Mestre


1
Zum Auftakt im RJ, der uns nach Venecia St. Lucia bringt, verschütte ich einen Cappucinotogo. Einen großen. Er ergießt sich über das halbe Zugabteil. Trotzdem fährt der Zug durch Lieblingslandschaften. Meine Stimmung wird mit jedem Kilometer heiterer. Ich sehe die ersten Palmen.
2
Mestre empfängt uns mit aufgeblasenen Lippen, einem opulenten Markt, dem Geruch von Fisch und Huhn und dem Uhrturm.
Mittwoch und Freitag: Markt in Mestre. Was für eine harte Arbeit! Zweimal die Woche diese ganze Zelt- und Tischlandschaft aufzubauen! Und dann natürlich noch die Waren heranschaffen und für das Auge schön drapieren. Der Verkauf beginnt erst gegen 9 Uhr. Vorher sind alle mit Vorbereitungen beschäftigt. Wir kaufen uns einen großen Topf. Darin hat ein ganzes Hühnervolk auf einmal Platz. Karden, lila Karfiol, eine mir unbekannte Art von Herbstspargel, Mini-Zucchini und Mini-Melanzani. Spinat in allen erdenklichen Formen.
3
Heute ist Sonntag. Heute kommen sie aus ihren Wohnungen, die Hunde und ihre Herrchen und Frauchen, nebenan auf die Piazza del Ferretto. Der Grundton auf der Piazza: der Brunnen plätschert. Ja, das Flanieren auf den Piazze hat Tradition. Alle sind herausgeputzt und sind fein gekleidet. Egal welchen Alters. Mindestens ein Jackett und mindestens eine tolle Frisur. Und Brillen, Brillen, Brillen. Heuer sind hohe, schwarze Stiefel modern, die trotz der spätsommerlich warmen Temperaturen getragen werden.

Ich setze mich in die Bar Antico Stendardo. Ich beobachte einen Mann, der sich – vermutlich mit seiner Mutter – unter einen Sonnenschirm der Bar setzt, um ein paar wenige Worte zu wechseln und zu schauen. Die Einheimischen tun das mit einer unverwechselbaren Aufmerksamkeit, einer extravaganten Mischung aus Neugier, Interesse und Gelassenheit. Das kriegen wir TouristInnen nicht hin. Höchstens die Italiener. Es tut mir gut, von der Kellnerin als Seniora angesprochen zu werden. Aus dem Zelt der Zivilschutzinformation, das mitten am Platz Stellung bezogen hat, wehen Seifenblasen her.

