KategorieLicht am Stelldichein

Schockverliebt


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Wer außer den wirklich Betroffenen versteht denn schon die Lebensgemeinschaft zweier Menschen?
Wir – sofern wir nicht schon getrennt leben – haben uns auseinanderentwickelt, auch wenn wir ein gutes Team sind. Das scheint normal zu sein. In unserem Alter. Das gemeinsame Essen genießen wir trotzdem.

2
Sie findet bei Amazon ein Gerät für Umarmungen. Wenn man genau diese Worte ins Internet eingibt, wird das vorgeschlagen. Sie bestellt es über den Amazon-Account ihres Mannes. Kaufen ist in vielerlei Hinsicht eine krückenhafte Ersatzhandlung für nicht eingelösten körperlichen Ausdruck von Zuneigung: Schöne Kleidungsstücke die ganz genau zu ihr und an ihr passen, liegen dann auf ihrer bedürftigen Haut. Die berühmte Therapeutin Virginia Satir sagte, dass wir am Tag vier Umarmungen zum Überleben, acht für Wohlbefinden und zwölf für Wachstum brauchen.

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Sie können über all das nicht offen reden. Obwohl sie im selben Zimmer sitzen, kommunizieren sie über die WhatsApp.

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Was bedeutet „aktive“ Trauer?

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Wir telefonieren ein bisschen und verbleiben in inniger Distanz.

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Ich schlafe sehr schlecht, weil mich ein lang anhaltender Kopfweh und eine Nackenverspannung peinigen. Ich mache mir wieder einmal Sorgen, welche Krankheit das schon wieder ist, welches Insekt mir welches Nervengift schon wieder gespritzt hat … Am liebsten würde ich zu ihm ins Bett kriechen, unterlasse es aber, um ihn nicht auch noch zu wecken.

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Wir sind ein miteinander alt werdendes Paar, wir versuchen ein bisschen weniger miteinander zu kämpfen.

8
Phoebe Violet gibt alles her. Ihr beim Singen zuzuhören und zuzuschauen ist uns allen ein Vergnügen. Ich lasse alles laufen. Auch das Hören. Phoebe singt vor allem von der Liebe. Wir verstehen den Text nicht. Wir verstehen, was sie sagen will.

9
Jetzt, nachdem unsere Schockverliebtheit vorbei ist, können wir uns ernüchtert anderen Dingen zuwenden.

Zurückwatscheln


1
Laut dem Männerforscher Romeo Bissuti haben sich die Männerbilder nicht deshalb verändert, weil Männer plötzlich miteinander geredet und festgestellt haben, dass auch sie unter Männlichkeitsnormen leiden. Männlichkeit hat sich verändert, weil sich die Frauen verändert haben und die Männer mitbekommen haben, dass sie mit der Macho-Nummer nicht mehr bei Frauen landen.

Wir schaffen es allerdings locker, das Blatt wieder zu wenden und ins vorige Jahrtausend zurückzuwatscheln.
2
In einer Fernsehschnulze höre ich vier Sätze, die eine Mutter ihrer Tochter zur Entdeckung der „wahren Liebe“ mitgibt.
„Frag dich,
ob du ihm alles erzählen kannst,
ob er Herzenswärme besitzt,
ob er dir dabei hilft, zu dir selbst zu finden
und ob er der Vater deiner Kinder sein soll.“
3
Eines der schönsten Dinge als Paar: als Paar zu wachsen!
4
Wir erwecken Sehnsucht und Verlangen bei jenen, die uns sehen.
5
Ich bin verwirrt.

Haushalten

1
Ich werde meinem Mann von meiner Reise ein Haushaltsgerätmitbringen. Kurz vor meiner Abreise antwortete er auf meine Frage, ob wir ein gemeinsames Hobby hätten: „Ja, den Haushalt“.

2
Mein Alltag ist viel zu viel Verschiedenes. Das erschöpft mich, macht mir Verspannungen im Nacken und im Kopf.

3
Ihre Bilder, die sie im Kopf trägt – Prinzessinnenvorstellungen vom Leben, vom geplanten Schönen, von einer perfekten und heilen Welt – sie machen ihr Angst.

