Ostsee
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Ein halber Tag an der March: ein Vorbote.
Ein halber Tag an den Teichen in Nexing: ein weiterer Vorbote.
Die Reise an die Ostsee: Weite. Wasser. Wandern. Atmen. So stelle ich mir das vor.
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Die Reise an die Ostsee beginnt damit, dass mich mein Mann dem von mir versäumten Bus hinterherfährt.
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Das Krankenhaus St. Pölten liegt auf dem Weg.
Wie geht Genuss ohne Essen? Wie geht Genuss ohne Magen, fragt sie. Gehen? Kunst? Liebe? … ich soll das Meer von ihr grüßen lassen.
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Liebe ist auf jeden Fall, wenn er jedes Mal an der Tankstelle stehen bleibt, wenn die Partnerin das will, auch wenn der Tank nur halbvoll ist.
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Liebe ist, die von mir gekochte Rote-Rüben-Suppe zu essen.
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In seiner Jugend mochte er Thomas Mann. Usedom ist für ihn eine der Landschaften, die Mann beschrieben hat: „Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit.“
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In Wien für eine Nacht lang eine Wohnung mit Dachterrasse zu beziehen, ist schon Urlaub. Auf der Simmeringer Hauptstraße neben dem 71er in der Platanenallee ein einfaches Abendessen und ein heißer Wind, der mehr und mehr abkühlt. Wien. Brünn. Prag. Mit dem Flixbus. Um fünf Uhr früh fährt der Fernbus in Erdberg ab. Am Busterminal lese ich auf den vielen Plänen lauter Städtenamen, von denen ich noch nie gehört habe. Sophia und Thessaloniki sind am wenigsten exotisch, Durres, Ohrid, Plovdiv, Prileb, Vir. Alle liegen im Süden. Wir fahren in den Norden. Unsere beiden Buschauffeure sind Kroaten. Stoisch ernst. Oder gelangweilt. Souverän in ihrem Job. Sie sind am späten Abend in Zagreb gestartet.
Jetzt fahren wir durch ein Land, das über 40 Jahre lang keine Demokratie gelernt hat. Und dann kamen 30 Jahre lang stetes Erarbeiten eines Minderwertigkeitskomplexes. Differenziertes Denken und Argumentieren muss regelmäßig gelernt werden. Vielleicht ist die Natur hier in Ordnung. Biosphärenparks gibt es zur Genüge.
Obwohl wir nach Deutschland unterwegs sind, ist die Muttersprache der meisten Fahrgäste nicht Deutsch. Der Komfort ist ganz passabel, man kann sogar schlafen. In diesem Ambiente ein isländisches Buch zu lesen, gefällt mir. Im Buch ist es kalt und urtümlich. Und ich fahre wenigstens in die richtige Richtung.
Mit meinem Reisegefährten teile ich eine Jause. Wir beschreiben, was wir vom Busfenster aus sehen und fühlen; Wetter und Temperaturen gesellen sich dazu.
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Kurz vor Berlin sehe ich einen Rotmilan über die Autobahn fliegen.
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Berlin ist voller Grünflächen, Wildkräuterwiesen und Mahnmalen. Das Mahnmal für die Juden. Das für den Genozid an den Roma und Sinti. Das für die Homosexuellen. Jeder Ort hat eine besondere Stimmung. Kunst kann im Nachhinein so vieles deutlich machen. Warum kann sie es nicht von vornherein, um diese Katastrophen zu verhindern?
Der Himmel ist immer noch groß in Berlin.
Die opulenten Bilder von Roxana Halls gefallen mir sehr.
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Gedicht aus dem Haus Kunst Mitte:
Allein
Gutgläubige Träumerin
In dem Zimmer
In dem du eine
Viertel Kerzenlänge
Lang geliebt hast
Allein
Klagst du und wertest
In schwarz gewandener Hoffnung
Umhüllt von Langeweile
Es ist viel zuviel
Zeit ohne ihn
In diesem Zimmer
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Die Übernachtung im Urbanloft nahe des Bahnhofs in Berlin ist trendig und auswechselbar. Ich fühle mich, als könnte ich überall auf der Welt sein. Die Leute, die das Hotel betreiben, sind sehr freundlich und zuvorkommend. Die Wände und die Seifenspender sind voll mit Weisheitssprüchen. Auf dem Klo lese ich: „Lieber Küssen statt reden“.
