KategorieLicht am Stelldichein

Mestre


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Zum Auftakt im RJ, der uns nach Venecia St. Lucia bringt, verschütte ich einen Cappucinotogo. Einen großen. Er ergießt sich über das halbe Zugabteil. Trotzdem fährt der Zug durch Lieblingslandschaften. Meine Stimmung wird mit jedem Kilometer heiterer. Ich sehe die ersten Palmen.
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Mestre empfängt uns mit aufgeblasenen Lippen, einem opulenten Markt, dem Geruch von Fisch und Huhn und dem Uhrturm.
Mittwoch und Freitag: Markt in Mestre. Was für eine harte Arbeit! Zweimal die Woche diese ganze Zelt- und Tischlandschaft aufzubauen! Und dann natürlich noch die Waren heranschaffen und für das Auge schön drapieren. Der Verkauf beginnt erst gegen 9 Uhr. Vorher sind alle mit Vorbereitungen beschäftigt. Wir kaufen uns einen großen Topf. Darin hat ein ganzes Hühnervolk auf einmal Platz. Karden, lila Karfiol, eine mir unbekannte Art von Herbstspargel, Mini-Zucchini und Mini-Melanzani. Spinat in allen erdenklichen Formen.
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Heute ist Sonntag. Heute kommen sie aus ihren Wohnungen, die Hunde und ihre Herrchen und Frauchen, nebenan auf die Piazza del Ferretto. Der Grundton auf der Piazza: der Brunnen plätschert. Ja, das Flanieren auf den Piazze hat Tradition. Alle sind herausgeputzt und sind fein gekleidet. Egal welchen Alters. Mindestens ein Jackett und mindestens eine tolle Frisur. Und Brillen, Brillen, Brillen. Heuer sind hohe, schwarze Stiefel modern, die trotz der spätsommerlich warmen Temperaturen getragen werden.

Ich setze mich in die Bar Antico Stendardo. Ich beobachte einen Mann, der sich – vermutlich mit seiner Mutter – unter einen Sonnenschirm der Bar setzt, um ein paar wenige Worte zu wechseln und zu schauen. Die Einheimischen tun das mit einer unverwechselbaren Aufmerksamkeit, einer extravaganten Mischung aus Neugier, Interesse und Gelassenheit. Das kriegen wir TouristInnen nicht hin. Höchstens die Italiener. Es tut mir gut, von der Kellnerin als Seniora angesprochen zu werden. Aus dem Zelt der Zivilschutzinformation, das mitten am Platz Stellung bezogen hat, wehen Seifenblasen her.