4
Er mag das Abenteuer. Er mag es, glücklich zu sein. Dieses Jahr macht er nur das Nötigste im Garten, weil er zu wenig Zeit zum Gießen haben wird. Vielleicht steckt er Zwiebeln. Wenn er wandert und zeltet, trägt er höchstens einen 9 kg schweren Rucksack auf dem Rücken. Wenn er ihm zu schwer wird, denkt er an all jene, die Tag für Tag Lasten schleppen, am Bau, im Lager, in der Gastro, im Gesundheitswesen, … Gesundheit, das wünscht er für uns alle. Wir trinken spanischen Sekt, stoßen auf seine Pensionierung an und bleiben bis 1 Uhr nachts zusammen.

5
Wir sollten Respekt voreinander haben.

Mehr Bologna, Martha!


1
Ideen für die Reise:
Tröstlich wohnen. Die alten Plätze besuchen. Morandi besuchen. Zeitgenössische Museen besuchen. Natürlich essen und trinken. Einen Tagesausflug nach Florenz machen. Über Mestre und Venedig wieder nach Hause fahren.

2
Viele Kleinigkeiten
daheim lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Das nennt man wohl Reisefieber. Ich verzettle mich mit Reiseführern und dem Kofferpacken und der Idee, die Vorbereitungsphase doch zu genießen. Der Wetterbericht sagt für das Reiseziel Regen voraus. Bologna ist dafür die geeignetste Stadt. Die Laubengänge von Bologna entstanden fast spontan, wahrscheinlich im frühen Mittelalter, als Vorsprünge privater Gebäude auf öffentlichem Grund errichtet, um den Wohnraum zu vergrößern. Wir werden trockenen Fußes vorankommen. Mein Sohn, der die Stadt von einer Reise vor einiger Zeit kennt, schwärmt bei der Verabschiedung vom Platz am höchsten, schiefen Turm und vom Essen und den Märkten …

3
Mein Reisegefährte hat Kunstkarten vorbereitet,
die wir als „Spuren“ hinterlassen können.
Worüber denken sie gerade nach? A che cosa sta pesando in questo momento?
Worin besteht ihr Schmerz? Qual e in tuo dolore?
Ich schreibe hier nicht über den Schmerz. Ich wende mich der Veränderung zu.

Welche Geschichten werden wir einander später erzählen?

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Der frühe Reisemorgen ist aufregend. Die Schnürsenkel meiner Schuhe sind fest ineinander verknotet. Ich arbeite mit zwei spitzen Gabeln, um sie aufzulösen. Der Kaffee schmeckt mir heute nicht. Qualitytime liegt wie ein unbeschriebenes Blatt vor mir

5
Seit ich fliege,
sind die Sicherheitskontrollstellen zum ersten Mal mit freundlichem Personal besetzt. So geht alles viel leichter. Wir haben Zeit am Flughafen, noch (k)ein Ottakringer und einen Kaffee zu trinken – der Flug vergeht rasch und am Ankunftsflughafen wartet der erste italienische Kaffee auf uns. Jetzt schmeckt er. Busfahren, die ersten Eindrücke der Stadt. Die Unterkunft lässt einen Blick auf eine Straßenkreuzung, den ich sofort liebgewinne. Dieser Blick wird mir in sehr guter Erinnerung bleiben, das weiß ich jetzt schon.

6
Bologna, die Rote und Bologna, die Fette,
das sieht man bereits am ersten Tag. Unglaublich gutes Essen – leider kann man nicht so viel davon nehmen, wie man gerne möchte. Wir essen sehr spät zu Mittag. Einfach, am Markt. Mit den besten Fischzutaten, direkt vom Fischhändler nebenan. Ribola Chialla und Friulano dazu. Die Stadt ist nicht zu vergleichen mit Venedig, dort weist uns ja der Tourismus in die Schranken. Hier in Bologna kann man auch leben.

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Torre del Orologio, Piazza Maggiore, Basilika San Petronio, Gewürzmarkt.
Für mich im Mittelpunkt: das Uhrwerk und ein Fensterbrett als Sonnenuhr. Tauben. Eine Abendsonne und fahles Licht. Der Aufstieg auf den Uhrturm, um über die Stadt zu blicken, ist leicht und schön steil. Von oben wirkt die Stadt kompakt, massiv, die Häuser im Stadtkern sind mit roten Ziegeln gedeckt. Der erste Eindruck übertrifft meine Erwartungen. Das hat einen beglückenden Effekt. Vom Uhrturm aus sehen wir sogar das Stadion und eine Figur, die hoch oben in den Lüften schwebt – wahrscheinlich ein Engel. Er kommt mir surreal vor, so mitten im Himmel platziert, ohne erkennbaren Zweck, außer der Schönheit zu dienen. Wir haben Glück, die Sonne kommt raus. Ich bin jetzt schon müde, aber vielleicht trinken wir doch noch ein Glas Wein … nicht nur Tee. Am Ende des Tages sind wir an die 12 Kilometer weit gegangen.

8
Im Theatro Anatomica fühle ich mich vorerst wohl.
Ein ganz mit Holz ausgekleideter Raum schafft Geborgenheit. Die Holzstufen im Saal sind abgenutzt, und ich stelle mir eine Leiche vor, wie sie da in der Mitte auf dem Seziertisch liegt, zur Schau gestellt, umringt von Männern, die etwas sehen wollen, etwas lernen wollen oder es treibt sie noch etwas ganz anderes an, diesem Schauspiel beizuwohnen. Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre es mir als Frau nicht möglich gewesen, hier drinnen zu sitzen. Ich stelle mir hier eine Supervisionssitzung im großen Stil vor, ein Treffen von Menschen, die sich für die Psyche des Menschen interessieren, von dem mir eine Freundin immer wieder erzählt. Ein ständiges Kommen und Gehen und Mitreden, ohne das Gesagte zu bewerten. Ich höre den Regen aufs Dach trommeln. In Florenz ist Hochwasser, südlich von Bologna auch. In einem nächsten Raum fällt mein Blick durch eine vergitterte Tür in einen elendslangen Gang der Bibliothek.

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Am Abend tummeln sich viele Menschen
vor und in den Gassenlokalen. Obwohl es regnet. Wir gehen trockenen Fußes durch die Laubengänge zurück in unser Quartier. Vorher trinken wir richtig gut in der Osteria del Sole. Hier ist es üblich, das Essen selbst mitzubringen und nur die Getränke in Selbstbedienung zu holen. Die Bude ist gedroschen voll. Nachdem wir das System durchschaut haben, besorgen wir uns in der Fleischhauerei und beim Bäcker nebenan eine Kleinigkeit zu essen und tun bei diesem bunten Treiben mit. Mir fällt ein, dass die Wiener Heurigenlokale in ihrer Ursprünglichkeit auch so organisiert waren. Zum Rauchen geht man vor die Tür. Dort ist der Platz sehr knapp und so stehen alle Raucher in der Tür. Chi non bene fuori … steht auf einem Schild an der Tür – wir befinden uns also in einem Lokal für die Nicht-Wohlhabenden.

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Ein Brandteigkrapferl
mit einem knochentrockenen Prosecco im besten Sinne genießen wir im Cafe Gamberini. Die Vitrine mit den süßen und pikanten Bäckereien ist eine Augenweide. Ich denke laut nach und frage mich, was mit den appetitlich angerichteten Häppchen nach Dienstschluss geschieht? So etwas kann man doch nicht wegschmeißen. Aber haltbar ist das Ganze auch nicht … Zwei Tage später bekomme ich durch Zufall die Antwort geliefert: In der letzten Stunde vor Dienstschluss werden die nicht verkauften kleinen Köstlichkeiten auf 4 großen Etageren und 7 Tabletts an der Theke angeboten (Minibrötchen, Chicettis, Pastetchen, Balls, Frittiertes, …) und jeder Gast darf sich davon nehmen. Wieder ein „System“, das mir sehr imponiert.  Wie einige andere Touristinnen bin ich von diesem Angebot freudig überrascht. Andere wissen davon: Neben mir setzt sich kurz vor der Sperrstunde eine feine Lady in hochbetagtem Alter, bestellt sich ein Glas Prosecco, nimmt sich ausführlich von den Appetizern, trinkt noch ein Glas Prosecco und geht dann wieder, nachdem sie ein ordentliches Trinkgeld hinterlassen hat. Passend zum Ambiente hat sie sich fein herausgeputzt: gefärbte Fingernägel, gefärbte Lippen, Schmuck an Fingern, Ohren und um den Hals.
Ich hingegen überlege mir, ob es Sinn macht, für irgendein Fest solche Etageren zu töpfern? Ganz schlicht in der Ausführung, damit die Speisen wirken können? Aber, wer bereitet dann bloß die ganzen Köstlichkeiten vor? Ich bin begeistert, auch wenn der Anblick der Bar im Vergleich zu den Obdachlosen draußen auf der Straße sehr dekadent ist. Es regnet.

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Das Beste kommt noch: das Museo Morandi.
Ein bildender Künstler, der mich an Christine Lavant erinnert, nachdem ich etwas über ihn erfahren und vor allem seine Bilder im Original gesehen habe. Sehr zurückgezogen machte er unbeirrt sein Ding. Stillleben bis hin zur Abstraktion, ohne laut zu werden. Zurückhaltend und haltend. Man kann sich darin verlieren und wird doch getragen von ihm, von dem Leben, das er geführt haben mag, das sehr asketisch schien… Es ist auch ein Glück, seine Bilder im Original zu sehen. Seine Krüge und Dosen. Die zarten Pastellfarben. Grafik und Malerei. Frühe und späte Werke. Ein Himmel. Eine Stromleitung, die ihn teilt. Ein Haus.
Das Museum befindet sich in einer verlassenen städtischen Bäckerei, dem forno del pane di Bologna. In einem Raum des Museums läuft ein Film über die Teppichherstellung in dieser Gegend in früheren Zeiten. Auch er zieht mich in seinen Bann. Eine Künstlerin hat ihn in Schwarzweiß mit ihrer Mutter als Hauptfigur gedreht. Er zeigt diese Frau bei verschiedenen halbmechanischen Tätigkeiten an großen Maschinen. Ständig flimmert eine leichte Staubschicht durch den Film. Die Mutter hat lange, lackierte Fingernägel und bewegt sich dennoch mutig zwischen Maschinen und Wolle.
Wir kaufen einen Morandi-Katalog. Ein darin abgebildetes Foto zeigt einen langen Trauerzug durch die Via Sant Alo, die Straße, an deren Ende die beiden Türme stehen. Das Foto ist ein beeindruckendes Zeugnis von Morandis Beliebtheit in der Heimatstadt.

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Wir essen frisches Brot vom Markt,
frische Salami vom Markt. Ein gekochtes Ei. Wir reden über Morandi. Und seine Einfachheit, seine Suche nach Einfachheit. In der Stadt fand er diese Schlichtheit wohl nicht, sie ist üppig und stark und reich an Ornamenten. Es macht Freude, zuzuschauen, wie in den Auslagen Nudeln per Hand hergestellt werden, es macht Freude, die vielen verführerischen Brötchen, Speisen to go und Süßigkeiten anzuschauen. Es scheint so, dass man es sich in Bologna nicht erlaubt, etwas nicht Gutes aus der Hand zu geben. Dahinter steckt viel eintönige Kleinarbeit.

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Bologna, die Gelehrte. Wir freuen uns über die vielen Lorbeerkränze und die noch schöneren Blumensträuße, die die frisch gebackenen DoktorandInnen bekommen haben und nun stolz in Händen tragen. Sie sind in der Stadt unterwegs, um mit ihren Familien zu feiern. Der schönste Strauß ist der mit Artischocken, Spargel, Radicchio und Lorbeer. Die junge Frau, die ihn bekommt, ist außergewöhnlich gekleidet. Obwohl sie mindestens 180 cm groß ist, trägt sie Clogsschlapfen mit sehr hohen Absätzen.

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Schade, dass mein Tablet nicht sehen kann! Wir sitzen vor den beiden schiefen Türmen, Le dui Torre, in der Via Rizzoli zwischen den Arkaden und ich versuche, diesen Eindruck festzuhalten. Die Türme reißen meinen Blick immer wieder nach oben. Mitten in der kleinen Fußgängerzone hat ein Künstler eine Poesiebox installiert. Ich nehme ein Gedicht heraus. Es ist auf ein weißes Blatt geschrieben, zusammengerollt, mit einem kurzen roten Band zusammengebunden. Der Künstler heißt Antonio Melis:

Nell’aria sobria
di pensieri non pensati…
Medito un mondo, liberarsi nella sua natura semplice…
improvvisa…
gli oceani salgono
la superficie del mondo
abbandonato da tiranni e sudditi
il divino ha il potere di far morire e rinascere le anime in pena,
su questa terra…
vedo un dipinto di arcobaleno riflettere le vite risorte degli
uomini
in virtù del coraggio…

In der nüchternen Luft
Von ungedachten Gedanken…
Ich meditiere eine Welt,
befreie mich in ihrer einfachen Natur …
Plötzlich…
Die Ozeane steigen
Die Oberfläche der Welt
Verlassen von Tyrannen und Untertanen
Das Göttliche hat die Macht, Seelen in Trauer sterben und wiedergeboren zu lassen,
Auf dieser Erde…
Ich sehe ein Regenbogengemälde, das das auferstehene Leben der
Männer
Aufgrund von Mut…

Der Künstler kommt auf uns zu, spricht uns an, fragt, wo wir herkommen, erwähnt, dass er heute schon mit Leuten aus Österreich gesprochen hat. Heute sind viele Menschen unterwegs. Vielleicht bleiben sie auf dem Weg nach Florenz hier hängen, weil es wegen des Hochwassers nicht ratsam ist, dorthin zu fahren?

