KategorieAlle Sieben am Tisch

Geschichtenerzähler



1
Ich liebe die Zeit zwischen den Jahren

2
Wir brauchen mehr utopische Erzählungen, sagen Ilija Trojanow und meine Freundin.
Sind wir für dieses lebendige, chaotische, intuitive Wissen begabt, frage ich mich? Sind wir nicht besser darin, analytische Distanz zu gehen und unser Wissen in unendlich viele Teile zu zerlegen?

3
Meine Geschichte ist eine komplizierte.

4
Sie gibt ihre Rolle als „älteste Schwester“ auf und pflanzt einen Feigenbaum an der Grundstücksgrenze zu einer ihrer jüngeren Schwestern.

5
Jemandem etwas zu erzählen, mündlich weiterzugeben, das ist eine Form von lebendiger Tätigkeit. Ein Kollege erzählt mir, dass er sich manchmal neben ein Krankenbett setzt und still ist. Weil er sonst gar nichts mehr tun kann. Einmal wurde er dabei von einer Frau vom Nachbarbett beobachtet und darauf angesprochen. Er solle doch auch für sie still sein. Aber laut! Sonst wirkt es nicht!

6
Ein Künstler redet im Radio über das Warten im Krankenhaus. Dass dieses Warten etwas sehr, sehr Antikapitalistisches hat.

7
Im Angesicht von Liebe und Tod beginnen wir Geschichten zu erzählen. Alles andere greift nicht.

8
Ich rechtfertige es nicht, es ist ein großes Spiel der Zuneigung. Es ist schön, was ich mit diesem Spiel treibe. Schönheit braucht sich nicht zu rechtfertigen. Die tiefsten Lebenswahrheiten werden erzählt, gespielt, gesungen, gemalt oder erahnt.

9
Wird man in einem Gespräch andere Akzente setzen, wenn man die Grenze zwischen Trauer und Trauma erkennt? Wird man anders aufmerksam sein? Und wie fügt sich der Traum dazu? Wird man über Geschichten miteinander reden?

10
Mein Schwager stürzt neun Meter tief von einer Kletterwand und seine Frau kommt aus dem Schock nicht heraus.

11
Normalerweise erlebe ich in öffentlichen Verkehrsmitteln immer wieder, dass die Leute sehr wenig Respekt voreinander haben. Eine Frau, die über beide Ohren grinst, ist in der U6 eine sehr seltene Erscheinung. Ich kann meine Augen gar nicht von ihr lassen, weil das so schön aussieht. Sie bemerkt es und grinst weiter.

12
Wie zuverlässig der Wind in Wien weht!

13
Von Dir wird gesagt, du liebst ohne Ende.

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Die Menschheit ist verrückt aufeinander. Worüber soll man schreiben, wenn nicht über Sex und Freundschaft? Dafür sind wir auf der Welt.

Selbstgefällig


1
Heute war der frühe Morgen die gute Stunde. Langsam wird es hell. Draußen ist alles schneeweiß und winterstarr. Ich gehe barfuß raus und freue mich über den Kitzel und lauf schnell wieder rein und trockne mir die Füße ab. Sie sind jetzt ganz warm. Heute fühle ich mich wohl in meiner Haut.
2
Alle Menschen, die in Pension sind, haben viel zu viel Kraft und es ist ihnen langweilig. Ich bin berufstätig. Mir fehlt die Kraft.
3
Der Freund verschwindet kurz nach draußen und kommt mit einer Überraschung für mich zurück ins Wohnzimmer: Er schenkt mir einen Schneeball.
4
Dir gefällt nicht, wer du bist, wenn du mit ihm zusammen bist?
5
Die Nachbarin versucht mit einem Gerät, das wie ein Rasenmäher aussieht, das Laub von der kleinen Straße vor unserem Haus wegzukehren. Es dürfte ihr peinlich sein, sie macht das in der Nacht. Die andere Nachbarin stört sich an den Mülltonnen und den Autos, die vor den Häusern stehen. Sie kann deren Anblick nicht ertragen.
6
Besser Heu rauchen als Heu machen, sagt der Wirt zu mir und serviert mir einen Topfenstrudel. Sobald man sich in ein Gasthaus setzt, erlebt man mehr, als man erleben will. Ähnlich ist es, wenn man in einen Schulbus steigt. Vor der Eingangstür stehen Säcke mit Zwiebeln.
Bevor ich gehe, kaufe ich ihm einen Zehnkilosack mit roten Zwiebeln ab. Er hilft mir beim Tragen und Einladen ins Auto.
7
Ich bin zu Hause abgängig. Mein Mann ruft mich an. Ich nehme den Anruf entgegen.
„Soll ich dir auch eine Palatschinke machen?“ „Ja, die kann ich morgen in die Suppe schneiden.“
„Wann kommst du?“ „Das kann ich nicht genau sagen“
„Bist du im Gasthaus?“ „Ja.“
„………“.
Jetzt weiß ich, warum er nie abnimmt, wenn ich versuche, ihn zu erreichen, während er im Gasthaus sitzt.
8
Mich an einen Tisch setzen, der für andere gedeckt ist.
10
Auch Wahrheiten altern.

