der Nacht aufzustehen (3 Uhr), um Richtung Flughafen zu reisen, gefällt mir. Es rüttelt mich noch einmal aus dem Alltäglichen. Die Inseln vor Split laden zum Urlauben ein. Später einmal. Aber dabei denke ich an Einsamkeit. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich zu den Bäumen, den Insekten, dem Himmel und dem Wasser gehöre, bin ich nie allein. Die androgyne Stewardess fällt mir auf. Der Haarschnitt ist akkurat – wie auf dem Hinflug. Jetzt, eine Woche später, trägt er/sie viele Ringe und ist sehr freundlich. Christine Lavant schwindelt sich in meine Gedanken. Es ist mehr als genug für alle da. Wir sind für diese Zeit bestimmt.

Adventkranz

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Die Kinder sind zu Besuch, wir essen zu Abend. Wir haben Muscheln vorbereitet. Und Salat und ein selbstgebackenes Knäckebrot. Der Käse, den uns die Freundin aus der Steiermark mitgebracht hat, passt auch dazu. Es gibt immer noch Feigen vom Baum aus dem Garten. Später mache ich doch noch ein paar Gläser Marmelade daraus. In der Nacht kann ich nicht schlafen, weil ich ans Geld denken muss. Dass es immer knapp ausgeht und wir diesbezüglich den Kindern nicht wirklich eine Hilfe sind. Es ist und bleibt nur ein Herantasten an ein ausgewogenes Dasein. Stabilität gibt’s im Grab.

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Sonst ist die Nacht voller Träume und am Nachmittag bin ich müde. Wenn jemand vertrauensvoll in die Richtung seiner Träume vorwärtsschreitet und danach strebt, das Leben, das er sich einbildet, zu leben, so wird er Erfolge haben, von denen er sich in gewöhnlichen Stunden nicht zu träumen wagt. Ich bin noch nicht so weit.

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Ein kleines Stück vom Kuchen. Ein berührender Film. Ohne Schnörkel. Aus dem Iran. Wenigstens ein paar Bilder, die nicht abschrecken!

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Eine Gottesanbeterin sitzt auf dem Fensterrahmen. Bei meinen Morgenübungen, die ich mit Blick auf den Garten verrichte, sehe ich ihr direkt in die Augen.

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Eine Kollegin erzählt, dass zum Adventskranzbinden bei ihr zu Hause jedes Jahr an die 30 Leute kommen.  Es ist ein Sehnsuchtsbild, so viele Menschen um sich zu versammeln und es miteinander gut zu haben. Gleichzeitig weiß ich, wie viel Kraft es kostet, sich diesen Menschen auszuliefern UND Gastgeberin zu sein. Da, wo ich jetzt bin und wie ich jetzt bin, geht das nicht mehr. Diese Kraft ist nicht mehr da, außerdem benötige ich sie für Reflexion.

6
Es ist manchmal gar nicht möglich, in der kurzen Zeit, in der wir ohne einander sind, neuen Wert füreinander zu erlangen. Eine andere Kollegin sagt dazu etwas Wichtiges: Es kommt, wie es kommen muss. Und ohne Depression ist alles möglich.

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Ich brauche ein wenig Alleinsein. Jenen Anteil an Ewigkeit.

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Rasten. Zu Gast sein.

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Ein Sofa im Zimmer und zeichnend denken.

Weinlesen. Gruß aus der Küche

Verblüffende Zärtlichkeit

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Mein erstes Gefühl des Sesshaftwerdens im Weinviertel stellte sich beim beim Setzen von Weingartenknoblauch- und Zwiebelknollen ein. Ein intuitiv richtiger Akt der Einübung in die Zugehörigkeit zu diesem Menschenschlag und dieser Landschaft. Parallel dazu hat es sich bis heute als richtig erwiesen, dass ich mein Fremdsein als Grundgefühl und Lebenseinstellung pflege. Dazu gehört man ja erst dann, wenn man in den Augen der UreinwohnerInnen alles richtig macht. Ich bin zu Hause im geteilten Wort und in der Stille dazwischen.

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Erntehelfer „Nummero Eins“ hilft beim Aufhängen der Netze, die Stare und andere Tiere abhalten sollen, die süßen Trauben zu holen. Ich koche ein gutes Mittagessen. Weinbau ist unser Hobby.