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Klamotten sind hier wichtig.
So wie fast überall in Italien. Heuer trägt man weite Hosen – ich kenne sie von New York im Vorjahr: da gab es auffallend viele weite Jeans zu sehen. Wir sehen jede Menge junger Frauen mit einem Hang zum Tussihaften.
Ich sehe eine Frau, sie trägt ein langes T-Shirt, ein kurzes Leiberl drüber und ein warmes Kleid ohne Ärmel, und dann noch einen ärmellosen Mantel. Alles in dezenten Farben.
Eine andere Frau trägt ein buntes, kurzärmeliges Kleid, darunter ein langärmeliges Shirt, eine gestrickte Kette, eine sehr bunte Tasche. Ich sehe eine sehr, sehr weite Hose. Das alles gefällt mir.

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Rot, orange, braun, ziegelfarben. So würde ich die Stadt in Farbe beschreiben. Ein Kontrast dazu: Eine Bettlerin. Ihr Gesicht ist weiß geschminkt, sie trägt weiße Kleidung und sieht aus wie eine Bäckersfrau. Sie spricht kein Wort, macht einen pantomimischen Gruß und hält dann die offene Hand hin, um Almosen zu empfangen.
Es gibt auffallend viele Büchereien in dieser Stadt und auch einige Männer mit Hut. Die Arkaden lassen alle Menschen mit der gleichen Würde durch die Straßen gehen. Man hat ein erhabenes Gefühl, wenn man durch diese Gänge geht, die sich manchmal über zwei Stockwerke erstrecken. Die nach oben strebenden Bögen und Säulen lenken, genauso wie die Türme, den Blick nach oben. Unter den Arkaden ist es kälter als draußen auf der Straße, das sollte man bedenken, wenn man sich einen Platz zum Sitzen und Verweilen sucht.

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In einer kleinen Kapelle
treffe ich auf eine Nonne, die sich in heller Aufregung mit einem (vermutlich) Obdachlosen unterhält. Es sieht so aus, als hätte er hier übernachtet, zumindest riecht es danach. Wie und ob sie ihn überzeugen kann, diesen warmen Ort zu verlassen, erfahre ich nicht mehr, es zieht mich weiter.

Über der Kirche des Heiligen Franziskus hat sich ein Regenbogen gebildet. Auf dem Platz davor spielen Kinder Fußball, trotz des leichten Regens. Ich koste vom Eis, das hier besonders professionell angeboten wird. Den Hinweis auf diesen Laden, mit dem besten Eis der Stadt, habe ich in von einem deutschen Podcaster gehört. Vermutlich lügt er nicht.

In der Kirche des Heiligen Bartholomä, gleich neben dem höchsten Turm, beim heiligen Josef, zünden wir zwei Kerzen für uns an. Diese Kirche war bisher die schönste. Weil sie im Inneren dunkel ist und das Gold dann besser wirkt. Alle Kirchen – und derer gibt es viele – sind sehr groß und relativ ruhig eingerichtet. Die Stile sind zum Teil sehr gemischt – eh klar – vom Romanischen bis in den Barock.

Die Basilika San Petronio mit ihrer aufwendigen Backsteinfassade schmückt den Hauptplatz Sich an einem Brunnen zu verabreden ist sehr poetisch, poetischer, als zu sagen, wir treffen uns in der Straße XY/ Ecke Soundso.

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In unmittelbarer Nähe des Neptunbrunnens
sehe ich einige Menschen, die ihr Ohr an das Gewölbe legen. Ich spreche eine Frau daraufhin an und erfahre, dass es sich um ein besonderes Klangspiel handelt, das die Stimme wie ein schnurloses Telefon von einer Ecke in die andere leitet. Später lese ich nach, dass Mayors Vault zu einem der sieben Geheimnisse Bologna zählt.

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Wir bleiben bis zur Sperrstunde in der Osteria del Sole:
Der Oberkellner läuft mit einem selbstgebastelten Schild herum, auf dem ein Kondom klebt, darunter steht: Sperrstunde! Ora di chiusura! Geht ficken!