Wunschzettel


1
Unsere Mutter postet das Foto eines Einkaufszettels in der Familien-WhatsApp-Gruppe. Ohne Kommentar. Muss sie auch nicht. Alles Wesentliche steht zwischen den Zeilen: „Ich habe keinen Führerschein. Ich habe nicht mal ein Elektrofahrrad, mit dem ich ins nächste Kaufhaus fahren könnte, das ist sowieso viel zu weit weg. Beim Nachbarn gibt es keine Kühe und keine Milchprodukte mehr. Niemand ruft an! Wo seid ihr alle?“
2
Ich habe überhaupt keine Lust mehr dazu, abschiedlich zu leben. Wer kann sich nur so einen Schwachsinn ausdenken? Und wahrscheinlich war ich selbst lange Jahre davon überzeugt, dass man das muss und dass man das Sterben üben kann. W!
3
Ein Zertifikat nach dem anderen zu erlangen. Das ist meine Daseinsberechtigung.
4
Gerade wenn etwas schief geht, können die besten Dinge daraus entstehen, tröstet mich ein Kluger.
5
Eine Freundin und ich sind uns einig: Wir haben schöne Kinder. Erzogen.
6
Ein Mensch mit Talent zum Glücklichsein sein.

Ostsee


1
Ein halber Tag an der March: ein Vorbote.
Ein halber Tag an den Teichen in Nexing: ein weiterer Vorbote.
Die Reise an die Ostsee: Weite. Wasser. Wandern. Atmen. So stelle ich mir das vor.

2
Die Reise an die Ostsee beginnt damit, dass mich mein Mann dem von mir versäumten Bus hinterherfährt.

3
Das Krankenhaus St. Pölten liegt auf dem Weg.
Wie geht Genuss ohne Essen? Wie geht Genuss ohne Magen, fragt sie. Gehen? Kunst? Liebe? … ich soll das Meer von ihr grüßen lassen.

4
Liebe ist auf jeden Fall, wenn er jedes Mal an der Tankstelle stehen bleibt, wenn die Partnerin das will, auch wenn der Tank nur halbvoll ist.

5
Liebe ist, die von mir gekochte Rote-Rüben-Suppe zu essen.

6
In seiner Jugend mochte er Thomas Mann. Usedom ist für ihn eine der Landschaften, die Mann beschrieben hat: „Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit.“

7
In Wien für eine Nacht lang eine Wohnung mit Dachterrasse zu beziehen, ist schon Urlaub. Auf der Simmeringer Hauptstraße neben dem 71er in der Platanenallee ein einfaches Abendessen und ein heißer Wind, der mehr und mehr abkühlt. Wien. Brünn. Prag. Mit dem Flixbus. Um fünf Uhr früh fährt der Fernbus in Erdberg ab. Am Busterminal lese ich auf den vielen Plänen lauter Städtenamen, von denen ich noch nie gehört habe. Sophia und Thessaloniki sind am wenigsten exotisch, Durres, Ohrid, Plovdiv, Prileb, Vir. Alle liegen im Süden. Wir fahren in den Norden. Unsere beiden Buschauffeure sind Kroaten. Stoisch ernst. Oder gelangweilt. Souverän in ihrem Job. Sie sind am späten Abend in Zagreb gestartet.

