KategorieAlle Sieben am Tisch

Leichtsinn


1
„Herauszufinden, was wir lieben, was wir glauben, das lässt sich nur mit Abenteuerlust und Leichtsinn bewältigen“, sagt Pater A., nachdem er nach verrichtetem Gebet sein Stundenbuch schließt. „Für jedes Abenteuer brauchst du Vertrauen, wissen kannst du nichts. So oft wie möglich leichten Sinnes in ein Wagnis eingehen, das macht mein Leben aus.“

2
Mein Mann rudert mit mir über den See. In die untergehende Sonne hinein. Der Himmel und die Berge rundherum in wunderschöne Lichtspiele verwickelt. Eine gekühlte Flasche Wein neigt sich dem Ende zu. Wir sind zufrieden, wie mir scheint. Mein Handy läutet, ich nehme den Anruf entgegen. Bestürzende Nachrichten gesellen sich zu uns ins Boot. Nachdem ich aufgelegt habe, halte ich meine Nase in den Wind, schnuppere nach der Leichtigkeit, diese zwei Welten zusammenzudenken.

3
Seine Schwester behauptet, glücklich war er nur als junges Kind. Zu seinem Begräbnis erscheinen zwei Männer, die ich noch nie gesehen habe. Sie schauen aus, als seien sie dem Mafiamilieu direkt entsprungen. Blütenweißes Hemd, schwarzer Anzug, dunkle Sonnenbrillen. Und vor allem: eine verwegene Ausstrahlung. Diese Typen mischen die Verabschiedungsparty auf. Geben ihr einen dekadent-glamourösen Anstrich, vergolden das Fest, beweisen durch Anwesenheit: der Verblichene war nicht ausschließlich ein vom Schicksal Geschlagener; nicht sein scheinbar dumpfes Dahinsiechen während der letzten Jahre im Pflegeheim bleibt, sondern eine Ahnung von den philosophischen Trinkereien mit diesen seinen Freunden, eine Ahnung von ausführlichen Reisen an die Nordsee, eine Ahnung von seinen geistigen Ausflügen, wenn ihn der lange Arm des patriarchalen Vaters nicht erreichte, um die Phantasie in Richtung Ekstase zu lenken. Einer Ekstase, die sich implodierte, die die vergangenen 60 Jahre nie mehr nach außen drang. Wir sahen: sein Fallen während eines epileptischen Anfalls, sein hervorragendes Gedächtnis, MonChérie und Raphaelo als Geschenke zu Weihnachten, seine düsteren Ansagen bei Familienfeiern, sein langes Schweigen.

4
Ich hab‘ noch viele Wünsche…

 

 

 

Erinnerung

 

1
Ich stelle mir die Frage, was es ist, das all jene Männer verbindet, die ein Handwerk gelernt haben. Eine schwer zu definierende Ähnlichkeit zeigt sich unter den Malern, den Tischlern oder den Gärtnern, die in diesem Krankenhaus arbeiten. Da ist ein Etwas, das alle an sich haben. Ich werde jedes Mal an meinen Vater, den Maurer, erinnert, wenn ich einen von ihnen zwischen Tür und Angel treffe. Eine Mischung aus Kraft und Staub und Gemütlichkeit, körperlichem Einsatz, Geruch und Feierabend. Etwas davon ist ins Innerste eingegangen und gehört nicht nur meinem persönlichen Innersten an, sondern dem Weltinnenraum.

2
Im Urlaub sitze ich jeden Tag am See. Ich schaue auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche und auf die schaukelnden vertäuten Boote. Ich schätze die Gnade der Wiederholung und ich bin dabei, mir Unvergänglichkeit einzuheimsen. Sie rieselt dennoch durch meine Finger wie der Sand am Seestrand.

3
Wir schauen uns eine Ausstellung in einer ehemaligen Fischhalle an. Alle Bilder und Fotografien zeigen den Verfall von Dingen: Collagen mit Schnittblumen, Rosen, Tulpen, Iris, großzügig arrangiert auf einem undefinierbaren Hintergrund. Auch: Fotos von verlassenen Gebäuden, den Dachboden eines alten Fabrikgebäudes, die Schwimmhalle eines geschlossenen Hallenbades, eine geschlossene Kanzlei, den Behandlungsraum einer alten Psychiatrischen Klinik. Derart festgehalten scheint das Abgebildete dem zeitlichen Strom des Vergehens entrissen zu sein.

4
In der ersten Nacht kann ich nicht schlafen. Die Kälber des Nachbarbauern schreien, weil sie von der Mutter getrennt wurden. In der zweiten Nacht ist es schon ruhiger.

5
Gespräche am Frühstückstisch im Haus meiner Kindheit: Der Name Franz Klammer ist mir bis heute in Erinnerung geblieben, obwohl Zuschauersport mich noch nie im Leben interessiert hat. Die Namen der unzähligen Bergspitzen der Dolomiten hingegen merke ich mir bis heute nicht. Es war wohl nie wichtig, sie zu kennen. Genauso wenig wie jene der Wasserfälle auf der anderen Talseite, die selbstverständlich den Weg von oben nach unten finden. Heuer kann man Eierschwammerl mit der Sense mähen und immer liegt jemand aus der großen Sippe im Sterben. Die Mutter hört letzte Nacht die Habergeiß rufen, so wie schon unzählige Male, immer dann, wenn jemand das Zeitliche segnet. Ob es sich dabei um die Schreie eines Kauzes oder um die Gebärklage eines Rehes handelt, ist jetzt nicht wichtig. Vom Vergangenen wissen wir nicht, ob es schon vergangen ist…

Habseligkeit

dürftiger, [kümmerlicher] Besitz, der aus meist wenigen [wertlosen] Dingen besteht

1 Gerhard erzählt: Ich bin Polizist. Am Ostersonntagmorgen greife ich gemeinsam mit einem Kollegen einen bekannten kleinkriminellen Obdachlosen auf, während er am Parkplatz des großen Einkaufszentrums im Freien Würstel grillt. Wohin geht ein Obdachloser in Zeiten von Ausgangssperre, denk ich mir, sage hingegen, Das hier ist verboten, Würstel grillen um halb sieben auf einem öffentlichen Parkplatz! Ich lösche das Grillfeuer mit der vermeintlich unscheinbaren, transparenten Flüssigkeit im Tetrapack, der in unmittelbarer Nähe steht. Eine Stichflamme zischt empor. War wohl Wodka drinnen. Mein Kollege und ich bringen den Landstreicher ins Dorf an der Grenze. Er ist tschechischer Staatsbürger und wird von uns angewiesen, zu Fuß über die Grenze zu gehen. Zwei Stunden später, wieder zurück am Polizeiposten, kommt ein Anruf rein: Einbruch in einem Privathaus im (zuvor besuchten) Grenzdorf. Es fehlen zwei Flaschen Whisky und Würstchen aus dem Kühlschrank.

2 Weil Wohlstand nicht satt macht, denke ich darüber nach, was ich vermisse: Einen Kapitän, der mich blinde Passagierin mitnimmt auf seinem Frachter, den Donauweg von Wien bis Sulina.

3 Es ist mein Glück, einen Menschen zu kennen, der die Bereitschaft zeigt, auch gewöhnliche Gedanken zu teilen; jene Habseligkeiten zusammenzutragen, die jede dunkle Hütte erhellen.

4 Mein Licht ist ein Abschiedslicht, meine Form, die Dinge zu sehen, ist ein permanentes Abschiednehmen: Haben, als hätte ich nichts.