Ein Protestzug der moldauischen Minderheit zieht singend an mir vorbei. Ein Mann hat sich Pappkartons mit Protestparolen vor und hinter den Oberkörper gehängt. Soweit ich das übersetzen kann, ist er gegen so ziemlich alles. Er steht ruhig da. Er irritiert nur mich. Alle anderen scheinen ihn zu kennen.
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Das Hotel Venezia lebt von Spiegeltäuschungen
(- der Frühstücksraum ist mit Spiegelwänden ausgekleidet. Wahrscheinlich ist der Raum ein dunkles Loch – mit Hilfe von Spiegeln, Lichtern und Scheinarchitektur wird er zu einem hellen Raum. Der Schein kann trügen!)
und sehr zuvorkommendem Personal. Vor allem die Herren an der Rezeption machen ihrem Namen alle Ehre. Elegant zurückhaltend, freundlich kühl und verständnisvoll bei Anfragen aller Art. Die vorauseilende Antwort auf eine (noch) nicht gestellte Frage: „So kommen Sie am besten nach Venedig!“
Mit einem Ticket um 65 Euro kann man sich hier frei mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen. Am besten richte ich mein Büro auf einem Vaporetto ein. Diese Wasserbusse fahren sehr rustikal und wild durch die Gegend. Ich staune, man muss sehr gut auf den Beinen stehen, um da mithalten zu können und nicht zu wackeln oder umzufallen.
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Das Bier wird hier natürlich auch schon wie Wein serviert. Die Flaschen sind klein und extrem aufgemotzt, aber auf schön. Heute habe ich die ersten Maroni auf dem Ofen gesehen. Schwertfisch mit Avocado und Kürbissülzchen. Meeresfrüchte. Risotto. Prosecco.
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Das M9 erinnert mich sehr an das Kunsthaus Graz. Es ist mitten hinein in die Stadt gebaut – gut gebaut – neu in schöner Umgebung. Der Raum ist auch innen passabel. Die Ausstellung ist multimedial und für mein Hirn zu verwirrend. Der Künstler Emilo Vedova macht nur „alten“ Trash.
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Es ist die perfekte Lösung, in Mestre zu wohnen. Venedig hält auf Dauer ja kein Mensch aus. Die ganze Welt trifft sich hier. Die ganze Welt ist auf Reisen. Ganz klar.
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Der Wein, den wir am Abend in einer Osteria trinken, kommt vom Weinbau ORTO auf St. Erasmo. Ein extraktreicher, würziger Malvasier. Dunkelgelb. Vom Salzwasser, in dem die Rebe wächst, schmecke ich nichts – man erwartet ja, dass er salzig anmutet, er schmeckt. Einige dieser Weingärten sehen wir auf unserer Kajaktour – von Burano aus – auf der Insel Mazzorbo. Torzello … auch eine Insel. Auf ihr könnten wir über die älteste Brücke Venedigs gehen. Wir sehen Flamingos. Wie gut, dass mein Reisegefährte sie nicht mit dem Fotoapparat erwischt. So bleiben sie uns in dem Moment in Erinnerung, als sie alle zusammen – es sind wohl an die 35 weiß-rosa Vögel, die da auffliegen und in geordneter Formation Richtung Nordosten ziehen. Zwei Kormorane schließen sich an. Was für ein Glück, das alles zu sehen. Der Touristenstrom auf Burano und Torzello ist abstoßend unerschöpflich. Auf Torzello leben 8 Personen. Wahrscheinlich sind es 500 bis 1000 Menschen, die täglich auf die Insel kommen. Geld stinkt nicht.
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Ich trage heute schwere Schultern. Das kommt daher, dass ich bei der Kajaktour die Paddel nicht mit Armen im rechten Winkel zur Paddelstange gehalten habe. Die Übung war also nicht kraftsparend – aber vielleicht trotzdem gut für meinen Körper. Ich liebe es, den ganzen Tag draußen zu sein.
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Die Fliegen sind ganz schön frech.
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Bis zum Lido ist es nicht weit. Es lockt die Sonne, das Glitzern auf der salzigen und klaren Adria dorthin. Beim Mittagessen in einer kleinen Osteria am Kanal servieren sie uns die besten Tagliatelli des Jahres. Das ist sicher, obwohl, das Jahr ist noch nicht zu Ende ist. Nebenan wird ein Film gedreht. In St. Nikolaus feiern wir eine kleine Andacht. Diese Kirche werde ich auch bei meinen nächsten Besuchen wieder finden. Der Garten davor – ein kleines Paradies. Die Atmosphäre in der Kirche: still und ewig. Das zweite Mal in Venedig ist schon leichter zu ertragen.
Peggy Guggenheim macht mich grantig. Schöne Kunst in öffentlichen Räumen zu sehen, das liebe ich. Bei privaten Räumen allerdings hört sich der Spaß für mich auf. Im Essel Museum, im Liaunig Museum und hier… diese privaten Stiftungen können mich mal.
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Wo heute die letzte Gondelwerft Venedigs steht, befand sich früher der Platz der öffentlichen Denunziation (Dorso Duro/harter Knochen/Orso duro). Zeit für einen Aperol Spritz.
Letzte Vaporetto-Fahrt auf dem Canale Grande. Ein Besuch bei Tizian. Mariä Himmelfahrt. Mariä Himmelfahrt. Madonna von Pesaro. Vera und Igor Stranwinsky in San Michele begraben.
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Schnitt.
Eine Freundin wird am Darm operiert. Ihr Leben hängt am seidenen Faden. Wie soll ich das in Verbindung bringen mit dem schönen Leben, das ich hier in Mestre genieße?
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Wieder im Zug zurück nach Wien. Es zeigt sich eine breite Palette an Mitreisenden: Angesoffene. Eine extrovertierte Mutter, die uns zuhören lässt, was sie über die steuerliche Absetzbarkeit von Babysitting durch Verwandte zweiten Grades zu sagen hat. Ein Lehrer, der hier sein Büro aufschlägt und ohne Scheu 2 Stunden lang einen Online-Sprachkurs abhält. So benimmt sich ein richtiger Trottel. Das ist ein Wort, das ich sonst nicht benutze. Mir fällt kein besseres ein. Ich bin überhaupt nicht cool.
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Alles in allem – Isabella Guanzini fällt mir ein. Ihr Pamphlet für die Zärtlichkeit.
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Wir können vieles. Zum Beispiel nahtlos wechseln zwischen intimer Nähe und meilenweiter Entfernung. Wehmut ist nicht das Gebot der Stunde, sie drängt sich allerdings auf. Was sonst. Ein ausführliches Gespräch gegen die Melancholie. Trüffel-Salami-Brötchen und Sauvignon.
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Ein Gedicht auf meinem Körper zu tragen, steht mir gut.
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Die nächste Reise dahin wird im Winter sein, wenn sich der Nebel wie ein beruhigender Schleier über die Landschaft, über die Stadt legt. Ich habe gehört, dass Venedig im Winter seinen besonderen Charakter offenbart.
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Mich nicht aufsparen.
Das Schöne nicht aufsparen.