Jetzt fahren wir durch ein Land, das über 40 Jahre lang keine Demokratie gelernt hat. Und dann kamen 30 Jahre lang stetes Erarbeiten eines Minderwertigkeitskomplexes. Differenziertes Denken und Argumentieren muss regelmäßig gelernt werden. Vielleicht ist die Natur hier in Ordnung. Biosphärenparks gibt es zur Genüge.

Obwohl wir nach Deutschland unterwegs sind, ist die Muttersprache der meisten Fahrgäste nicht Deutsch. Der Komfort ist ganz passabel, man kann sogar schlafen. In diesem Ambiente ein isländisches Buch zu lesen, gefällt mir. Im Buch ist es kalt und urtümlich. Und ich fahre wenigstens in die richtige Richtung. 

Mit meinem Reisegefährten teile ich eine Jause. Wir beschreiben, was wir vom Busfenster aus sehen und fühlen; Wetter und Temperaturen gesellen sich dazu.

8
Kurz vor Berlin sehe ich einen Rotmilan über die Autobahn fliegen.

9
Berlin ist voller Grünflächen, Wildkräuterwiesen und Mahnmalen. Das Mahnmal für die Juden. Das für den Genozid an den Roma und Sinti. Das für die Homosexuellen. Jeder Ort hat eine besondere Stimmung. Kunst kann im Nachhinein so vieles deutlich machen. Warum kann sie es nicht von vornherein, um diese Katastrophen zu verhindern?

Der Himmel ist immer noch groß in Berlin.

Die opulenten Bilder von Roxana Halls gefallen mir sehr.

10
Gedicht aus dem Haus Kunst Mitte:

Allein
Gutgläubige Träumerin
In dem Zimmer
In dem du eine
Viertel Kerzenlänge
Lang geliebt hast
Allein
Klagst du und wertest
In schwarz gewandener Hoffnung
Umhüllt von Langeweile
Es ist viel zuviel
Zeit ohne ihn
In diesem Zimmer

11
Die Übernachtung im Urbanloft nahe des Bahnhofs in Berlin ist trendig und auswechselbar. Ich fühle mich, als könnte ich überall auf der Welt sein. Die Leute, die das Hotel betreiben, sind sehr freundlich und zuvorkommend. Die Wände und die Seifenspender sind voll mit Weisheitssprüchen. Auf dem Klo lese ich: „Lieber Küssen statt reden“.

12
Die Fahrt von Berlin nach Züssow und Bad Heringsdorf mit der Deutschen Bahn. HBF Berlin: Hunderte von Menschen. Alle wollen in den Urlaub. So wie in Wien. Wir kaufen noch Ampelmännchen-Souvenir am Bahnhof. Magersüchtige Frauen sehen aus wie Menschen, die man von den KZ–Fotos kennt. Man mag sie sich gar nicht nackt vorstellen. Kindern gefällt das Gedränge gar nicht. Hunden auch nicht.
Richtung Greifswald und Stralsund fahren, das ist lyrisch.
Manufakturenscheune steht auf einem Haus zwischen Stralsund und Stubenfelde.

13
Ein Reisegefährte interessiert sich im Vorfeld unserer Reise für eine Explosion auf Rügen, die eine Feriensiedlung zerstörte. Außerdem findet er im Internet die „Kleine Auszeit“ in Kamminke, wo Softeis angeboten wird. Er kümmert sich um die Diskussion, ob in Berlin ein Löwe oder Wildschwein entlaufen ist. Und er sorgt sich um unbeaufsichtigte Kinder in der Ferienanlage: „Unbeaufsichtigte Kinder bekommen bei mir einen doppelten Espresso und einen Hundewelpen geschenkt!“.
Brandmelder sind da. WLAN auch. Funktionieren tun beide nicht.