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„Darf ich heuer bei der Lese mitarbeiten? Ich bin so gerne in deiner Nähe.“

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Ich fürchte mich ein bisschen vor der Anstrengung der Lese. Bin nicht ausgeruht. Die Hitze der vergangenen Monate weist mich in meine körperlichen Schranken. Ich kann mit Stress immer weniger umgehen, ich mag es, alles gut zu planen. Die Natur macht mir einen Strich durch die Rechnung, weil sie ausschließlich Flexibilität fordert. Sie ist unbarmherzig und großzügig. Beides in unermesslichem Ausmaß.
Zudem brauche ich noch eine gute Idee für die kulinarische Begleitung fürs Weinausschenken beim Weinpfad. Der findet auch in der Lesezeit statt.

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Von unserem Hühnervolk sind noch eine Henne und ein Hahn übriggeblieben. Sie bekommen keinen Zuwachs mehr, dafür Gnadenkorn. Obwohl ich Hühner als Haustiere vorbehaltlos akzeptiere, schlage ich ein paar hühnerfreie Saisonen vor. Wird genehmigt! Beim Weingarten kann man solche Pausen nicht einlegen. Dauerkultur nennt sich das so schön. Die Tochter lässt diesen Begriff im Vorbeigehen fallen. Weinbau also entweder ganz oder gar nicht. Während der Lese steigt der Eierverbrauch stark an.

Herzblatt, Quitte, Maulbeere

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Ob mir heuer wieder jemand einen opulenten Blumenstrauß zum Leseabschluss schenken wird? Letztes Jahr war diese Gabe wie Balsam für meine Seele.

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Vorbereitung auf die Weinlese heißt: Küche putzen, Geschirr zusammensuchen, Lebensmittel einkaufen, im Garten ernten, Speiseplan erstellen.
Kochen ist die geringste Arbeit. Das Abwaschen die meiste. Alles in allem ein sinnlicher Prozess.

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In der Ruhe vor dem Sturm fallen mir viele Dinge gleichzeitig ein, die mit der Weinlese zu tun haben: Die Mühe, die das ganze Jahr über in der Arbeit im Weinberg steckt, an der ich nur im Hintergrund teilnehme, weil ich das andere mache, wofür die Weingartenarbeitenden keine Zeit haben.  Wird die Qualität der Trauben dem prüfenden Blick der Großtante standhalten? Wer bezahlt gerne für das Achterl mehr als zwei Euro und wer mag das neue Fass bezahlen? Trägt der Winzer Bio-Unterwäsche, um durch die Biokontrolle zu kommen? Wird mein Kreuz mitspielen? Werden die Menschen, die von weit her anreisen, nicht enttäuscht sein? Werden die Menschen, die von hier sind, nicht enttäuscht sein? Ist genügend Wasser eingekühlt und wer ist für den Plan B zuständig? Reichen unsere Kräfte?

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Ein Freund sagt: Irgendwie ist es bei euch wie in einem französischen Film. Kurzurlaub auf intensivem Niveau. Und dann schießt er noch das Rezept für die Sausömü nach.

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Lesespeiseplan.
Liptauer, Chillischmalz, Erdäpfelaufstrich, Linsenaufstrich, Humus, Kelleraufstrich, Lauchaufstrich, Rote Rübenaufstrich, Leberpastete, Verhackert, Quargelaufstrich, gekochte Eier, eingelegtes Sauergemüse, Paradeiser, Paprika, Gurken, Ananas, Leberkässemmel, Sausömü, vegetarische Bratlinge, Mohnstrudel, Nussstrudel, Nusskuchen, Zwetschkenkuchen, Apfelkuchen, Birnenkuchen, Tiramisu, Mousse au chocolat, Eis, Nusskipferl, Kürbissuppe, Kurkuma-Pilz-suppe, Zwiebelsuppe, Gulasch im Kessel, Faschierter Braten, Erdäpfelschmarrn, Hühnerfilets, grüner Salat, Reis, Strangelen, Tsatziki, Linsental, Melanzaniauflauf.

 