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Die Fahrt von Berlin nach Züssow und Bad Heringsdorf mit der Deutschen Bahn. HBF Berlin: Hunderte von Menschen. Alle wollen in den Urlaub. So wie in Wien. Wir kaufen noch Ampelmännchen-Souvenir am Bahnhof. Magersüchtige Frauen sehen aus wie Menschen, die man von den KZ–Fotos kennt. Man mag sie sich gar nicht nackt vorstellen. Kindern gefällt das Gedränge gar nicht. Hunden auch nicht.
Richtung Greifswald und Stralsund fahren, das ist lyrisch.
Manufakturenscheune steht auf einem Haus zwischen Stralsund und Stubenfelde.
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Ein Reisegefährte interessiert sich im Vorfeld unserer Reise für eine Explosion auf Rügen, die eine Feriensiedlung zerstörte. Außerdem findet er im Internet die „Kleine Auszeit“ in Kamminke, wo Softeis angeboten wird. Er kümmert sich um die Diskussion, ob in Berlin ein Löwe oder Wildschwein entlaufen ist. Und er sorgt sich um unbeaufsichtigte Kinder in der Ferienanlage: „Unbeaufsichtigte Kinder bekommen bei mir einen doppelten Espresso und einen Hundewelpen geschenkt!“.
Brandmelder sind da. WLAN auch. Funktionieren tun beide nicht.
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Heute wächst hier die Welt schon zusammen. Die Natur gibt sich her. Konsum wird nicht allzu hoch geschrieben. Die Geschäfte sind klein und wenig marktschreierisch. Genuss geschieht unmittelbar. Die Oberfläche ist nicht so wichtig. Und die ganze Welt ist unterminiert von Krieg und Kommunismus, Warschauer Pakt, Nato und Schifffahrt. Aufwändige Kultur scheint nicht im Osten geparkt zu sein. Kunst auf jeden Fall nicht. Die Leidenschaft versteckt sich. Inspiration muss hier von Innen kommen.
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Unser Hauswart Peter besticht durch deutsche Ungründlichkeit.
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Die Ostdeutschen versuchen nicht, mich zu blenden, das können die Italiener. Die tun sich diese Arbeit an.
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Im Nachbarhaus leben zwei richtige Muskelprotze sind. Das Kind trägt Gummistiefel, eine lila Fließjacke und einen langen Pullover. Es schaut mürrisch. Hat wohl etwas nicht bekommen, was es wollte.
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Die Trockenrasenwiese auf dem Weg nach Garz und ein verfallener Friedhof, das sind Tageseindrücke, die bleiben. Überhaupt die Friedhöfe. Auf dem Golm (der höchsten Erhebung der Insel Usedom), früher beliebter Ausflugsberg mit einer Gaststätte, die sich Onkel Tom’s Hütte nannte (ein paar Grundmauern davon und zwei große, emailierte Töpfe, aufgespießt auf zwei Eisenstreben eines Betonpfeilers, erinnern daran), heute Grab- und Erinnerungsstätte des Luftangriffs vom 18. März 1945, dem etwa 6.000 Menschen zum Opfer fielen, ein wunderschöner Wald mit alten Koniferen, Eichen, Lärchen, Pappeln, bemoosten Böden und Denkmälern. Selbst die Gestalt gewordene Erinnerung sorgt immer wieder für Streit, denn die einen sähen lieber ein Kreuz, die anderen eine weinende Kriegerdenkmalsmutter und wieder andere einen erschreckend nüchternen Betonkranz als Mahnmal. Ein paar schlichte Steinkreuze geben den Namenlosen ein Gesicht. Wir essen eine Schnitzelsemmel in Garz in einer belebten Würstelbude, die ein AfD – Anhänger betreibt. Die Semmel schmeckt sehr gut.