14
Heute wächst hier die Welt schon zusammen. Die Natur gibt sich her. Konsum wird nicht allzu hoch geschrieben. Die Geschäfte sind klein und wenig marktschreierisch. Genuss geschieht unmittelbar. Die Oberfläche ist nicht so wichtig. Und die ganze Welt ist unterminiert von Krieg und Kommunismus, Warschauer Pakt, Nato und Schifffahrt. Aufwändige Kultur scheint nicht im Osten geparkt zu sein. Kunst auf jeden Fall nicht. Die Leidenschaft versteckt sich. Inspiration muss hier von Innen kommen.

15
Unser Hauswart Peter besticht durch deutsche Ungründlichkeit.

16
Die Ostdeutschen versuchen nicht, mich zu blenden, das können die Italiener. Die tun sich diese Arbeit an.

17
Im Nachbarhaus leben zwei richtige Muskelprotze sind. Das Kind trägt Gummistiefel, eine lila Fließjacke und einen langen Pullover. Es schaut mürrisch. Hat wohl etwas nicht bekommen, was es wollte.

18
Die Trockenrasenwiese auf dem Weg nach Garz und ein verfallener Friedhof, das sind Tageseindrücke, die bleiben. Überhaupt die Friedhöfe. Auf dem Golm (der höchsten Erhebung der Insel Usedom), früher beliebter Ausflugsberg mit einer Gaststätte, die sich Onkel Tom’s Hütte nannte (ein paar Grundmauern davon und zwei große, emailierte Töpfe, aufgespießt auf zwei Eisenstreben eines Betonpfeilers, erinnern daran), heute Grab- und Erinnerungsstätte des Luftangriffs vom 18. März 1945, dem etwa 6.000 Menschen zum Opfer fielen, ein wunderschöner Wald mit alten Koniferen, Eichen, Lärchen, Pappeln, bemoosten Böden und Denkmälern. Selbst die Gestalt gewordene Erinnerung sorgt immer wieder für Streit, denn die einen sähen lieber ein Kreuz, die anderen eine weinende Kriegerdenkmalsmutter und wieder andere einen erschreckend nüchternen Betonkranz als Mahnmal. Ein paar schlichte Steinkreuze geben den Namenlosen ein Gesicht. Wir essen eine Schnitzelsemmel in Garz in einer belebten Würstelbude, die ein AfD – Anhänger betreibt. Die Semmel schmeckt sehr gut.

19
Es ist vorbei mit dem Tourismus. Zu viele Leute. Außerdem gibt es nirgendwo auf der Welt einen Landstrich, der nicht kontaminiert ist von denSchrecken irgendeines Geschichtsereignisses.

20
Wir kaufen uns gelbe Regenmäntel. Der Strand ist nach wie vor sandig. Und dann sitzen wir endlich in der kleinen Auszeit am Haff.

21
Ein Reisegefährte kauft in meinem Traum weiße Schuhpasta.

22
Plötzlich nehme ich Sonnenschein oberhalb der Nebelschwade wahr – eine ferne Helligkeit, dunstig und überirdisch. Zwei Friedhöfe zwischen Garz und Kamminke erwecken meine Aufmerksamkeit. Gegen Abend fängt es zu regnen an. In der Nacht dreht der Wind auf Nord.

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Wenn sie „dreckiges Geschirr“ hört, stellt sie sich vor, dass man daraus Dreck gegessen hat.

24
Heute sind wir Dünenmausi und Spreewaldratte!

25
Wir müssen wohl alle zu viel arbeiten. Der Körper ist endlich. Im Urlaub wird das noch einmal deutlicher.

26
Die Altkanzlerin Merkel macht in Dierhagen Urlaub.

27
Ich verbringe den 22. Juli 2023 am Bahnsteig in Züssow. Und bin nach morgendlich sehr guter Laune sofort schlecht gelaunt. Denn die Deutsche Bahn schafft es nicht, Menschen zu transportieren.

28
Der Schaffner im gerammelt vollen Zug von Züssow nach Seebad Heringsdorf: „Das ist nicht mehr tragbar!“
Unsere Haltestellen zwischen Züssow und Seebad Heringsdorf: Buddenhagen, Wolgast,  Bannemin Mölschow (das „w“ am Ende wird nicht ausgesprochen), Tassenheide, Zinnowitz, Zempin, Koserou, Kölpinsee, Stubenfelde, Ückeritz, Neu Pudagla, Schmollensee, Bansin, Seebad Heringsdorf, Neuhof. Endstation: Swinovice.

29
Die Schaffnerin im Zug mit 2stündiger Verspätung von Züssow nach Berlin/Bernau: „Da kann ich ihnen nicht weiterhelfen. Wir haben kein Internet.“

30
Ein junger Bursche zu seinem Banknachbarn im Zug von Berlin nach Nürnberg: “Bring mich zum Lachen!“ Und dann lachte er.

31
Die Zugverspätung und die Zugräumung in Nürnberg erfolgen aufgrund der fehlenden Toiletten im Zug.
In Nürnberg arbeiten viele Afrikaner*innen und Asiat*innen in der Gastro.
In Nürnberg ist das ganze Jahr über Weihnachtsmarkt.
In Nürnberg auf einer Häuserfassade zu lesen: Ein Werk, ein Mensch, ein Wahrnehmen.
In Nürnberg beziehen wir ein Hotelzimmer und ich gönne mir eine Kingsiz-Dusche.

32
Auf unserer Rückreise treffen wir am Bahnhof Wien Meidling einen Schriftsteller. Wir reden über seine Missbrauchsgeschichte, die er für einen Literaturwettbewerb eingereicht hat und darüber, dass seine beiden Töchter künstlerische Berufe gewählt haben.

33
Ritual. Wiederholung. Die Welt mit Schwermut zum Schwingen bringen. Wichtig ist, dass man eintaucht und spürt, wie schön es ist, wenn da etwas zuverlässig vorangeht, ohne dass es vorangeht. (Isländ. Künstler: Ragnar Kjartansson)

34
Wo liegen: Strandir? Strandasyssel, Skaftarjökull, Thule, Dkagaströnd, Stykkisholmur, Kollafjardarnes, Reykjarfjord, Kluka, Trekyllisheidi, Sunnadaluhr, Nordurfjördur?

35
Wenn sich etwas dem Ende zuneigt, wird es gerne übertrieben.

Geschmeidigkeit


1
Was machen Menschen, die einen E-Roller und einen Hund besitzen und damit in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind? Geschmeidig eine ganze Sitzreihe belagern?
2
Es macht Sinn, eine Aufgabe zu haben. Auch im Leiden. Besonders im Leiden. Zum Beispiel Talismane zu schnitzen, Worte zu haben, Sätze zu suchen, Manifeste zu formulieren, auf einem Besen reiten …
3
Wir sitzen in der Abendsonne am Ufer der Teiche in Nexing. Die Sonne glitzert auf der Wasseroberfläche. Und an den Stämmen der Bäume bricht sie sich wieder. Die Bienenfresser kommen zum gemeinsamen Baden an den Teich: einmal kurz im Flug mit dem ganzen Körper eintauchen und sich den Staub aus den Federn waschen. Ein seltenes Schauspiel für uns.
4
Ich lasse mich von zwei Freunden durch das sommerreife Weinviertel kutschieren; durch wunderschöne Landschaft und vertraute Gespräche, die man nur in einem fahrenden Auto führen kann, auf einer Strecke, die man kennt, sich dabei nicht in die Augen schauend, sondern nach vorne, auf die Straße, in die Weite.
5
Michael Stavaric spricht bei öffentlichen Vorträgen ganz ohne Füllwort „Äääähm“, wie am Schnürchen in einem fort …
6
Da ist eine intime Nähe zu den Dingen, eine reifende Vertrautheit mit dem Material, eine damit verbundene Sorge und Fürsorge. Ich stelle mir vor, wie es ist, aus dieser Vertrautheit heraus Neues zu formen, leidenschaftliche Dialoge in Gang zu setzen, Liebe zu empfinden und diese zu gestalten …

Putzen


1
Mein Rivale Paulus schlägt zum Thema Annäherung vor: „Einander sehen wie in einem beschlagenen Spiegel“. Ausnahmsweise stimme ich ihm zu.

2
… wenn eine Putzfrau erzählt, wie es ist, wenn man zum ersten Mal einen Toten sieht, oder wenn in der Urologie die Exhibitionisten die Decke lüften und stolz und fragend ihr Gemächt präsentieren, wenn man bei Komapatienten manchmal eine Kleinigkeit ändert, ein anderes Bild aufhängt, zum Beispiel, dass es vielleicht helfen könnte, wieder aufzuwachen, wenn man einen Menschen, dem man immer wieder begegnet, zu nahe an sich heranlässt und bei seinem Tod zu betroffen ist und sich schwört, nie wieder eine solche Nähe zuzulassen, dann …

3
Es ist nie zu spät ein gutes Leben gehabt zu haben.

4
Der Haushalt stürzt mich immer wieder kurzfristig in eine Krise. Ich lebe gerne ein bisschen sauber. Aber der Aufwand steht in keinem Verhältnis. Ich kann nicht immer umziehen, wenn es ans Putzen und Renovieren geht. Das kann ich mir noch weniger leisten, als darüber zu jammern.

5
Viktor Frankl hat 9 Tage dafür gebraucht, um sein Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ zu schreiben.

6
Du musst Vater und Mutter ehren? Einen Scheiß muss ich! Wenn schon, dann freiwillig. Ab dem – sagen wir – 20. Lebensjahr ist wohl jeder aus der Verantwortung für seine Rolle herausgewachsen. Sowohl Kinder als auch Eltern uswuswusw.

7
Meine Welt wird immer kleiner. Meine Gedanken werden immer kleiner. Woraus schöpft eine Künstlerin?

8
Drei Stunden – das scheint meine neue Aufmerksamkeitsspanne zu sein.9
Es ist nicht gut, wenn Du mit mir schimpfst. Es ist gut, wenn Du mich darin bestärkst auf Abwegen zu wandeln. Oder im Gehen in meine Keramikwerkstatt. Ich möchte mir Zeit dafür freihalten, ein bisschen was von der Erde zu sehen, oder vom Flecken Welt, der um mich liegt; ihn nicht nur reinigen und versuchen, möglichst instand zu halten, sondern ihn lieben.

9
Es ist nicht gut, wenn Du mit mir schimpfst. Es ist gut, wenn Du mich darin bestärkst auf Abwegen zu wandeln. Oder im Gehen in meine Keramikwerkstatt. Ich möchte mir Zeit dafür freihalten, ein bisschen was von der Erde zu sehen, oder vom Flecken Welt, der mich umgibt; ihn nicht nur reinigen und versuchen, möglichst instand zu halten, sondern ihn lieben.

10
So, der diesjährige Bachmannpreis geht an eine Frau, die einen Text über das Putzen geschrieben hat. „Er putzt.“

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1
Bringen einzelne die Welt weiter oder doch die Vielen?

2
Freudvolle Kreisläufe des Teilens und Anteilnehmens bilden…

3
Ich bin mit genügend Talent ausgestattet, und habe nicht allzu viel daraus gemacht. An manchen Tagen ist das meine Conclusio. Das sind zugleich jene Tage, an denen Langsamkeit nicht zählt und Unsicherheit nicht zählt.
Zufriedenheit zählt nicht. Kranksein zählt nicht. Behutsamkeit zählt nicht. Unsicherheit zählt nicht. Fragenstellen zählt nicht. Suchen zählt nicht. Unwissenheit zählt nicht. Bescheidenheit zählt nicht. Poesie zählt nicht. Das sind jene trüben Tage, an denen ich mir meine Haltungen und Lebensweise selber schlecht rede.

4
Jeder möge seinen Mist so breit streuen, wie das Auge reicht! Stinken tut’s eh schon überall!

5
Das Paar betreibt eine kleine Gastwirtschaft. Die Frau kocht in der Küche. Der Mann berät und bedient die Gäste im Gastraum. Ich beobachte die beiden dabei, wie sie ihn zwischen Küche und Schank einen Löffel Suppe reicht, wohl um ihn zu fragen, ob sie gut abgeschmeckt ist. Er kostet, überlegt kurz und nickt zustimmend.

