Rest
1
Ich zimmere mir einen Rest von Kontrolle. Zum Beispiel verwende ich seit einigen Monaten eine Waage, obwohl ich seit 30 Jahren mit einem „Zirka“ ausgekommen bin. Meine Kaffeetasse misst zirka 180 Gramm Vollkorn und zirka 200 Gramm Zucker.
Ich kann mir sicher sein, die neue Waage misst genau. Aufregender allerdings war die Bechermesserei: Wird der Kuchen was oder wird er was anderes? Der offene Rest beflügelt.
2
Wenn die Welt in Stücke zerbricht, können wir mit der Wiederverwertung beginnen, mit Feuereifer eine neue Welt konstruieren, spielen, tun. Aus Resten, die keinen vordefinierten Charakter haben, etwas machen. Dann wird Kunst wieder gefragt sein.
3
Der Mann einer Freundin hat sich langsam aufgelöst. Sie und ich stehen vor seinem Sarg. Er müsste viel größer sein als menschengroß, das denk ich mir beim Anblick der Holztruhe und dem Wissen, da drinnen liegt ein geliebter Mensch.
Stellen Menschen, die Liebe füreinander empfinden, die Frage nach dem Sinn nicht mehr? Und endet wahre Liebe nie mit dem Tod? Wie soll sich meine Freundin jetzt neu verstehen? Welchen Ausdruck wird sie dafür finden, dass der andere Bedeutung hat und wie wird sie das bewahren? Diese unausweichliche Unglaublichkeit beschäftigt uns.
4
Mit dem 60. Geburtstag beginnt sie, aus dem Rest ihres Lebens etwas zu machen. In der Früh ist sie schon vor ihrer Schwester wach, sie zieht sich an und macht das Frühstück für alle beide. Eine feste Struktur gibt ihr Halt. Ihre Krankheit treibt sie regelmäßig in die Isolation, die ihr gut tut. Eine Geschichte nach der anderen für die Enkelkinder aufschreiben. Drei Zehen bewegen. Die Häkelsachen, die der Sohn vorbeibringt, in den Schoß legen.
5
Tröstlich, dass zwischen zwei Unwiederbringlichkeiten viele weitere liegen. Das ist gleichbedeutend wie tröstlicher Chorgesang. https://youtu.be/ziNQ7CrUMlA