Deutungshoheit abgeben

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Im Weingarten kommen alle ins Gespräch. Manchmal hat das alles den Anschein einer Gruppentherapie, manchmal eines Markttages für G’schichtldrucken. Ein Wagnis auf jeden Fall.
Der eine Freund zieht doch nicht – so wie man munkelt – nach Vorarlberg, die beiden Frauen sind schon lange ein Paar, ohne dass wir es wussten, die Fotografin geht über ihre Grenzen und die Freunde aus dem Norden sind irgendwie am Sand, aber das war schon immer so.
Der andere Freund kommt nur so vorbei, um zu schauen, was bei uns los ist, bleibt picken und kauft für alle Eis. Der dritte Freund mag nicht allein sein. Und schon gar nicht allein in einer Zeile lesen.
Die Tochter macht Stimmung im Weinberg. Aber das ist bei der Hitze nicht mehr nötig, da hilft nur noch aufhören, und das wiederum wagt niemand auszusprechen, bevor die Zeile nicht fertig ist. Die eine Freundin meint, wenn man an die Grenzen geht, braucht man dann keine Cheerleaderin mehr.
Der Winzer und die Winzerin husten um die Wette und tun so, als ob eh alles passt, wie es ist. Der Sohn kümmert sich bravourös, wenn`s brennt.
Die Weinbauexperten von der Uni sagen: Weinbau ist Arbeit! Und Weinbau ist eine Dauerkultur (schon wieder!). Und auch diesmal darf uns jeder, der will, in die Karten schauen.
Die Tochter muss einen halben Lesetag lang schlafen und die Freunde der Kinder bemerken, dass ich heuer wenig Nerven habe und der vierte Freund liest heuer zum ersten Mal mit Inbrunst mit.

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Ich leide mit, wenn die Trauben nicht schön aussehen.

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Der Schöpflöffel auf der Aufhängevorrichtung über dem Gulaschkessel ist voller Kruste und der Gulaschkoch gibt sein Bestes, sein bestes ungarisches Hirtengulasch. Und die besten Freundinnen helfen ausgiebig beim Zaubern kulinarischer Sinnesfreuden: süß, sauer, salzig, bitter, umami, fett, scharf, in ausgewogener Struktur, in ansprechenden Farben, mit Liebe, auf den Punkt. (Spruch meines Schwagers).
Ein Cousin isst drei Sausömü, eine Gerda bäckt fünf verschiedene Kuchen, wir sind aufeinander eingespielt und wir kochen gerne.
Für den zwischendurch gemixten Mojito bleibt zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit. Alle Töpfe finden Verwendung und ich brauche bald enen Deckel für den großen Hefen.

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Das Handy ist wichtiges Werkzeug: Bitte die Jause bringen! Der Kercher ist kaputt, wo ist ein Reservegerät? Der Rebler schafft die dicken Kampe der PIWIsorten nicht, wir kommen später. Bitte bring noch Apfelsaft mit und ein großes Messer fürs Brot und frische Socken! Is everything possible?

Heute geht’s uns allen furchtbar

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Eine Freundin powert sich gerne aus, wenn nichts mehr geht, nicht aufgeben, durchhalten und die Netze von Hand aufrollen, weil der Akku leer ist.

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Zwei jugendliche Mädchen waschen mit großer Begeisterung 200 Weingläser von Hand ab.

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Zwischendurch: Nur noch Enge zwischen den Weinbergen – so wie früher manchmal in den Hohen Tauern. Ich bin eingesperrt im Kurz-Denken, kann im Kopf nicht über Maßeinheiten und Wetterbericht drüberhüpfen. Der Gedanke, die richtigen Entscheidungen treffen zu müssen, legt sich schwer auf mich. Ich würde sehr gerne viel Sprudel trinken, um leicht zu werden. Einen halben Zentimeter über dem Boden zu schweben, würde bedeuten, aus dem ewig Gleichen auszubrechen.

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Es hat 35 Grad im Schatten. Wir kommen an unsere Grenzen. Die Trauben auch.

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Nach dem Mittagsschlaf ist es möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Mama schickt mich in Urlaub. Ich beantrage eine Mitgliedschaft bei den Naturfreunden. Der Freund vertraut mir sein Auto an, damit ich einfach losfahren kann. Wir werden immer bescheidener.

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Es ist wild.

Jede Ritze, jeden Spalt salben

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Dann beginnt es zu regnen. Vor Leseschluss. Sintflutartig. Die restlichen Trauben, die noch hängen, werden aufspringen, sag ich. Unsere Beziehung auch. Die Lese verhält sich wie eine Lupe auf unser Familienleben. Wir meinen, heuer ist es hart. Die „Krise“ in dieser Geschichte ist das Wetter. Tropenhitze und Regenflut. Aber: Das Wetter und die Natur sind natürlich jedes Jahr die „Krise“. Wir arbeiten mit Unsicherheiten und Zerbrechlichkeiten und mit diversen Ansprüchen. Die Natur wird uns auf jeden Fall überleben. Sind ja nur ein winziger Teil davon.

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Wir müssen einigen Lesegästen absagen. Sie werden heuer nicht dabei sein. Ich bin enttäuscht.

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„Ja, wir sind Helden! Ich konnte nicht anders, als heute im Nieselregen den Sauvignir gris runterzunehmen. Mit meinen Männerfreunden! Gut, sie WAREN meine Männerfreunde nach diesem Ereignis“, beteuert der Winzer.