6
Ein Bekannter schenkt uns eine ganze Kiste voller Wiesenchampignons. Wir füllen Teigtaschen damit und essen sie. Obwohl ich mit dem Pilze-Buch kontrolliere, gehört Vertrauen dazu, das zu tun.

7
Sie ist in ihrem verantwortungsvollen Beruf erfolgreich. Gleichzeitig glaubt sie nicht daran, dass sie auch ohne Leistungserbringung geliebt wird. Es rührt sie nur für kurze Zeit, wenn man es ihr sagt.

8
Der Kupelwieser Walzer rührt mich an.

Bittgang


1
Ich liebe G’stanzln: „Des gonze Weihwasser in Mariazell hab i mit LSD veseicht, des is tragisch aber es is glogn“ (gehört von den Strottern)

2
In welche Richtung gehen wir nun wirklich?

3
Ich suche traditionelle Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft. Ich finde und verwerfe: die parlamentarische Monarchie der Briten, die katholischen Bittgänge rund um Christi Himmelfahrt, die Venus von Dolnî Vêstonice und den Hollerstrauch vor meinem Haus, der jetzt in voller Blüte steht.

4
Ich bleibe an der Spinnwirtel hängen, die unlängst im Urzeit-Museum von Stillfried an der March meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Ich bleibe an diesem (scheibenförmigen) Objekt mit dem Loch in der Mitte hängen, Jahrtausende alt, bis mindestens ins 14. Jahrhundert verwendet zum Spinnen von Fäden für Kleidung und andere Textile … Textur … Text … Ich darf sie natürlich nicht in die Hand nehmen, so bleibt es beim Lesen des Textes, der als Erklärung angebracht wurde: wenn ich dem glauben darf, ist sie an die 7500 Jahre alt. Dieses Artefakt liegt also nur in der Phantasie in meiner Hand, schwer, um zu Boden zu gehen, um einen Faden zu spinnen, der verwoben wird mit vielen anderen, um dann zu halten oder zu tragen oder getragen zu werden von unzähligen Frauen und Männern und Kindern. Die Welt überhaupt als ein Gewebe zu sehen, in dem alles mit allem verbunden ist, das ist für mich die Geschichtsdeutung dieser Tage. Die Welt ist ein Netz. Was eine Einzelne/ein Einzelner tut oder lässt, hat Auswirkungen auf alle. Wir existieren nicht ohne einander, wir können nur miteinander und füreinander existieren.

5
Meine Mutter hat mir ein neues Kleid aus rotem Stoff genäht. Die Knöpfe fehlen noch. Ich werde sie aus Ton formen, brennen und an den dafür vorgesehenen Stellen anbringen.

6
Sehr gerne spinne ich mir in den zu seltenen Tagträumen (m)eine Welt zusammen. Sie trägt mich. Ich lasse mich in sie fallen. Sie hält ewig.

7
Du am Meer und ich nicht online. So sieht die Realität aus.

Verhängnis


1
Ich kriege das mit Hunden nicht auf die Reihe. Ihn zum Gefährten haben und gleichzeitig über ihn verfügen, wie geht das denn?

2
Wir müssen darauf beharren, dass die Lüge eine Gewalttat ist.

3
Stress bedeutet für mich, dass ich immer wieder Gedächtnisverlusten ausgesetzt bin …

4
Mir geht wieder einmal durch den Kopf, wie sich Bildung – konkret die Schulpflicht – in einen Menschen einschreibt. Einprägt. Wie schmal doch der Grat zwischen Selbstermächtigung und Unterjochung ist. Ich war meistens knapp daneben. Bin meistens der Unterdrückung auf den Leim gegangen. Schule war ein Ort der Domestizierung, des Kleinmachens bzw. des Nursogroßwachsens, wie es den Lehrpersonen gefiel. Also nie größer als sie selber. Zur gefälligen Dienerin des hierarchischen Systems erzogen werden, das war ungeschriebenes Gesetz. Das liegt dahinter. Auch wieder nur knapp. Die paar wenigen (wer war das überhaupt?), die das Große in den Menschen, das Leuchtende sahen, hatten nicht die Kraft, gegen die Regeln zu verstoßen. Waren zuvor ja selbst Schüler.

