KategorieWillkommen Unbestimmtes!

Arbeit


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Auch Warten ist Arbeit.

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Erzählt mir doch eine Sekretärin, dass sie nun schon seit Wochen dazu angehalten sei, die Kästen im Büro aufzuräumen. Der Lockdown hätte nichts Besseres für sie im Talon.

Meine Freundin ist Volksschullehrerin. Sie produziert kurze Videoclips, in denen sie zu sehen ist, während sie Gedichte rezitiert, dazu tanzt, singt oder Bilder zeichnet. Manchmal verkleidet sie sich. Und spielt eine Rolle. Diese Dokumente schickt sie an ihre Schüler*innen.

Für einige ist der Kontakt zu den Arbeitskolleg*innen die intensivste Begegnung am Tag.

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Ich mache mich auf den Weg. Ich entscheide mich dafür, mich nicht irgendwohin zu quälen. Ich suche das Leichte. Das Helle. Das Licht suche ich. An einer Weggabelung steht ein Bildstock mit der Inschrift Zum Angedenken an die slowakische Dienstmagd, die hier um die Jahrhundertwende in einer bitterkalten Winternacht erfror.
Um die Erderwärmung an das aktuelle Ziel der internationalen Klimapolitik anzupassen, müssten wir 9 Stunden in der Woche arbeiten. Die helle Weite rückt immer näher!

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„Wirf mich ins Meer!“, sagt ein Seethaler
und
„Hoffentlich dreht sich die Welt bald langsamer!“

 

 

 

 

 

Rest

 

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Ich zimmere mir einen Rest von Kontrolle. Zum Beispiel verwende ich seit einigen Monaten eine Waage, obwohl ich seit 30 Jahren mit einem „Zirka“ ausgekommen bin. Meine Kaffeetasse misst zirka 180 Gramm Vollkorn und zirka 200 Gramm Zucker.
Ich kann mir sicher sein, die neue Waage misst genau. Aufregender allerdings war die Bechermesserei: Wird der Kuchen was oder wird er was anderes? Der offene Rest beflügelt.

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Wenn die Welt in Stücke zerbricht, können wir mit der Wiederverwertung beginnen, mit Feuereifer eine neue Welt konstruieren, spielen, tun. Aus Resten, die keinen vordefinierten Charakter haben, etwas machen. Dann wird Kunst wieder gefragt sein.

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Der Mann einer Freundin hat sich langsam aufgelöst. Sie und ich stehen vor seinem Sarg. Er müsste viel größer sein als menschengroß, das denk ich mir beim Anblick der Holztruhe und dem Wissen, da drinnen liegt ein geliebter Mensch.
Stellen Menschen, die Liebe füreinander empfinden, die Frage nach dem Sinn nicht mehr? Und endet wahre Liebe nie mit dem Tod? Wie soll sich meine Freundin jetzt neu verstehen? Welchen Ausdruck wird sie dafür finden, dass der andere Bedeutung hat und wie wird sie das bewahren? Diese unausweichliche Unglaublichkeit beschäftigt uns.

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Mit dem 60. Geburtstag  beginnt sie, aus dem Rest ihres Lebens etwas zu machen. In der Früh ist sie schon vor ihrer Schwester wach, sie zieht sich an und macht das Frühstück für alle beide. Eine feste Struktur gibt ihr Halt. Ihre Krankheit treibt sie regelmäßig in die Isolation, die ihr gut tut. Eine Geschichte nach der anderen für die Enkelkinder aufschreiben. Drei Zehen bewegen. Die Häkelsachen, die der Sohn vorbeibringt, in den Schoß legen.

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Tröstlich, dass zwischen zwei Unwiederbringlichkeiten viele weitere liegen. Das ist gleichbedeutend wie tröstlicher Chorgesang. https://youtu.be/ziNQ7CrUMlA

 

 

Abschied

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Bevor sie von ihrem Besuch vom Krankenhaus heimfährt, sagt sie zu ihrem schwerkranken Mann: Ich fahr‘ jetzt nach Hause, morgen komm‘ ich wieder zu Dir. Wie oft kann man sich von einem Menschen verabschieden?

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Mein Abschied von ihr erfolgte drei Jahre vor ihrem Tod bei einem Besuch in ihrem knorrigen Bauernhaus. Sie starb über eine Dauer von zwölf Jahren hinweg und ich hatte keine Kraft mehr, ihr dabei zuzusehen. Sie war mein Inbegriff einer bösen Frau, ihrer Geschichte geschuldet, ihren Genen und ihren darausfolgenden Entscheidungen. Mir steht es in keiner Weise zu, das zu sagen. Aber nur, wenn ich sie derart grob auf Distanz halte, komme ich mit der eigenen Unzulänglichkeit einigermaßen zurecht.

Als sie dann wirklich starb, zahlte mein Bruder zwölf Messen im Stephansdom. Wir besuchten diese Gottesdienste gemeinsam. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, diese Frau braucht diesen Ablasshandel, um nicht gemeinsam mit mir in der Hölle schmoren zu müssen.

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Große Platten mit Schweinebraten stehen auf dem Tisch, Flaschen mit Selbstgebranntem und Zuckerkipferl. 

Der Bruder ist tot. Der Onkel ist tot. Der Vater ist tot. Und wir sind die Nächsten. Vorerst aber leben wir noch, feiern diese Tatsache ausgelassen beim Totenmahl in liebevollem Gedenken, bis die Tränen fließen. Werden nicht müde, dem Kellner um den Hals zu fallen, die halbleeren Bierflaschen von der Bar zu schubsen, die Augen zu schließen und auf den Schultern der Sitznachbarin eine kleine Pause zu machen, zusammenzustehen, zusammenzubleiben, für immer;
und für den Moment dem Tod eine lange Nase zu zeigen.

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Zum Tagesausklang öffne ich eine Flasche Chianti. Das Etikett ist schwer zu entziffern. Der Wein riecht nach sattem Waldboden und schmeckt wie Latwerge, ein Leckwerk aus Honig und Zwetschken.

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Das alles ist auch in mir.

 

Gesang

1 Die Freundin spricht mit aufgelöster Stimme am Telefon:
Vor einer Stunde habe sie wie aus dem Nichts geweint. Über das Ableben eines Nahestehenden: Er hat die steile Kirchenchorstiege, die er sein Leben lang unzählige Male auf und ab gegangen war, ein letztes Mal erklommen, ist hinabgestürzt, hat sich schwer verletzt und ist kurz darauf an den Folgen dieses Unglücks gestorben, derweil die Schutzpatronin der Kirche, die Heilige Dorothea, geschlafen hat. Er hat als Kantor, Chorsänger, Bittgangsänger, Gstanzlsänger seine Stimme zum Klingen gebracht und – oft beschwipst vom Wein – immer seinen einzigartigen Ton getroffen, im Gesang wie im Leben.  Wird die Freundin ihren Kontrabass in Position bringen, den Bogen schwingen und auffideln?

2 Meine Gesangslehrerin kommt aus Kanada. Die Provincial Flower ihres Heimat-WohndistriktesAlberta ist die Wildrose. Seit langem lebt sie nun schon in Österreich und entdeckt auch dieserorts hie und da im Frühling die rosa Blüte.
Während der Stimmbildungseinheiten trägt die Gesangslehrerin immer wunderschöne Kleider. Das Singen mit ihr ist eine Einladung, die Welt in Bildern zu sehen, diesen Bildern ein schillerndes Gegenüber zu sein, ein reizvolles, melodienreiches Gespräch zu beginnen und damit nie wieder aufzuhören. Flatternd, blühend, fließend bewegen wir uns von Ton zu Ton.

3 Bald aber sind wir alle Gesang.