KategorieWillkommen Unbestimmtes!

Zeit

 

1
Die reine Zeit ist ohne Zufriedenheit wertlos. Das ist einer meiner Gedanken, wenn ich meine Sanduhr wende. Ein anderer ist, wenn mir nicht schade um die Zeit ist, die verrinnt, ist das unendlich. Meistens jedoch macht mir diese Uhr ein schlechtes Gewissen, weil ich verschwenderisch mit dieser kostbaren Gabe umgehe.

2
Es ist unmöglich, den eigenen Kindern zu viel Liebe entgegenzubringen. Ich bin dankbar für jedes neue Jahr, das sie erleben.

3
Letzte Devise: viel Zeit verlieren

 

 

Schwelle

1
Es ist ganz leicht mit ihr, wenn sie zu Besuch kommt, weil sie in sehr guter körperlicher und seelischer Verfassung ist. Sie kann nicht umfallen, sagt sie, sie wird immer von irgendjemandem gehalten. Sie hat das sehr gut gemacht mit ihrem Leben, warum auch immer. Ihre souveräne Art. Abgeklärt und doch versöhnt. Weltzugewandt. Großzügig mit Intuition ausgestattet und mit Neugierde. Über meine Mutter zu sprechen ist so umfassend, wie über Wasser zu sprechen. Sie ist eine Künstlerin, die nicht dazu kam, Kunst zu machen. Es gab keinen Raum und keine Zeit dafür. Sie kam dazu, Kleider zu machen, um Geld zu verdienen Sie kam dazu, sich Gedanken zu machen, um sich zu zeigen. Natürlich denkt man immer daran, er könnte der letzte gewesen sein, dieser Besuch. Aber wer kann das schon sagen.

2
Ich sollte an einem Ort bleiben, sollte arbeiten, meine Kräfte bündeln und hinter den Büchern verschwinden.

3
Der Mensch braucht gut fünfzig Gramm Eibennadeln für den Exodus, eingekocht in Paradeisersauce zum Beispiel, anstelle von Rosmarin.

 

 

 

Jetzt

1 In der Neuropsychologie sagt man, das, was das Gehirn als reine Gegenwart empfindet, umfasse ein Zeitfenster von drei Sekunden. Diese Information blendet mich so, als ob ich direkt ohne Sonnenbrille ins Licht schaue.

2
Mitten im Winter riecht es nach Akazien. Er riecht nach Körper. Die räumlichen Gelegenheiten, Sex zu haben, ergeben sich auch bei schlechtem Wetter manchmal von alleine. Kauf mir doch eine Sanduhr, sagt sie.

3
…………Freund David sagt: Das Jetzt ist nicht in der Zeit, die Zeit ist vielmehr im Jetzt. Wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern, ist sie im Jetzt, wenn die Zukunft kommt, wird sie nicht als Zukunft sondern auch als Jetzt erfahren……

……………

S. Eliot.: Alles ist immer jetzt………………

……………unversehrt………

……………………………

….Schwebezustand Konzentration………

4
Zunehmend gefällt mir das Realistische am Festhalten des Augenblicks immer weniger. Das ständige Gewahrsein der eigenen Präsenz. Diesem Bemühen, ganz da zu sein, fehlt jegliche Poesie.

5
Wie gesagt, in Venedig habe ich mir eine neue Brillenfassung gekauft. Spontan, ohne Vorbereitung. Der Sinn stand mir nach einer kräftigen Brille, die aufträgt und mich dahingehend adelt, eine dieser typischen Nonnas zu sein (expressive Aufsteckfrisur, große Ohrringe und sonst noch allerhand Geklimper um Hals und Arme). Wieder daheim angekommen, bringe ich das erworbene Schmuckstück zum Optiker meines Vertrauens. Natürlich wird er ein Glas nach meinen Sehbedürfnissen einpassen. Aber vorher müsse man diese Fassung an meinen Nasenrücken anpassen und überlegen, ob Glas oder Kunststoff mit Tönung die bessere Wahl sei; oder lieber ohne, also, so einfach sei das wiederum nicht. Wir vereinbaren einen Termin. Bei diesem würde ich auf Herz und Nieren geprüft. Denn schließlich stehe mein zukünftiges Sehvermögen auf dem Spiel. Diese eingehende Untersuchung dauert eine Stunde und 50 Minuten. Mit diesen Messungen könne er weiterarbeiten. Für einen erneuten Termin zu einer neuerlichen Anpassung kontaktiert er mich telefonisch. Diese Prüfung und anschließende Aufklärung dauern nur mehr 50 Minuten. Jetzt werden die Gläser bestellt. Kunststoff. Die können dann alles, was mein Auge nicht mehr kann: Ferne, Nähe, ausgelotete Blau- und Grüntöne, Kratzfestigkeit, … Beim nächsten Termin möchte ich sie abholen, die Brille. Doch ich liege ziemlich falsch! Etwas sei beim Einpassen des Glases kaputt gegangen und nun müsse man, … Um das Ganze abzukürzen: insgesamt hatte ich bis jetzt fünf Dates mit meinem Optiker, zwischendurch einige Telefonate. Bei einem sagt mir ein Mitarbeiter, dass mittlerweile das unvollendete Kunstwerk firmenintern zur Brille des Jahres gekürt wurde – denn normalerweise dauert ein Brillenkauf plus Anpassung höchstens 14 Tage. Wann darf ich bloß diese Wunderbrille mein Eigen nennen, um durch sie in eine neue Welt zu blicken?

 

 

 

 

 

 

Dorf

1
Ich liebe dieses milde Sterben. *

2
Ein Dorf kann dich töten. Zeig dich nicht! Such einen Schlupfwinkel.
Das Schönste an meinem Dorf ist die Nähe zu Wien. Und der Garten. Der ist nicht zu unterschätzen.

3
Im Winter ist es hier noch ruhiger als sonst. Die Decke aus Dunkelheit, Nebel, Schnee. Sie lädt mich ein, mit meinem Denken ins Freie zu gehen.

 

*Pepi Geissler zitiert Nikolaus Lenau

 

Körper

 

1
Ich bin von meinem Körper existentiell abhängig, jedoch nur selten mit ihm im Einklang.

2
Ich werde darauf aufmerksam gemacht, hinzuhören, welche Körperteile vorkommen, wenn jemand von sich erzählt.

3
Die Grundlagen unserer Kultur sind eng mit der Notwendigkeit unmittelbarer Präsenz verknüpft. Darin sehe ich den Grund dafür, dass ich nicht gerne telefoniere. Es bedarf der Anwesenheit beider beteiligter Körper, um ein Gespräch zu einer Begegnung zu machen.

4
Über Weihnachten stelle ich eine Krippe auf. Über ihr steht der Text: „Der Körper ist unser erster Ort“.
Daneben hängen eine Aktzeichnung, Fotos von mir lieben Menschen, ein paar Reiseandenken. Ein Glasengel aus Rom, ein kleines Weihwasserbecken, die Ikone der Heiligen Nino aus Georgien, ein Weihrauchgefäß aus Zypern. Ein Hostien-Kunstwerk. Ein geschlossener Keramikschrein. Ein Kreuz mit einem Christuskorpus, ein Geigenhals und ein Totenkopf. Alles handgreiflich. Alles augenscheinlich. Alles Körper.
Beim Betrachten dieser Ansammlung von Reliquien könnte man meinen, hier habe jemand seinen Hausverstand verloren.

5
Lass Dich wieder einmal anschauen!

Damit ist wohl gemeint: Komm wieder einmal zu Besuch.

Und: Lass dich erkennen, lass dich anschauen von oben bis unten.

Auch: Ich möchte dich ganz sehen.

6
„Es kann kein Mensch fühlen, wie ich fühle, wenn ich hier, eingesperrt in meinem Körper, wie ein Stück Fleisch im Bett liege“ sagt eine Patientin zu mir.