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Mein Mann hat Ideen. Ist das nicht zum Verrücktwerden? Oder ist es einfach eine schöne Geschichte?

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Der Regen schickt uns ins Haus. Die Tochter legt Austern und Champagner in die andere Waagschale. Upcheering nennt sie das, schreibt: „Life is good“ in die WhatsApp-Nachricht. Wir genießen die kulinarischen Trostpflaster in der nahen Stadt. Immer wieder brauchen wir das. Trost. Selbst in der Landwirtschaft.

„Wer ist hier der Chef?“

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„Papa, wenn es dich nicht gäbe, dich müsste man erfinden!“

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„Ich gehe morgen ins Dampfbad. Ich brauch das!“ sagt der Winzer. Nach einer sehr langen Pause: „Magst Du auch mitkommen?“ Wir wissen beide, es ist sehr gut, nicht zu wollen.

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Die Trauben sind trotz Regen nicht aufgeplatzt.

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Heuer bekomme ich viel Grün aus dem Garten der Freundin geschenkt. Wir dekorieren damit die Alte Schmiede, in der wir essen. Und dann bekomme ich noch das Glas für die kaputte Petroleumlampe geschenkt. Alles renkt sich ein.

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Und wenn dann alle an einem großen Tisch sitzen und essen, dann bin ich zufrieden. Das Tor zur Straße hin ist offen, man blickt hinaus auf die Kreuzung. Immer wieder bleibt jemand stehen und trinkt ein Glas Sturm oder Wein. Ein Neugeborenes kommt mit seinen Großeltern vorbei. Das kriegt noch keinen Sprudel. Die Großeltern schon. Die Freunde der Jungen bevorzugen Spritzwein.

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Wir denken laut darüber nach, doch mit der Lesemaschine zu ernten. Ein Lesegast sagt, es würde uns allen sehr fehlen, wenn wir nicht mehr lesen, so wie wir lesen.
Die soziale Dimension von Landwirtschaft wird bei der Handlese sichtbar. Wo sonst noch in der Bauerei?

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Ich liebe die Ruhe, die sich einstellt, wenn alle nach Hause gegangen sind und ich mich für eine kleine Weile an den verlassenen Tisch setze. Ein paar geleerte Gläser stehen herum, zerknüllte Servietten, Brotkrümel. Durch das Fenster schaue ich auf den verwilderten Vorgarten mit dem Nussbaum. Am Himmel zeigen sich erste Sterne. Treue hilft, in der Welt nicht verloren zu gehen.

Ich bin so alt wie das Blut in deinen Adern

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Die Weinlese ist für dieses Jahr vorbei. Es ist jedes Jahr ein Abenteuer. Menschen, Wetter, Boden, Trauben, Maschinen, alles muss zusammenspielen. Irgendwie. Das Ziel: am Ende ein schönes Festmahl und im Keller guter Traubensaft … Wein …
Zur Feier des Tages sitze ich mit der Tochter auf dem Schlosserberg, dort, wo das Sortenspiel wächst. Wir essen die Reste des Festes und schauen dem Sonnenuntergang zu. Wir haben es gut gemacht und ich wünsche mir von Herzen, dass die Kinder Freude am Tun finden und Menschen, mit denen sie diese Freude teilen können. Ich staune ein wenig, was ich noch alles kann und vor allem, was ich nicht mehr kann, leisten kann.

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Zur Nachbesprechung im Oktober lassen wir uns Pizza liefern. Der Winzer ist dankbar. Und gerührt. Seine Leidenschaft wird geteilt.

35
Viel später im Herbst, wird die Mutter sterben. Mitzi, sie steht auf den Weinetiketten an erster Stelle. Ein Kreis schließt sich.

Später


1
Im Moment scheint es, als ob der Mensch sich in sein eigenes Unglück stürzen will. Viele finden die Demokratie nicht aufregend genug und wünschen sich stattdessen Anarchie oder Autokratie. Der Mensch ist sein eigener schlimmster Feind. Aus Sehnsucht nach Überraschung und Spannung wird wohl alles ausprobiert.

2
Schuhe geputzt. Schuhe bestellt.

3
Mit dem Alter wird man immer sensibler, so, wie im Bett vor dem Einschlafen, oder nach dem Aufwachen, da ist man sehr durchlässig für alle möglichen Gefühle.

4
Heute nehme ich meinem Mann mit Gelassenheit den Wind aus den Segeln. Und morgen, da lass ich ihn ganz einfach segeln und winke ihm hinterher.

5
Bei der Familienaufstellung sucht sich der kleine Junge Spielfiguren aus: „Der Bär ist der Vater, der Löwe bin ich und das kleine Henderl ist meine Mutter, weil die mag sowieso keiner.“

6
Mir gefallen diese Begegnungen zwischen Tür und Angel an meinem Arbeitsplatz. Heute bekomme ich ein aus Erikakraut geflochtenes Herz geschenkt. Ich liebe meine Hingabeenergie, mich zu verschleudern, unbeeindruckt von meinen Grenzen – um dann nach einiger Zeit ganz einzuknicken. Naja, alles hat seinen Preis.

7
Der Feigenbaum trägt heuer sehr reiche Ernte. Dir Früchte sind optimal ausgereift. Das ist ein Vorteil von einem Sommer wie diesem.

8
Georgia O‘Keeffe: I have done nothing all summer but wait for myself again.
Ich lese einen sehr schönen Artikel über den Sommer. Komm zurück! Daneben ein Klatschmohnfoto des Schweizer Fotografen Etienne Francey …

9
Ich lese einen Text über Notizbücher, darüber, dass es mittlerweile Standard ist, persönliche Notizen auf dem Handy zu machen, nicht mehr in den Büchern oder auf Papier.

 

Bootfahren

1
Dem Älterwerden soll ich Verrücktheit und Schrägheit entgegensetzen, sagt meine Freundin, sonst ist das ja gar nicht auszuhalten.

2
Was, wenn alle mit ihrem Bild von mir daneben liegen?
Ich dürfte jetzt – mit 57 Jahren – wirklich ich sein. Als wäre ich sieben Jahre alt und könnte tun und lassen, was ich will; da anknüpfen, wo ich nach meiner Erinnerung wirklich glücklich war?

3
Ich war mein Leben lang katholisch, aber seit den Wechseljahren kann ich nicht mehr an Gott glauben. Es macht für mich einfach keinen Sinn mehr. Als hätte man einen Schalter umgelegt. Dadurch kann ich jetzt Bereiche des Lebens erkunden, die wegen meines Glaubens früher tabu waren. (Miranda July)

4
Meine Tochter sagt zu ihrem Vater: „So einen Menschen, wie du einer bist, so einen kann man sich gar nicht ausdenken!“

5
Urlaub kommt vom althochdeuschen Urloub und bedeutet, dass die Knechte und Mägde zum Altbauern gingen, dem Ur, gingen und ihn um Erlaubnis baten, sich für eine gewisse Zeit entfernen zu dürfen.
Ferien kommt aus dem Lateinischen, von feriae, Feiertag, Ruhetag, freie Zeit, „faire rien“.
Beide Erklärungen sind an den Haaren herbeigezogen. Mir reicht es, Muse zu finden im Schöntun.

6
Jetzt ist es soweit, dass alle E-Cars kaufen.

7
Ich finde im Secondhandladen zwei Kleider für mich. Die Verkäuferin entschuldigt sich fast, dass sie dafür 12 Euro verlangt. „Wenn das okay ist, 10 würden auch gehen“, sagt sie. „Wenn jemand arm ist, gebe ich es auch noch für weniger her.“
Jetzt fallen mir die Frauen ein, die zur Martin Krucej-Lesung in Bleiburg gekommen sind. Durchgestylt von oben bis unten. Bei den Kosten für diese Garderobe muss man wohl noch 3 Nullen dranhängen.

8
„Meine Tür steht Dir immer offen. Aber komm nur dann, wenn Du aufrichtig sein kannst.“

9
In der Leserunde geht es um Familie. Das Buch einer 27-Jährigen ist unsere Grundlage. Alle reden mit wie sonst nie. Familie ist immer Thema und in jungen Menschen schlummert die Weisheit der ganz Alten. Wie gut, dass einige das zeigen.

10
Sie findet den halb verwesten Körper ihres Bruders im Bett vor. Er ist nicht mehr zu erkennen. Es ist ein Schock. Die Rosenblätter, die sie Wochen später in das offene Grab streut, legen sich wie Balsam über diesen schrecklichen Anblick.

11
Lebe für die Erfahrung. Naja, …

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Mit den Strottern, dem Kollegium Kalksburg und den Klangviertlern kann man hervorragend Abschied feiern! Wovon auch immer … vom Sommer, von einem liebgewonnenen Menschen, von guten Manieren oder von der Sinnhaftigkeit des Daseins…

Ausleuchten

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In Amerika stellt sich eine neue Präsidentschaftskandidatin vor. In Frankreich schwimmt die Bürgermeisterin zur Eröffnung der Olympischen Spiele eine Runde in der Seine. In Niedersulz bereite ich Haus und Garten auf eine einwöchige Urlaubsabwesenheit vor.