Grado

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In Ljubljana regnet es die meiste Zeit. Das hebt meine Stimmung. In einem sehr kleinen Strumpfladen finde ich farbenfrohe Socken und Strümpfe und für meine Tochter einen altmodischen Schlafanzug.
2
Grado ist ein sehenswertes Städtchen. Etwas kühler und rauer als Mestre, weniger Brillen, weniger schöne Kleider, dafür ein wilderes Meer und genauso viele Touristen. Alles ist auf diese Gäste ausgerichtet. Der Kellner trägt eine Brille wie ein Venezianer. Alle anderen nicht. Auffallend viele Sportler tummeln sich und laufen in Funktionskleidung hin und her. Die Altstadt und die Seite zum Meer hin sind für das Auge sehr ansprechend. Ich bilde mir ein, das nahe Karstgebirge und die anstrengende Lebensweise in der Landwirtschaft oder am Meer deutlich zu spüren.
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Ich nutze die Morgenstunde, sitze auf dem Balkon unseres Zimmers und hör die Adria rauschen. Die Sonne geht auf, die Wolken färben sich rot.
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Vier Männer sitzen auf den Gastgartenstühlen vor der Bar und trinken schon um 9 Uhr morgens je zwei Achtel Weißwein zum Frühstück. An zwei weiteren Tischen steht ein Espresso und – wie mir scheint – ein Glas Wasser. Im Laufe der Stunde, in der ich mich vom Aufstehen erhole, erfahre ich, es wird hier Grappa zum Espresso serviert, nicht Wasser. Das bestelle ich mir jetzt auch. Ist ja schon 10 Uhr.
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2000 Jahre alte  Mosaike und Aquileia in Sicht.
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Im Supermarkt klopft mir die Verkäuferin auf die Finger, weil ich zu nah auf die von mir gewünschten Oliven zeige. Nachdem sie mir ein kleines Plastikgefäß mit dem gewünschten Gut aushändigt, ist uns beiden nicht wohl zumute und wir verabschieden uns knapp mit Grazie und Prego.
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Mein Mann sagt, das ganze Leben ist eine Baustelle. Bis zum Tod.
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Ich werde älter. Es entstehen Zonen der Gelassenheit; ich finde Gelassenheit. Die liegt neuerdings da einfach so herum.
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Aqua Alta und ich ziehe mich zurück
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Maribor, dieses kleine slowenische Städtchen, liegt an der Drau. Die Drau fließt breit dahin und seit neuestem führt eine dezente Fußgängerinnenbrücke über den Fluss. Wenn man auf ihr steht oder geht, glaubt man, auf einem Holzboot zu sein. Das ist eine überraschende Sinnestäuschung.