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Sonntagsausflug nach Florenz.
Das klingt gut! Unsere Anreise mit dem Zug klappt sehr gut – sowohl hin als auch zurück. Hin brauchen wir knapp 35 Minuten – der Zug fährt ein paar Kilometer mit 300 km/h! – Zurück fahren wir mit dem Regionalzug ca. 1 1/2 Stunden.

Santa Maria del Fiore,  Ponte Vecchio (älteste Brücke Europas), Brunelleschi-Kuppel, das Babtisterium St. Giovanni mit dem Goldenen Tor – geschaffen von Lorenzo Ghiberti – alttestamentarische Szenen an der Ostseite, Uffizien, Pallazo Veggio, …  an all diesen Sehenswürdigkeiten schlendern wir vorbei. Um hineinzukommen, müsste man für manche Räume Wochen vorher einen „Timeslot“ buchen. Florenz ist ein Museum.

In einem Café vor dem Dogenpalast lassen wir die Stadt auf uns wirken. Mit dem Einsermenü: Bier, Grappa, Espresso.

Wir verbringen auch hier viel Zeit auf dem Markt. Mit drei wunderbaren Brötchen. Ich soll die jeweils 4 Köche beschreiben, die mit Professionalität und Leichtigkeit, Freude und Stolz zeigen. Sie bereiten die angebotenen Speisen in der Schauküche zu. Die Köche schauen zum Anbeißen aus.

Florenz protzt. Diese machtgierigen Dogen und Päpste vergangener Tage kann ich mir nicht wegdenken. Sie verstellen die Künstler, obwohl von denen natürlich mehr bleibt als von den Machthabern, und von den Frauen ist hier gar nichts zu sehen. Eine neuere Figur steht vor den Uffizien, eine riesengroße Bronzefigur einer Frau aus diesem Jahrtausend, die ein Handy in Händen hält. Naja….kommt nicht durch, aber immerhin.

Bologna ist mehr meine Stadt (entschuldige, Florenz, natürlich habe ich dich und deinen geistigen Reichtum nicht erfassen können … ). Auf dem Heimweg vom Bahnhof fällt auf, dass trotz der vielen Straßenlokale das meiste Essen wohl vom Lieferservice gebracht wird. Sogar von MacDonalds wird geliefert.

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Ich schaue mir den preisgekrönten Film No Other Land in einem Kino in der Innenstadt an. In Originalsprache (hebräisch, arabisch) mit italienischen Untertiteln. Ich langweile mich keine Sekunde lang, obwohl ich die Worte nicht verstehe. Ein Dokumentarfilm, der im Westjordanland spielt. Man muss ihn, obwohl er mich fasziniert hat, nicht gesehen haben, er zeigt die Sinnlosigkeit dieses Landes. Aber, wo geht es schon sinnvoll zu? In Amerika? Nach so einem Film kann man nur Nestroy zitieren. „Mein einziger Trost ist die Verzweiflung“.

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Es gibt kein Meer in Bologna,
ich kann keine Muscheln am Strand sammeln.

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Vor der Abreise kaufen wir a
m frühen Morgen auf dem Markt ein. Artischocken. Radicchio. Spargel, Käse. Zitronen, Salami. Das sind meine Mitbringsel. Sogar wilden Brokkoli nehme mit, die wilden Mohnblätter lasse ich liegen. Alles sieht ähnlich aus wie in Galipoli im Jänner – allerdings ist hier alles „schöner“ fürs Auge hergerichtet. Es gibt unglaublich viel Fisch und Meerestiere zu sehen und es ist mir ein Vergnügen, meinen Reisegefährten über Fisch reden zu hören! Die Unterscheidung zwischen Orangen zum Essen und Orangen zum Auspressen schmeckt man. Ich teste es. Tatsächlich kaufe ich sehr viel gutes, frisches Zeugs. Es erfüllt mich mit Freude, dass ich Gemüse mit nach Hause nehmen, das ich später dann die Reise einkochen kann. Das alles wird uns daheim noch wochenlang erfreuen.

24
Es ist gut, dass noch etwas offen bleibt
… Hinter dem Bahnhof liegt die monumentale Church of de Secret Heart Of Jesus. Ich esse noch einmal Tagliatelle Bolognese und wir trinken einen Grappa in einer Spelunke. Gut schmeckt es!