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Ich erlaube mir, Unerhörtes aufzuschreiben, unliebsame Ecken auszuleuchten und zu blenden.

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Er erzählt von getrennten Schlafzimmern aufgrund einer Prostataoperation seit seinem 57 Lebensjahr und jammert, während er erzählt. Ist Sex ausschließlich Penetration?

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Sie sagt, dass es unglaublich schnell geht, dass man sich daran gewöhnt, keine Hoffnung mehr zu haben. Du hörst auf, Teil der Welt zu sein, noch bevor du sie verlässt, du liegst drinnen, während draußen die Menschen gehen. Aber andererseits – vielleicht ist das eine andere Art von Hoffnungslosigkeit – habe ich das Gefühl, dass ich erst jetzt, vor ein paar Monaten, zu leben begonnen habe und dass der Tod nicht mein Feind ist, sondern ein Freund, der mich abholt, mir aber die Zeit lässt, die ich brauche, um mich zu verabschieden. Der geduldig wartet, bis ich damit fertig bin, der mir sogar erlaubt, dabei zu trödeln.
Ich denke, Hoffnung ist im Grunde ihres Wesens schon Hoffnungslosigkeit.

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Aus einem Buch mit dem Titel „Was mir Freude macht“ vorlesen, das geht angeblich immer.

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Was wollen die beiden Psychologinnen von mir? Die sind doch in jedem Fall besser dran als ich! Ich kenn mich nicht aus.

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Eine Kollegin hat absichtlich das Auto eines Kollegen zerkratzt. Sie gibt es freimütig zu. Ist sie verrückt?

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Ich liebe die tropisch heißen Sommernächte. Sie machen mich total schwindelig.

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Sie möchte
a) so schnell wie möglich sterben oder
b) wenn das nicht geht, wieder etwas Lebensfreude zurückgewinnen

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Ich pflücke mit Vorliebe Blumensträuße.

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Sie hatte vielleicht gar eine der Rosen getrocknet und ihre Blütenblätter in einer Schatulle aufbewahrt.

Magdalensberg


foto: Eva P.

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Eine Wurstsemmel beim Bäcker in Wien lässt den morgendlichen Stress fast vergessen und von nun an kann ich mein Vorhaben, den Ausflug auf den Magdalensberg in ausschließlich guter Laune zu verbringen, in die Tat umsetzen.

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Der Weg in den Süden führt uns über Murau. Dort gibt es ein Schloss. Der Film „Mein Vater, der Fürst“, fällt mir ein. „Etwas“ aus dem Leben machen? Nicht hedonistisch sein? Etwas leisten und vor allem die Leistung genießen? Wenn dir nichts Gescheites einfällt, dann hast du nicht genug Dummes zugelassen.

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Wenn der Schnee auf den Fichtenbäumen liegt, dann ist meine Winterwelt in Ordnung. Es ist ohnehin nicht mehr so leicht, ein Gefühl der Heimat zu entwickeln. Wann bin ich denn daheim? Wenn ich Kärntnernudeln aus richtig guten Zutaten machen kann? Wenn ich im Bett meine Hand auf deine Schulter legen kann? Wenn ich ein Kartenspiel der anderen beobachte?  Wenn ich meine Kinder ins Abendgebet einschließe? Wenn ich mich geliebt weiß? Wenn es regnet? Wenn ich ohne schlechtes Gewissen ausschlafen kann? Wenn ich mich geborgen fühle in einem Gespräch? Wenn ich dich beiße? Wenn überraschend Besuch kommt und wir uns alle miteinander darüber freuen? Wenn Schnee auf Fichtenbäumen liegt?

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Die Situation auf dem Magdalensberg hat märchenhafte Züge. Die Landschaft ist unüberbietbar schön. Unter uns das Klagenfurter Becken im Nebel. Über uns und in uns die Wintersonne. Der Nebel macht alles weich, zart, hell. Die Landschaft hat die Kraft, uns zu verzaubern und es ist ein Leichtes, gute Laune zu haben. Schnee, kaltes Wasser, warmes Wasser, heiße Sauna und gutes Essen. Viele Menschen bleiben auf dem Weg Richtung Berg immer wieder stehen, um zu schauen oder ein Foto zu machen. Er ist über 1500 Meter hoch.