Wolkersdorf

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Wir finden am Bahnhof ein schönes Steinwaschbecken. Unscheinbar versteckt hinterm Fahrradparkplatz. Ein paar Pflanzen haben sich im Becken angesiedelt und obwohl der Wasserhahn abmontiert ist, können wir es uns gut vorstellen, wie das Wasser hier alles noch weicher macht. Am Bahnhofskiosk kaufen wir Whisky und stellen die Whiskygläser auf diese Steinbar. Die Sonne scheint auf uns. Sie macht uns froh, einander etwas zu schenken. Einsamkeit zum Beispiel.
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Einstimmung ist nötig.
Vor fast jedem Gespräch.
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Muss ich wissen, dass es die Spiegelneutronen sind, die mich empathiefähig machen?
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Frank Drake entdeckte die Drake-Gleichung. Er berechnete 7 Unbekannte. Die Gleichung untersucht, auf wie vielen Planeten in unserer Galaxie Zivilisation möglich ist. Auf einigen, lautet das Ergebnis.
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Es flog mir einfach zu, ein Bild des Tages, für das ich dankbar war. Es fiel mir nie schwer, an etwas Schönes zu denken, das ich gesehen oder gehört hatte. Die Worte flogen mir zu, weil mein einziges Ziel war, das Bild klar und schlicht aufzuschreiben, damit ich mich später daran erinnern konnte, wie es sich angefühlt hatte.

Györ

 


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Wie wäre das, eine Beziehung ohne eine vorgegebene Form zu gestalten? Einfach nur das Wasser auszugießen und fließen zu lassen. Ich vermute, es würde keine Form annehmen und in alle Richtungen laufen. Es gäbe keinen offensichtlichen Weg, den man kennt und dem man vertrauensvoll folgen könnte. Es gäbe nur einen Weg, den man voller Neugierde und Entdeckerlust tastend sucht.
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Der Auftrag, nach Deinem Tod in „Deine“ Stadt zu fahren, um zu schreiben, der macht mich zutiefst traurig.
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Wovon kann ich mich befreien, um das zu genießen, was bleibt?

Brno

 

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Wie schön, dass der Jahresbeginn viel Zeit bereithält.

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Mit getrennten Betten bleibt man länger verheiratet. Tut mir leid, aber es ist wahr. Das steht heute Morgen in der Zeitung.

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Er sagt: “Das machen wir schon!“

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Ich zweifle an mir, weil mir die vielen Termine und Menschen über den Kopf wachsen. Dann steige ich in einen Zug nach Brünn … Dürnkrut … Breclav … Brünn.

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Durch unsere Reisen habe ich das Gefühl, in sein Leben getreten zu sein. Wenn auch nur kurz. Und etwas von ihm gesehen zu haben, was ich nie zuvor gesehen habe, so dass ich mich jetzt anders kenne.

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Von außen sind die Kirchen schön anzusehen. Innen tragen sie Weihnachtsschmuck.

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Die  Moravsky Galery for Art Design & Fashion trägt Ohrringe und beschwört das Feuer.

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Die Straßen sind mit ganz kleinen Steinen gepflastert. Das sieht fast liebevoll aus.

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Mein Reisebegleiter redet von flüssigem Kuchen, bevor ich an einem der Punschstandl‘n am Hauptplatz einen „Turbomost“ bestelle. Mir schmeckt das.

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Im Cafe Pilat fragt ein junger Geiger die Kellnerin, ob er ein paar Stücke einspielen dürfe, packt dann sein Instrument aus und fiedelt drauflosEr sitzt zwischen den Mittaggästen am Wirtshaustisch. Die Augen geschlossen. Er macht seine Aufnahme mit dem Handy. Niemand ist wirklich irritiert, man isst in Ruhe weiter, traut allerdings seinen Ohren nicht, ob der exzellenten musikalischen Darbietung. Trotzdem klatscht niemand. Wir sind gerührt. Vermutlich hat er in diesem nach gutem Essen riechenden Raum, den dezenten Geräuschen, der hell-heimeligen Atmosphäre des Lokals das perfekte Nest für seine Melodien gefunden.

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In einem Bierlokal mit dem perfekten Logo serviert man vier verschiedene, geräucherte Wurstsorten zum goldgelben Getränk. Das schmeckt mir.

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Im Cafe Tungsram trinke ich ein Glas Absinth und kaufe zwei Gläser Leberpastete als Mitbringsel für die Lieben daheim.

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Irgendwohin zu reisen, wo einem nichts vertraut ist, ist spannend. Genauso hat eine Fahrt in die Nähe ihren Reiz. Die Geborgenheit gesellt sich zur kleinen Aufregung. Diese Reise ist wie ein Packerl.

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Am Abend, wieder zurück im Gewohnten, finde ich in der Post einen sehr schönen Brief und eine Vase. Was ist gegen eine Brieffreundschaft zu sagen?