Ein Protestzug der moldauischen Minderheit zieht singend an mir vorbei. Ein Mann hat sich Pappkartons mit Protestparolen vor und hinter den Oberkörper gehängt. Soweit ich das übersetzen kann, ist er gegen so ziemlich alles. Er steht ruhig da. Er irritiert nur mich. Alle anderen scheinen ihn zu kennen.
4
Das Hotel Venezia lebt von Spiegeltäuschungen
(- der Frühstücksraum ist mit Spiegelwänden ausgekleidet. Wahrscheinlich ist der Raum ein dunkles Loch – mit Hilfe von Spiegeln, Lichtern und Scheinarchitektur wird er zu einem hellen Raum. Der Schein kann trügen!)
und sehr zuvorkommendem Personal. Vor allem die Herren an der Rezeption machen ihrem Namen alle Ehre. Elegant zurückhaltend, freundlich kühl und verständnisvoll bei Anfragen aller Art. Die vorauseilende Antwort auf eine (noch) nicht gestellte Frage: „So kommen Sie am besten nach Venedig!“
Mit einem Ticket um 65 Euro kann man sich hier frei mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen. Am besten richte ich mein Büro auf einem Vaporetto ein. Diese Wasserbusse fahren sehr rustikal und wild durch die Gegend. Ich staune, man muss sehr gut auf den Beinen stehen, um da mithalten zu können und nicht zu wackeln oder umzufallen.
5
Das Bier wird hier natürlich auch schon wie Wein serviert. Die Flaschen sind klein und extrem aufgemotzt, aber auf schön. Heute habe ich die ersten Maroni auf dem Ofen gesehen. Schwertfisch mit Avocado und Kürbissülzchen. Meeresfrüchte. Risotto. Prosecco.
6
Das M9 erinnert mich sehr an das Kunsthaus Graz. Es ist mitten hinein in die Stadt gebaut – gut gebaut – neu in schöner Umgebung. Der Raum ist auch innen passabel. Die Ausstellung ist multimedial und für mein Hirn zu verwirrend. Der Künstler Emilo Vedova macht nur „alten“ Trash.
7
Es ist die perfekte Lösung, in Mestre zu wohnen. Venedig hält auf Dauer ja kein Mensch aus. Die ganze Welt trifft sich hier. Die ganze Welt ist auf Reisen. Ganz klar.
8
Der Wein, den wir am Abend in einer Osteria trinken, kommt vom Weinbau ORTO auf St. Erasmo. Ein extraktreicher, würziger Malvasier. Dunkelgelb. Vom Salzwasser, in dem die Rebe wächst, schmecke ich nichts – man erwartet ja, dass er salzig anmutet, er schmeckt. Einige dieser Weingärten sehen wir auf unserer Kajaktour – von Burano aus – auf der Insel Mazzorbo. Torzello … auch eine Insel. Auf ihr könnten wir über die älteste Brücke Venedigs gehen. Wir sehen Flamingos. Wie gut, dass mein Reisegefährte sie nicht mit dem Fotoapparat erwischt. So bleiben sie uns in dem Moment in Erinnerung, als sie alle zusammen – es sind wohl an die 35 weiß-rosa Vögel, die da auffliegen und in geordneter Formation Richtung Nordosten ziehen. Zwei Kormorane schließen sich an. Was für ein Glück, das alles zu sehen. Der Touristenstrom auf Burano und Torzello ist abstoßend unerschöpflich. Auf Torzello leben 8 Personen. Wahrscheinlich sind es 500 bis 1000 Menschen, die täglich auf die Insel kommen. Geld stinkt nicht.
9
Ich trage heute schwere Schultern. Das kommt daher, dass ich bei der Kajaktour die Paddel nicht mit Armen im rechten Winkel zur Paddelstange gehalten habe. Die Übung war also nicht kraftsparend – aber vielleicht trotzdem gut für meinen Körper. Ich liebe es, den ganzen Tag draußen zu sein.
10
Die Fliegen sind ganz schön frech.
11
Bis zum Lido ist es nicht weit. Es lockt die Sonne, das Glitzern auf der salzigen und klaren Adria dorthin. Beim Mittagessen in einer kleinen Osteria am Kanal servieren sie uns die besten Tagliatelli des Jahres. Das ist sicher, obwohl, das Jahr ist noch nicht zu Ende ist. Nebenan wird ein Film gedreht. In St. Nikolaus feiern wir eine kleine Andacht. Diese Kirche werde ich auch bei meinen nächsten Besuchen wieder finden. Der Garten davor – ein kleines Paradies. Die Atmosphäre in der Kirche: still und ewig. Das zweite Mal in Venedig ist schon leichter zu ertragen.
Peggy Guggenheim macht mich grantig. Schöne Kunst in öffentlichen Räumen zu sehen, das liebe ich. Bei privaten Räumen allerdings hört sich der Spaß für mich auf. Im Essel Museum, im Liaunig Museum und hier… diese privaten Stiftungen können mich mal.
12
Wo heute die letzte Gondelwerft Venedigs steht, befand sich früher der Platz der öffentlichen Denunziation (Dorso Duro/harter Knochen/Orso duro). Zeit für einen Aperol Spritz.
Letzte Vaporetto-Fahrt auf dem Canale Grande. Ein Besuch bei Tizian. Mariä Himmelfahrt. Mariä Himmelfahrt. Madonna von Pesaro. Vera und Igor Stranwinsky in San Michele begraben.
13
Schnitt.
Eine Freundin wird am Darm operiert. Ihr Leben hängt am seidenen Faden. Wie soll ich das in Verbindung bringen mit dem schönen Leben, das ich hier in Mestre genieße?
14
Wieder im Zug zurück nach Wien. Es zeigt sich eine breite Palette an Mitreisenden: Angesoffene. Eine extrovertierte Mutter, die uns zuhören lässt, was sie über die steuerliche Absetzbarkeit von Babysitting durch Verwandte zweiten Grades zu sagen hat. Ein Lehrer, der hier sein Büro aufschlägt und ohne Scheu 2 Stunden lang einen Online-Sprachkurs abhält. So benimmt sich ein richtiger Trottel. Das ist ein Wort, das ich sonst nicht benutze. Mir fällt kein besseres ein. Ich bin überhaupt nicht cool.
15
Alles in allem – Isabella Guanzini fällt mir ein. Ihr Pamphlet für die Zärtlichkeit.
16
Wir können vieles. Zum Beispiel nahtlos wechseln zwischen intimer Nähe und meilenweiter Entfernung. Wehmut ist nicht das Gebot der Stunde, sie drängt sich allerdings auf. Was sonst. Ein ausführliches Gespräch gegen die Melancholie. Trüffel-Salami-Brötchen und Sauvignon.
17
Ein Gedicht auf meinem Körper zu tragen, steht mir gut.
18
Die nächste Reise dahin wird im Winter sein, wenn sich der Nebel wie ein beruhigender Schleier über die Landschaft, über die Stadt legt. Ich habe gehört, dass Venedig im Winter seinen besonderen Charakter offenbart.
19
Mich nicht aufsparen.
Das Schöne nicht aufsparen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert