Abschied

1
Bevor sie von ihrem Besuch vom Krankenhaus heimfährt, sagt sie zu ihrem schwerkranken Mann: Ich fahr‘ jetzt nach Hause, morgen komm‘ ich wieder zu Dir. Wie oft kann man sich von einem Menschen verabschieden?

2
Mein Abschied von ihr erfolgte drei Jahre vor ihrem Tod bei einem Besuch in ihrem knorrigen Bauernhaus. Sie starb über eine Dauer von zwölf Jahren hinweg und ich hatte keine Kraft mehr, ihr dabei zuzusehen. Sie war mein Inbegriff einer bösen Frau, ihrer Geschichte geschuldet, ihren Genen und ihren darausfolgenden Entscheidungen. Mir steht es in keiner Weise zu, das zu sagen. Aber nur, wenn ich sie derart grob auf Distanz halte, komme ich mit der eigenen Unzulänglichkeit einigermaßen zurecht.

Als sie dann wirklich starb, zahlte mein Bruder zwölf Messen im Stephansdom. Wir besuchten diese Gottesdienste gemeinsam. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, diese Frau braucht diesen Ablasshandel, um nicht gemeinsam mit mir in der Hölle schmoren zu müssen.

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Große Platten mit Schweinebraten stehen auf dem Tisch, Flaschen mit Selbstgebranntem und Zuckerkipferl. 

Der Bruder ist tot. Der Onkel ist tot. Der Vater ist tot. Und wir sind die Nächsten. Vorerst aber leben wir noch, feiern diese Tatsache ausgelassen beim Totenmahl in liebevollem Gedenken, bis die Tränen fließen. Werden nicht müde, dem Kellner um den Hals zu fallen, die halbleeren Bierflaschen von der Bar zu schubsen, die Augen zu schließen und auf den Schultern der Sitznachbarin eine kleine Pause zu machen, zusammenzustehen, zusammenzubleiben, für immer;
und für den Moment dem Tod eine lange Nase zu zeigen.

4
Zum Tagesausklang öffne ich eine Flasche Chianti. Das Etikett ist schwer zu entziffern. Der Wein riecht nach sattem Waldboden und schmeckt wie Latwerge, ein Leckwerk aus Honig und Zwetschken.

5
Das alles ist auch in mir.

 

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