 

Abends, im Schein einer Tranfunzel


…  Martha kommt allerdings um 7 h morgens zu meiner Tür und schreit: „Tantile – Martha da!“ Wenn sie dann in meinem Bett sitzt, dann kannst Du Dir denken, wie ruhig es ist. Aber auch daran hab ich mich gewöhnt …

… Martha ist auch ziemlich schlimm, sie wird eben zu sehr verwöhnt. Aber sie bekommt ja ein Geschwisterchen, dann wird es schon anders werden …

1
Mir ist ein Brief meiner Tante an ihren Freund in die Hände gefallen. Er stammt aus dem Jahr 1968. Aus dieser Zeit kenne ich nur erzählte Geschichten über mich, nun liegt mir etwas Schriftliches vor, das eine kurze Episode aus meinen ersten Lebensjahren erzählt. Dieses Zeitdokument geht mir nahe. Ich suche in mir nach Erinnerungen, nach meiner Sicht auf die Situation an der Tür und auf dem Bett meiner Tante. Ich stelle mir vor, ich war wohl ausgeschlafen und neugierig und wollte ein Abenteuer mit meiner Tante erleben. Wie schön, dass ich (scheinbar) verwöhnt wurde. Ich bin stolz auf mich, wenigstens in diesem Alter schlimm gewesen zu sein.

2
Manchmal bin ich wütend: Wie naiv ich war! Mich so aufzusparen für einen Menschen. Mein ganzes Leben auf diesen auszurichten, während er längst seiner Wege gegangen ist.  Und jetzt meine ich manchmal, es sei zu spät, mich auf die eigenen Füße zu stellen, weil all das zu verletzend wäre – selbst für mich.

3
Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist. Das steht beim Schottentor in Wien auf einem sehr großen Kunststoffrohr, das einige Meter über dem Boden quer über den Ring in die Querstraße führt. Ist es ein Kunstwerk?

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Ich kann noch nicht schlafen. Die vielen Gäste und Veranstaltungen, die in Zukunft kommen, gehen mir durch den Kopf. Ich stehe auf. Ich mache mir eine Tasse Milch mit Honig. Wann war es das letzte Mal, dass ich so etwas getrunken habe? Es beruhigt mich. In diese Ruhe beginne ich mit der Speisenplanung: Rehmedaillons mit Eierschwammerlsauce und Nudeln. Melanzani-Auflauf mit Frühkartoffeln und Salat. Und viel Polenta.

5
Meine Aufmerksamkeit wird fast nur von Tatsachen absorbiert. Dabei möchte ich mich durch eine Welt aus Gedankengespinsten bewegen.

6
Abends im Schein einer Tranfunzel singen. Ein Kärntner Psalmenlied oder „Es führt über den Main …“

Ursprünglichkeit


1
Es ist eine Form von Freiheit, mehr zur Kenntnis zu nehmen als sich selbst. So verstehe ich meine Verbundenheit mit meinen Eltern, meinen Geschwistern, mit jenen, die vor mir waren.
2
Ich beginne wieder, mich selbst zu spüren. Mein eigenes Universum zu sein und mich selbst als Geheimnis zu leben. Mit einem Ich, das ich nicht teile. Dabei ist es eine unmögliche Aufgabe, mein eigenes Ideal zu werden. Zum einen bin ich nicht alleine dafür zuständig und zum anderen ist das gar nicht notwendig (sinnstiftend?).
Hingegen Augenblicke des Glücks zu erkennen, das Leben nicht zu verpasst, es immer wieder in eine Erzählung zu bringen, ja, dafür fühle ich mich verantwortlich.
3
Wir alle müssen unsere Körper auf den Markt stellen, schon den Kindern werden abstehende Ohren, ein schielendes Auge, schiefe Zähne weggemacht. Wir normieren schon die Jüngsten, damit sie auf dem Markt bestehen können. Aussehen und Ansehen sind Synonyme geworden.
4
Die Wahrheit liegt im Körper des anderen, seiner Anwesenheit, seiner Stimme, seinem Geruch.
5
Dass eine körperlose Macht auf die Idee kam, einen Körper zu erschaffen, ist und bleibt ein großartiger Geniestreich. Gehört bei Ganymed
6
Hor·ror Va·cui/Hórror Vácui/Substantiv, maskulin [der].
von der aristotelischen Physik ausgehende Annahme, die Natur sei überall um Auffüllung eines leeren Raumes bemüht
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Bei der Tagung: Wir haben Kulis auf unseren Sitzen liegen. Kugelschreiber ohne Werbeaufdruck. Dass es so etwas noch gibt!
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Rotzfrech das aufschreiben, was ich fühle und was mir durch den Kopf geht?

Dürnstein


1
In Dürnstein lerne ich die flotteste Kellnerin der Saison kennen. Natürlich kommt sie aus Oberösterreich. Abends ist in Dürnstein „tote Hose“ und tagsüber Anlegestelle für 1000 Kreuzfahrtschiffe. Der Donaustrand ist steinig und sehr schön, die Kulisse auch. Ich trinke Schankwein vom Biobauern Schmidl. Er schmeckt mir hervorragend. Im Klosterkeller – dem einzigen Lokal, das in der „Stadt“ (mit Blick auf die Donau) noch offen hat, kostet 1/8 Wein genauso viel wie im „Liebstöckl“, einem einfacheren Summerside-Stand, ein SEHR gutes Abendessen. Und noch dazu diese erfrischende junge Kellnerin. Sie ist 23 Jahre alt und lebt in Weißenkirchen. Dort gibt es wenigstens eine Bar – und dieses Wochenende – das Rieslingfest. Dürnstein ist wie Hallstatt ohne Nachtlokale. Das müssen alle Chinesen und Japaner der Welt gesehen haben und wer etwas auf sich hält, heiratet hier. Zum Beispiel OMV-Generaldirektoren oder Nationalratsabgeordnete der ÖVP.

2
Stierschneider ist ein geläufiger Name in der Wachau. Wie muss das für Einheimische sein, hier zu wohnen? Alle finden es schön hier, mich inbegriffen. Alle wollen hier einmal Wein trinken. Aber, wer mag schon so viele Gäste? Herr Stierschneider macht Dienst in der Vinothek in Weissenkirchen. Er kennt das Weinviertel nur als Sekt-Grundwein-Gegend. (Er ist noch jung und wird noch dazulernen.) So viel zum Selbstverständnis der Wachauer Winzer. Die Domäne Wachau betrete ich barfuß, kaufe dort eine Flasche Wein, ein paar Schokotrüffel und Pesto. Somit bin ich für den Abend am Balkon in meiner Herberge bestens gerüstet.

3
Jetzt trudeln ein paar Einheimische in der „Summer Inside“ ein. Es bilden sich ein Frauen- und ein Männertisch. Das Lokal bleibt sympathisch. Auch wenn hier die Einheimischen nicht anders sind als im Dorf daheim.

4
Ich höre Bienenfresser über mir fliegen.

5
Ich habe meine Zahnbürste zu Hause vergessen. Wie gut, dass gleich ein Spar in der Nähe ist. Und die Bushaltestelle.

6
Es ist schon ziemlich finster. Für morgen lege ich mir einen feinen Plan zurecht. Ich sitze auf dem Balkon meiner Pension und schaue auf die beleuchtete Ruine. Der große Wagen ist da. Ich bilde mir ein, es weht ein Wind von der Donau rauf. Die Luft ist angenehm warm-kühl. Und würzig. Wie der Wein. Am liebsten würde ich gar nicht schlafen gehen, um jeden Moment auszukosten.

7
Heute bedient mich ein britischer Kellner, der in den vergangenen Saisons in heißen Gegenden der Welt gejobbt hat. In der Wüste. Auf Korfu. In arabischen Ländern.

8
Ich ziehe mir aus Unachtsamkeit einen Bänderriss zu. Mir scheint, ich soll lernen, einfach dazusitzen und mit geschlossenen Augen in die Sonne zu schauen. Meine Beine machen nun schon seit längerer Zeit in unterschiedlichster Weise nicht mehr mit, wie mein Kopf es will. Jetzt ist es wirklich so weit. Ich muss schreiben. Weil ich nicht gehen kann. Wie wichtig mir das Gehen ist, sehe ich jetzt. Mit den gerissenen Bändern im Knöchel. Es ist gut, den Abbau des Körpers zu integrieren, den Fluss und die Suche nach Lebendigkeit anderswo zu suchen, als in einem funktionierenden Körper. Es ist gut, das Gehirn herauszufordern. Es ist nicht gut, in einer Traurigkeit zu verharren. Es ist gut, zu denken und etwas zu planen, an das ich glaube. Zum Beispiel?