5
Einfach draufloszugehen ist nicht langweilig. Und ein ernsthaftes Gespräch zu führen, ist auch nicht langweilig. Aber zehn ernsthafte Gespräche zu führen, das ist zu viel.

6
Zwei Tage in Wien und ich bemerke – jeder bleibt in seinem Grätzel. Im Kaffeehaus, im Supermarkt, im Bad. Und im Weidinger traust dich wirklich nur zu flüstern …

7
Ich hör’ mir gerne die Meinung von Menschen an, die in meinem Alter sind. Da gibt es eine Übereinkunft.

Inspiration


1
Der Gesang der Mönchsgrasmücke gibt dem Morgen einen Sinn. Ein kleiner Vogel mit ausgeprägt heller Stimme.

2
Als Landpomeranze erlebt man sehr viel in Wien.

3
Was gibt es Spannenderes und Befriedigenderes als eine gute Idee? Meine Kinder liefern gleich:  „Brauchst‘ nur uns zwei Heulenden anschauen. Das ist Dein Stoff!“

4
Ich lerne gerne freie und selbstbewusste Leute kennen, deren Leben sich sowohl im Glück wie in der Katastrophe auf differenzierte Weise entfaltet.

5
Mit ihm ist alles so, wie nach einem echt guten Witz. Und der Witz ist natürlich von ihm …

6
Meine Schwester wohnt gegenüber den Dolomiten. Ein kleiner Wasserfall ist von ihrem Balkon aus zu sehen. Er wird von allen „Blick zwischen die Beine einer Frau“ – oder so ähnlich – genannt.

8
Verrückte interessieren mich am meisten. Solche, die Scherze machen, die ins Mark gehen. Solche, die alles wollen und nicht nach der Vernunft fragen und solche, die brennen, brennen an beiden Enden.

9
Ich liebe den Alltag mit seinem Rhythmus, weil ich das dann für eine universale Wirklichkeit halte. Also: alles scheint irgendwie gut zu sein. Weil alles geordnet ist. Deshalb wäre es angebracht, eine weite Reise zu machen. In ein fremdes Land. Um zu sehen, es ist auch alles ganz anders. Die Sprache, die Kleidung, das Tempo und der Wein.

10
Während ich Nachrichten höre, drängt sich mir die Frage auf: Zahlt es sich überhaupt noch aus, in die Arbeit zu fahren, wenn rund um mich die Welt einbricht?  … Keine großen Fragen stellen, oder?

11
Sie hat schon gestöbert und festgestellt, dass ihr die stressige Voranschlag Zeit nicht mehr richtig gefällt und sie sich nach Ruhe und Genuss ihrer Habseligkeiten sehnt.

12
Mit alten Menschen aufmerksam zusammen sein bedeutet mehr als jedes Achtsamkeitstraining!

13
Während ich mich am Buffet im Speisesaal anstelle, fliegen mir folgende Worte zu: „… Ich interessiere mich in letzter Zeit immer mehr für …“. Leider kann ich den zweiten Teil des Satzes nicht mehr hören.

14
Vieles, das ich während meiner Dienste zu Ohren bekomme, sollte vertont werden:
„Die Brüste wohnen im Dekolleté dicht beieinander.“
„Seine Augen hören!“
„Ich will hier nicht übernachten! Zu viel fremder Kummer treibt sich zwischen den Fenstern, der Wand, der Decke, den Vorhängen.“

15
Ich will im Freien am Wasser übernachten. Ich kaufe mir eine aufblasbare Matratze und einen leichten Schlafsack.

16
Lebendig sein ist überhaupt ein rechter Übermut. Eine Frau sein, die ein gesegnetes Leben führt, eine Frau, die jeden Tag das Leben ausprobiert, als wäre es immer wieder neues, überraschendes Geschenk.
So gesehen ist das Leben einfach nur ein Glück, solange es währt. Nämlich ein richtiges Leben, in dem man sich Niederlagen und Siege erlaubt, bei denen keine siegt und keiner unterliegt.

17
Er will sich einen Papierdrachen – einen Oktopus – basteln und ihn fliegen lassen …