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Mit der Trenitalia zu
fahren, das ist richtig komfortabel. Von Bologna über Ferrara, Padua, … nach Mestre. Kurz hinter Ferrara überqueren wir den Fluss Po. Die flachen Felder sind vom Regen durchtränkt, selbst die kleinen Kanäle voller Wasser. Hier wird bereits Spargel gestochen. Zu Hause werde ich Bärlauch pflücken. Bärlauchnudeln kochen, Bärlauchschnitzel, Bärlauchcremesuppe.

Bei Padua denke ich automatisch an den heilige Antonius, der für die verlorenen Dinge steht, der uns hilft, das Verlorene wieder zu finden. Und ich denke an Bodo Hell. Er hat ihn oft in seinen Texten erwähnt und ist nun selbst verloren gegangen. Es klingt wie Musik in meinen Ohren, wenn die Chris Lohner der Italienischen Bahn ansagt: Venezia Santa Lucia!

Die vergangenen Tage zieht gleichzeitig mit der norditalienischen Landschaft am Fenster vorbei. Ein Industriegebiet vor Pordenone, ein ungepflegter, riesiger Weingarten mit Weingartenhütte. Viel Müll und Traktorspuren zwischen den Zeilen. Der Boden bei den Weinstöcken ist aufgebrochen, er ist steinig, die Erde  dunkelbraun. Dazwischen weiden ein paar Kühe.

Wir überqueren den Piave, den breiten, türkisfarbenen Fluss. Nach den vergangenen Regentagen ist das Flussbett gut gefüllt. Der Zug trägt uns. Ich drücke meiner Tochter die Daumen für einen Vitiforst-Vortrag, den sie heute hält.

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Im M9
in Mestre zeigen sie eine Ausstellung über „gerettete Kunst“/Arte Salvata. Das Museum hat sich mit dieser Ausstellung richtig herausgeputzt, wir sehen Bilder, die vor dem Anschlag 1944 in Le Havre aus dem Museum für Moderne Kunst gerettet wurden. Mein Reisegefährte ist vor allem von den beiden Monetbildern begeistert: eine Ansicht aus der Serie über das Londoner Parlament und ein Landschaftsbild mit Sonne, Busch und Wiese. Monet konnte besonders gut mit Farben umgehen, meint er. Blickfang des Ausstellungsplakats ist ein Mädchenporträt von Renoir. Eines meiner Lieblingsbilder ist von Pierre Bonnard. Auf ihm scheint alles verrückt zu sein: ein Tisch, darauf zwei Tischdecken und ein Tablett mit ein paar leeren Gefäßen. Ein Fenster, durch das man auf ein Geländer schaut, dahinter Wasser und ein Boot. Ganz unten rechts in der Ecke, nur schemenhaft zu erkennen, ein Mädchenkopf.

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Der Zug Venedig-Wien hält in Pordenone. Mein Reisegefährte zeigt mir auf seinem Handy die Bilder der Live-Kamera, die auf den Hauptplatz von Bologna gerichtet ist. Er liebt es, jeden Tag die Live-Kameras seiner Lieblingsdestinationen zu sehen. So vermischen sich Traum und Wirklichkeit. Nächster Halt: Udine. Italienisch lernen wäre eine Option.
Wir überqueren den Tagliamento, den zweiten großen Fluss, der aus den Bergen Friauls herabfließt, türkis und wieder in einem sehr breiten Flussbett.
Der Grenzberg zwischen Arnoldstein und Italien heißt Ofen. Im Friaul mit dem Zug Richtung Villach zu fahren, ist ein Vergnügen. Die Berge sind schon da, diesmal mit Schnee bedeckt. Ein Gedanke geht mir durch den Kopf: Unbeirrt sein. Das ist sehr oft das Wichtigste.

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Sohn: Wie ist die Mama so, wenn sie reist?
Reisegefährte: Wie eine Sechzehnjährige!

Verrückt

1
Durch die Stadt gehen und mich dabei streng an diese Vorgaben halten: 1 x rechts abbiegen, danach 2 x links abbiegen – und das solange es geht. Oder mich einfach treiben lassen? Das ist bedeutend schwieriger. Am einfachsten finde ich den Vorschlag: Picknick im Wohnzimmer!

