Gesang

1 Die Freundin spricht mit aufgelöster Stimme am Telefon:
Vor einer Stunde habe sie wie aus dem Nichts geweint. Über das Ableben eines Nahestehenden: Er hat die steile Kirchenchorstiege, die er sein Leben lang unzählige Male auf und ab gegangen war, ein letztes Mal erklommen, ist hinabgestürzt, hat sich schwer verletzt und ist kurz darauf an den Folgen dieses Unglücks gestorben, derweil die Schutzpatronin der Kirche, die Heilige Dorothea, geschlafen hat. Er hat als Kantor, Chorsänger, Bittgangsänger, Gstanzlsänger seine Stimme zum Klingen gebracht und – oft beschwipst vom Wein – immer seinen einzigartigen Ton getroffen, im Gesang wie im Leben.  Wird die Freundin ihren Kontrabass in Position bringen, den Bogen schwingen und auffideln?

2 Meine Gesangslehrerin kommt aus Kanada. Die Provincial Flower ihres Heimat-WohndistriktesAlberta ist die Wildrose. Seit langem lebt sie nun schon in Österreich und entdeckt auch dieserorts hie und da im Frühling die rosa Blüte.
Während der Stimmbildungseinheiten trägt die Gesangslehrerin immer wunderschöne Kleider. Das Singen mit ihr ist eine Einladung, die Welt in Bildern zu sehen, diesen Bildern ein schillerndes Gegenüber zu sein, ein reizvolles, melodienreiches Gespräch zu beginnen und damit nie wieder aufzuhören. Flatternd, blühend, fließend bewegen wir uns von Ton zu Ton.

3 Bald aber sind wir alle Gesang.

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