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In aller Herrgottsfrühe machen mein Bruder und ich einen Morgenspaziergang. Danach serviert uns die schlaftrunkene Hauswirtin einen ersten Kaffee. Aus allen Himmelsrichtungen gesellt sich jemand zur Feiergruppe.  Mam hält ein Mittagsschläfchen. Das rote Kleid steht ihr sehr gut und sie muss alle ihre Kinder streicheln, damit sich niemand benachteiligt fühlt. Das lila-grüne Kleid steht ihr noch besser. Das junge Paar macht einen Spaziergang im Schnee. Eine Schwester spielt Flöte. Eine Nichte übt das Gedicht. Alle planschen im warmen Wasser des Pools draußen vor der Sauna. Ich sitze auf dem Balkon und höre alles, was am Pool besprochen wird. Meine Schwägerin und mein Bruder spannen ein Tuch für die Filmvorführung. Die Reißnägel fehlen. Hätte ich sie nicht kurz vor der Abfahrt aus meiner Manteltasche geholt, hätten wir welche gehabt. Alle Enkelkinder schenken Lieblingsblumen. Adonisröschen, Edelweiß, Rosmarin, Phlox, Tomaten, Kapuzinerkresse, Rosen.
Das Personal im Hotel, in dem wir Quartier nehmen, es ist unaufdringlich und familiär

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Ich teile mir meine Kräfte gut ein, um alles zu schaffen, denn es ist etwas Besonderes, den 80. Geburtstag meiner Mutter zu feiern, ihr sehr langes Leben bei relativ guter Gesundheit und wachem Geist. Das Geschenk dieses Wochenendes ist wie eine Zusammenfassung des Geschenks, das ihr Leben für uns alle bedeutet. Es geht nicht darum, dass ich an Mams Geburtstag glücklich bin, aber es ist ein Segen, glücklich zu sein. Und ich bin sehr glücklich, ihn jetzt hier im Hintergrund zu wissen.

Ljubljana – Querformat


foto: Anna W.
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In dem Wort steckt Jubel und die Ljubica und die Jana und die „geliebte Stadt“. Ich habe gute Lust, ein paar Stunden zu bleiben.

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Gibt es ein Thema, wofür Du schon seit Deiner Kindheit eine Leidenschaft entwickelt hast?

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Wir machen kurze Filmaufnahmen von unserer Mutter in dieser Stadt und schneiden später einen Geburtstagsfilm. Es ist gut, alles im Querformat aufzunehmen. Ich benutze ein Handy-Stativ, dann wackelt es nicht.

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Wurde denn wirklich so viel miteinander geredet, damals daheim?
Wir sitzen am Tisch und reden. Besprechen das, was am Vortag geschah.  Wir erstellen Psychogramme von diesem und jener.  Nie wird alles erwähnt. Das Unausgesprochene nimmt deutlich Raum ein. Man kommt sich nahe. Mitunter weint jemand. Man kommt sich zu nahe. Und dann wieder nicht. Manchmal überschreiten wir die Grenze zum Tratschen.  Oft ist es Sympathie und der Versuch, die Welt besser zu verstehen. Wir schieben verschiedene Aspekte von ein und derselben Sache hin und her; es ist ein politischer Akt, an einem Tisch zu sitzen und miteinander zu reden. Über sehr Wichtiges und über scheinbar Unwichtiges. Oft kann man das erst im Nachhinein unterscheiden.

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Jože Plečnik, der Architekt, prägt das Stadtbild mit. Die Namensverwandtschaft inspiriert meine Schwester und mich, nach ihm in Wien Ausschau zu halten. Dort suche ich die Heilig-Geist-Kirche in der Herbststraße in Ottakring auf. Sie ist nach einem Brand im Jahr 2021 frisch renoviert und tagsüber geöffnet. Von außen wirkt sie wie ein Tempel. Innen ist sie lichtdurchflutet. Kerzen dürfen nicht angezündet werden.

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Ljubljana glättet meine emotionalen Wogen. Es gibt immer wieder heftigen Regen. Es gibt guten Kaffee und ich entdecke ein originelles, altmodisches Strumpfgeschäft.

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Küss deinen Namen auf meine Lippen.

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Was bedeutet Leichtigkeit für dich?

Geschichtenerzähler



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Ich liebe die Zeit zwischen den Jahren

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Wir brauchen mehr utopische Erzählungen, sagen Ilija Trojanow und meine Freundin.
Sind wir für dieses lebendige, chaotische, intuitive Wissen begabt, frage ich mich? Sind wir nicht besser darin, analytische Distanz zu gehen und unser Wissen in unendlich viele Teile zu zerlegen?

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Meine Geschichte ist eine komplizierte.