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Es ist vorbei mit dem Tourismus. Zu viele Leute. Außerdem gibt es nirgendwo auf der Welt einen Landstrich, der nicht kontaminiert ist von denSchrecken irgendeines Geschichtsereignisses.
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Wir kaufen uns gelbe Regenmäntel. Der Strand ist nach wie vor sandig. Und dann sitzen wir endlich in der kleinen Auszeit am Haff.
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Ein Reisegefährte kauft in meinem Traum weiße Schuhpasta.
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Plötzlich nehme ich Sonnenschein oberhalb der Nebelschwade wahr – eine ferne Helligkeit, dunstig und überirdisch. Zwei Friedhöfe zwischen Garz und Kamminke erwecken meine Aufmerksamkeit. Gegen Abend fängt es zu regnen an. In der Nacht dreht der Wind auf Nord.
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Wenn sie „dreckiges Geschirr“ hört, stellt sie sich vor, dass man daraus Dreck gegessen hat.
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Heute sind wir Dünenmausi und Spreewaldratte!
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Wir müssen wohl alle zu viel arbeiten. Der Körper ist endlich. Im Urlaub wird das noch einmal deutlicher.
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Die Altkanzlerin Merkel macht in Dierhagen Urlaub.
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Ich verbringe den 22. Juli 2023 am Bahnsteig in Züssow. Und bin nach morgendlich sehr guter Laune sofort schlecht gelaunt. Denn die Deutsche Bahn schafft es nicht, Menschen zu transportieren.
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Der Schaffner im gerammelt vollen Zug von Züssow nach Seebad Heringsdorf: „Das ist nicht mehr tragbar!“
Unsere Haltestellen zwischen Züssow und Seebad Heringsdorf: Buddenhagen, Wolgast, Bannemin Mölschow (das „w“ am Ende wird nicht ausgesprochen), Tassenheide, Zinnowitz, Zempin, Koserou, Kölpinsee, Stubenfelde, Ückeritz, Neu Pudagla, Schmollensee, Bansin, Seebad Heringsdorf, Neuhof. Endstation: Swinovice.
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Die Schaffnerin im Zug mit 2stündiger Verspätung von Züssow nach Berlin/Bernau: „Da kann ich ihnen nicht weiterhelfen. Wir haben kein Internet.“
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Ein junger Bursche zu seinem Banknachbarn im Zug von Berlin nach Nürnberg: “Bring mich zum Lachen!“ Und dann lachte er.
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Die Zugverspätung und die Zugräumung in Nürnberg erfolgen aufgrund der fehlenden Toiletten im Zug.
In Nürnberg arbeiten viele Afrikaner*innen und Asiat*innen in der Gastro.
In Nürnberg ist das ganze Jahr über Weihnachtsmarkt.
In Nürnberg auf einer Häuserfassade zu lesen: Ein Werk, ein Mensch, ein Wahrnehmen.
In Nürnberg beziehen wir ein Hotelzimmer und ich gönne mir eine Kingsiz-Dusche.
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Auf unserer Rückreise treffen wir am Bahnhof Wien Meidling einen Schriftsteller. Wir reden über seine Missbrauchsgeschichte, die er für einen Literaturwettbewerb eingereicht hat und darüber, dass seine beiden Töchter künstlerische Berufe gewählt haben.
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Ritual. Wiederholung. Die Welt mit Schwermut zum Schwingen bringen. Wichtig ist, dass man eintaucht und spürt, wie schön es ist, wenn da etwas zuverlässig vorangeht, ohne dass es vorangeht. (Isländ. Künstler: Ragnar Kjartansson)
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Wo liegen: Strandir? Strandasyssel, Skaftarjökull, Thule, Dkagaströnd, Stykkisholmur, Kollafjardarnes, Reykjarfjord, Kluka, Trekyllisheidi, Sunnadaluhr, Nordurfjördur?
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Wenn sich etwas dem Ende zuneigt, wird es gerne übertrieben.