9
Mich auf die eigene Erfahrung zu verlassen, das kann in die Irre führen, das kann den Blick auf die Welt verengen. Mich hingegen von der eigenen theoretischen und erfahrungspraktischen Verdummung freizumachen, ist Sisyphusarbeit. Denn dabei lerne ich auch gegen mich selbst. Neu zu sehen, zu hören, zu schauen, zu spüren, zu fühlen, nachzulesen, nachzudenken, zu untersuchen, was unter dem Raster liegt; das Übersehene, Überhörte, Flüchtige wahrzunehmen … all das verunsichert mich. Und das ist gut. Wer will schon immer nur das wiederkäuen, was er schon kennt. Das Unbestimmte liegt in der  Luft!

10
Gibt es so etwas wie eine Urverbundenheit aller Menschen? Eine Ur-Liebe? Wir brauchen sie, um all die Paradoxien und Ambivalenzen um uns herum aushalten zu können.

11
… um’s Leben bitten, dass es noch nicht endet …

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Der Donau ist ziemlich alles egal. Heute fließt sie dunkel. Sie duftet nach Erde. Sie imponiert mir.

 

Butter im Espresso


1
Er wird in meiner Wahrnehmung zu einem Mann, der wie alle anderen Männer ist, mit einem Leben, zu dem ich keinen Zugang habe und dessen Einzelheiten mich eines Tages zugrunde richten werden …

…durch die anderen hindurch erkenne ich dich besser. Ich kann wieder sehen, wer du warst. Unsere Absichten und Pläne decken sich nicht mehr, aber sie durchkreuzen sich immer wieder …

2
Aufgrund welcher Tatsachen liebt man seine Geschwister?

3
Etwas Butter im Espresso steigert die Leistungsfähigkeit. Das schmeckt nicht gut.

4
Die vielen Satelliten und Flugzeuge am Himmel bilden immer neue Sternbilder. Der Horizont verbindet uns.

5
Der Federspiel Grüne Veltliner schmeckt mir in der Wachau auch sehr gut. Es muss nicht immer Riesling sein.

6
Wenn meine Verletzung am Bein ausgeheilt ist, gehen wir ein Stück auf dem  Welterbeweg. Wahrscheinlich in Weissenkirchen. Oder den Achleitenweg. Oder einfach von Krems nach Dürnstein. Und dann mit dem Bus zurück. In der Verlängerung des Kuenringerbades kann man gut in der Donau schwimmen. Große Kieselsteine säumen das Flussufer. Genauso schön ist es, mit der Fähre von Dürnstein nach Rossatz zu fahren. Dort liegt Sand. Dort ist das Wasser der Donau seicht.

7
Sonne. Viel Haut.

8
Der Bus von Krems nach Spitz wird ausführlich genutzt. Er fährt einmal in der Stunde.

9
Felsen erscheinen im Abendlicht wie Trolle in der Nebelsuppe.

Gesicht

1
Wir sehen ein Frühlings-Adonisröschen. Für mich das erste Mal in meinem Leben. Große gelbe Blüte. Blätter wie beim rot blühenden Adonisröschen.

2
Sind Zärtlichkeit und Liebe wirklich so revolutionär, wie behauptet wird? Eine menschliche Ökologie, die auf die Hände und Gesichter , auf die Stimmen und Körper in ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit und Wahrheit achtet. Was wir sind, ist kostbar, mehr als alle Werke hinter Panzerglas. Wir sind empfindsam und verletzlich.

3
Ich höre im Zug ein altes Paar darüber sprechen, dass sie ihren beiden Enkelkindern zwei Puppen geschenkt haben. Die eine trägt ein Hörgerät, die andere einen Blindenstock.

4
Sie: Ich will mich nicht für jemanden ganz und gar aufgeben.

Er: Und worum geht’s es sonst in der Liebe deiner Meinung nach?

5
An ihrem Gesicht kann ich sehen, dass sie sich sattgelebt hat.

6
Ich möchte Dir nicht zu nahe kommen sondern Dir im genau richtigen Abstand in die Augen schauen, um darin die ganze Welt zu sehen.

7
Valie Export hatte die Idee, sich Speisereste ins Gesicht tätowieren zu lassen.