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Sie gibt ihre Rolle als „älteste Schwester“ auf und pflanzt einen Feigenbaum an der Grundstücksgrenze zu einer ihrer jüngeren Schwestern.

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Jemandem etwas zu erzählen, mündlich weiterzugeben, das ist eine Form von lebendiger Tätigkeit. Ein Kollege erzählt mir, dass er sich manchmal neben ein Krankenbett setzt und still ist. Weil er sonst gar nichts mehr tun kann. Einmal wurde er dabei von einer Frau vom Nachbarbett beobachtet und darauf angesprochen. Er solle doch auch für sie still sein. Aber laut! Sonst wirkt es nicht!

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Ein Künstler redet im Radio über das Warten im Krankenhaus. Dass dieses Warten etwas sehr, sehr Antikapitalistisches hat.

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Im Angesicht von Liebe und Tod beginnen wir Geschichten zu erzählen. Alles andere greift nicht.

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Ich rechtfertige es nicht, es ist ein großes Spiel der Zuneigung. Es ist schön, was ich mit diesem Spiel treibe. Schönheit braucht sich nicht zu rechtfertigen. Die tiefsten Lebenswahrheiten werden erzählt, gespielt, gesungen, gemalt oder erahnt.

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Wird man in einem Gespräch andere Akzente setzen, wenn man die Grenze zwischen Trauer und Trauma erkennt? Wird man anders aufmerksam sein? Und wie fügt sich der Traum dazu? Wird man über Geschichten miteinander reden?

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Mein Schwager stürzt neun Meter tief von einer Kletterwand und seine Frau kommt aus dem Schock nicht heraus.

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Normalerweise erlebe ich in öffentlichen Verkehrsmitteln immer wieder, dass die Leute sehr wenig Respekt voreinander haben. Eine Frau, die über beide Ohren grinst, ist in der U6 eine sehr seltene Erscheinung. Ich kann meine Augen gar nicht von ihr lassen, weil das so schön aussieht. Sie bemerkt es und grinst weiter.

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Wie zuverlässig der Wind in Wien weht!

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Von Dir wird gesagt, du liebst ohne Ende.

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Die Menschheit ist verrückt aufeinander. Worüber soll man schreiben, wenn nicht über Sex und Freundschaft? Dafür sind wir auf der Welt.

Selbstgefällig


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Heute war der frühe Morgen die gute Stunde. Langsam wird es hell. Draußen ist alles schneeweiß und winterstarr. Ich gehe barfuß raus und freue mich über den Kitzel und lauf schnell wieder rein und trockne mir die Füße ab. Sie sind jetzt ganz warm. Heute fühle ich mich wohl in meiner Haut.
2
Alle Menschen, die in Pension sind, haben viel zu viel Kraft und es ist ihnen langweilig. Ich bin berufstätig. Mir fehlt die Kraft.
3
Der Freund verschwindet kurz nach draußen und kommt mit einer Überraschung für mich zurück ins Wohnzimmer: Er schenkt mir einen Schneeball.
4
Dir gefällt nicht, wer du bist, wenn du mit ihm zusammen bist?
5
Die Nachbarin versucht mit einem Gerät, das wie ein Rasenmäher aussieht, das Laub von der kleinen Straße vor unserem Haus wegzukehren. Es dürfte ihr peinlich sein, sie macht das in der Nacht. Die andere Nachbarin stört sich an den Mülltonnen und den Autos, die vor den Häusern stehen. Sie kann deren Anblick nicht ertragen.
6
Besser Heu rauchen als Heu machen, sagt der Wirt zu mir und serviert mir einen Topfenstrudel. Sobald man sich in ein Gasthaus setzt, erlebt man mehr, als man erleben will. Ähnlich ist es, wenn man in einen Schulbus steigt. Vor der Eingangstür stehen Säcke mit Zwiebeln.
Bevor ich gehe, kaufe ich ihm einen Zehnkilosack mit roten Zwiebeln ab. Er hilft mir beim Tragen und Einladen ins Auto.
7
Ich bin zu Hause abgängig. Mein Mann ruft mich an. Ich nehme den Anruf entgegen.
„Soll ich dir auch eine Palatschinke machen?“ „Ja, die kann ich morgen in die Suppe schneiden.“
„Wann kommst du?“ „Das kann ich nicht genau sagen“
„Bist du im Gasthaus?“ „Ja.“
„………“.
Jetzt weiß ich, warum er nie abnimmt, wenn ich versuche, ihn zu erreichen, während er im Gasthaus sitzt.
8
Mich an einen Tisch setzen, der für andere gedeckt ist.
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Auch Wahrheiten altern.