7
Sie sagt: Immer wieder sehe ich meinen Vater als Häufchen Asche. Begraben in der Urne. Nicht einmal diese Zeit bleibt mir mit ihm, mir vorzustellen, wie sein Leichnam langsam verwest.

8
Ab wann ist ein Mensch liebend?
Ab wann ist ein Mensch sterbend?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorstellungskraft


1
Was geht mir durch den Kopf?
Endlich, das schöne Wetter!

2
Wir pflanzen Bäume, die vielleicht in 50 Jahren anderen hier Schatten und Früchte schenken werden. Land, auf dem man Bäume pflanzen darf, wird eine Bleibe für mein gutes Gewissen. Ich nenne es Quitten-, Dirndl-, Speierling-, Mispelgewissen.

3
Er wohnt eine Zeit lang neben toten Kühen. Die Zähne in seinem Mund faulen. Er versteckt weder das eine noch das andere. Verwesung in und um ihn. Er sieht dabei zu, wie sich die Leiber, der eigene Leib, zersetzen. Er setzt sich den Begleiterscheinungen aus. Dem Gestank, der Anhäufung von Insekten. Dem Schmerz der langsamen Veränderung. Die Ursache hinter derartigen Ereignissen interessiert mich.

4
…in den großen Kunstwerken den Anteil des Absoluten erkennen, und was fehlt dann noch…?

 

Holpern

1
An welche Stelle dieser Welt konnte sich die Hoffnung klammern? Lass uns das Ende miteinander verbringen.

2
Jeder lebendige Schritt ist eine philosophische Entscheidung.

3
Unser Dreigespann für zwei Stunden Nachmittagschillen unterm Baum, kaffeetrinkend und frizzanteschlürfend. Das Gespräch will nicht in die Gänge kommen. Wir sind ineinander verstrickt durch unfreiwillige Nähe und begehen den schmalen Grat, nicht ins Beschämende abzugleiten. Wir überschreiten die Grenze des gute Geschmacks nur geringfügig. Höchstens zum Zwecke der Erforschung, was genau möglich ist und was nicht.

4
Er beruhigt mich mit der schlichten Aufforderung, jetzt noch ein bisschen durchzuhalten und darauf zu achten, dass nicht alle Freundschaften aufgrund unterschiedlicher Ansichten zerschellen, noch ein bisschen zu impfen und dann wieder auf Normalität umzuschwenken.

5
Ein paar wenige Tage bleiben ihm noch.  Er entschließt sich jetzt, daran zu glauben, dass seine verstorbene Frau im Jenseits in Vorbereitung auf seine baldige Ankunft einen Schweinsbraten ins Rohr schiebt, sein bester Freund den Wein kühl stellt und seine Eltern den Tisch bereits gedeckt haben.

 

Seele Suppe

1
Da bildete sie den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase Lebensatem. So wurde der Mensch eine lebendige Seele. Genesis 2,7.

2
In der Seele ist ein Wurm. Ein Tief jagt das andere.

3
Ich möchte mich jetzt um Police, Sting und Nina Hagen und um Beethoven und die Strottern kümmern und darum, dass meine Stimmbänder wieder in Übung geraten. Bei Einbruch der Dunkelheit möchte ich mich in eine Decke einwickeln und die ganze Nacht lang unter freiem Himmel sitzen und zuhören.

4
Deine Erzählung von Deiner Einsamkeit berührt mich peinlich. Wie du mich flehentlich darum bittest, dich jetzt nicht alleine zu lassen. Ich möge dir doch Hühnersuppe kochen und damit beginnen, dir einen Seidenschal fürs Herz zu stricken.

5
Sie versteht es, kein Wort zu viel zu schreiben. Über die Liebe zum Beispiel. Über das Gespräch mit ihrem Exmann nach dem Sex. Dass es da sehr innig zugeht. Beim Reden. (Kein Buchstabe zu viel.)

6
Es herrscht gute Stimmung daheim. Das Wissen, dass im Nebenraum ein Mensch ist, den ich jederzeit rufen kann, und eine Antwort bekomme. Der Austausch am Abend, was tagsüber geschah. Das Fragen, woran wir gerade arbeiten, was wir lesen, welche Menschen wir treffen.

7
Ich könnte heulen darüber, wie schnell die Zeit vergeht.

Schmerz

1
Ein ununterbrochener Schlaf in der Nacht ist nur mit Zuhilfenahme von Schlafmitteln möglich. Dafür gibt es keine Alternative. Woran denkt er tagsüber, um nicht an das Weh denken zu müssen? Das eine ist die Somatik. Das andere die Psyche. Ein erfolgreiches Team. Er steht vor einer Wand.

2
Der Krankenpfleger ist dafür verantwortlich, dass immer genügend schwarze Plastiksäcke auf der Covid-Station bereitstehen. Da hinein werden die Verstorbenen gelegt. Obendrauf eine Blume zu legen, verdeutlicht die ausweglose Situation. Heute, beim Bestellen einer neuen Lieferung, kommen ihm die Tränen.

3
Der Künstler entdeckt unerwartet eines seiner Kunstwerke auf dem Krankenhausgang. Er stellt sich davor, versinkt in eine Betrachtung und fragt sich wehmütig, wie er dieses Bild jemals verkaufen konnte.

4
Jede Intensität schmerzt.
Ich ziehe die Liebe der Selbstausbeutung vor.
Ich ziehe die Kunst der Behaglichkeit vor.
Ich ziehe die Langsamkeit dem starren Stillstand vor.
Ich ziehe den Genuss der Gesundheit vor.
Ich ziehe die Verwandlung dem Überleben vor.
Eine schmerzende Wunde ist eine Öffnung.

Welche Wahrheit zeigt Schmerz? Es ist wie mit der berühmten Leerstelle zwischen zwei Worten.

5
Selbst wenn er einen Großteil meiner Aufmerksamkeit bindet, erlaubt er mir gleichzeitig darüber nachzudenken, wie ich in Zukunft ein gutes Brot backen könnte oder ob der Bärlauch schon aus dem Boden schießt.

 

 

Vernunft

1
Lena fragt, ob ich es für vernünftig halte, dass sie in nahezu jedes Gespräch fällt, das sie führt. Ohne Bekümmernis.Sei es mit der Kassiererin im Supermarkt oder mit dem Schwerbetagten am  Krankenbett. Das koste sie allerdings mehr Energie, als ihr zur Verfügung stehe.

2
Der Blick ins leere Klassenzimmer – die Lehrperson allein am Pult, vorm PC. Jede*r Schüler*in ist nicht mehr als eine Kachel im Onlinemeeting. Was die Gesellschaft alles dafür tut, dass es auf den Intensivstationen nicht zu einem Kollaps kommt! Man merkt es an den erhobenen Häuptern des Intensivpersonals.

3
Der Goaschnig Sepp hält es nicht aus, wenn Holzreisige oder Holzzweige über Kreuz auf dem Waldboden herumliegen. Immer richtet er sie gerade und fordert auch andere dazu auf, es ihm gleichzutun. „Das bringt Unglück. Oder mindestens einen Toten mehr!“, so seine Begründung.
Im Radio hör ich den Philosophen darüber sprechen, ob eine völlig versachlichte Welt ohne Glauben und Geheimnis, ohne Alltagsmythen und Irrationalität wirklich so lebenswert sei. Die beiden könnten Freunde werden.

4
Auf die Natur Rücksicht nehmen, das ist eine neue Erfahrung!

5
Ich kenn da jemanden,
der in der Stadt am Meer
das eigene Logo auf den Betonzaun an der Uferpromenade malt –  direkt unter der Webcam –, um in Zeiten der Ferne, daheim über Internet zu überprüfen, ob das Logo noch da ist.