2
Ich belausche ungewollt das Gespräch eines Ehepaares, das am Tisch neben mir mit Blick auf den See sitzt.
Sie: Siehst du den Schwan da hinten? Der brütet da.
Er: Nein, der sitzt einfach so da
Sie: Woher willst du das wissen?
Er: Weil es ungewöhnlich wäre, dass hier ein Schwan brütet.
Sie: Du weißt immer alles besser!“
_
_

Sie: Weshalb sprichst du nicht?
Er: Weil ich nicht sprechen will.
Sie: Du willst nur mit mir nicht sprechen! Nie willst du mit mir reden.
Er: Nein, ich will mit der ganzen Welt nicht sprechen!
_
_

Sie: Wir hätten nicht hierher fahren sollen. Es gefällt dir hier nicht. Gib es zu.
_

Sie: Hätten wir nach Mistelbach fahren sollen? Oder nach Gaweinstal? Wäre dir das lieber gewesen?
_

Sie: Ich merke es doch. Ich habe es vorher schon gespürt, es war ein Fehler, hierher zu fahren. Es gefällt dir hier nicht.

Er geht, kommt mit einem Stapel Zeitungen wieder und legt ihr ein paar davon hin.
Sie: Danke dir. Wie gut du dich kümmerst!

Wachau


1
Ein aus der Zeit gefallenes Haus mit dicken Mauern, das uns vom blasmusikumwobenen Sturmfest abschirmt, beherbergt uns für zwei Nächte. Ein bisschen Lust auf Zuhören haben wir dann doch. Wir stellen fest, dass die Einheimischen alle gleich aussehen, auch die Kinder. Und sie sind freundlicher als ihr Ruf.

Auf meiner Wanderung sehe ich die Schäden, die der Regen angerichtet hat. Zum Beispiel sind diese für die Wachau so typischen Steinmäuerchen, die die Weinterrassen bilden, teilweise durch den Starkregen eingebrochen und haben Drähte, Steher und Reben mitgerissen. An vielen Stellen sehe ich noch Schlammspuren.

Ich freue mich sehr über den Champignongfund, putze die Pilze gleich und schau dann doch noch einmal im Internet nach, weil ich mir bei einigen mit der Bestimmung nicht sicher bin. Und dann: Ja, es haben sich da wohl ein paar Karbolchampignons daruntergemischt. Die sind giftig. Also übergebe ich meinen so knackig-frischen Fund wieder der Wiese.

Das Gehen tut mir gut. Die Kirche von St. Michael lädt mich zu keiner ausführlichen Rast ein. Der Heurige nebenan schon. Zumindest zu einem Achterl Weißen.

In meinem Buch lese ich von den Geräuschen, die ein Liebespaar im Nebenzimmer macht, und hier in der Wachau erlebe ich es in Wirklichkeit.  Realität und Phantasie verschwimmen. Genau wie beim Lesen der Biografie von Christine Lavant. So vieles erinnert mich an sie. Zum Beispiel, wie sehr sie die Einfachheit ihres Aufwachsens geprägt hat. Lavant blieb zeitlebens der Lyrik treu, um sich gegen Angriffe der Menschen aus dem Dorf zu widersetzten. Die Prosa war oft zu verständlich, und die Leute brüskierten sich, wenn sie sich in ihren Texten wiederzufinden glaubten. Spaziergänge waren nur nachts möglich. Tagsüber fürchtete sie sich vor der Verleumdung, sie sei verrückt und faul.

Während der Wanderung finde ich eine Schraubenmutter auf dem Weg liegen. Ich hebe sie auf und nehme sie zu mir. Christine Lavants Mutter hat für andere genäht und gestrickt (oft für Gottes Lohn). Sie war Beichtmutter für viele Kundinnen, die sich da ausgeweint und ausgekotzt haben und dann verrichtete Dinge, mit einem neuen Gewand und einer reinen Seele von dannen gezogen sind. In der Nähstube unserer Mutter erlebte ich Ähnliches. Ähnliches habe ich in der Schneiderei meiner Mutter erlebt. Kein Wunder also, dass es mir seltsam vorkommt, dass es mittlerweile fast 160 Euro kostet, sich mit jemandem zusammenzusetzen und über Seelisches zu reden. Von einem neuen Gewand ist dabei auch überhaupt keine Rede.

Das Wachaumuseum tut sich vor unserer Quartiertür auf. Es befindet sich in einem mächtige Gebäude, dem Teisenhoferhof. Die Frau an der Kassa gibt uns eine gastfreundliche Einführung.  Sie erzählt von der Zeit Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als die neue Wachauerstraße gebaut wurde. Auffallend viele Bilder des Wachauer Heimatmalers Erich Giese hängen an den Wänden. Im Laufe des Urlaubs stelle ich fest, dass viele seiner Motive auf Weinetiketten oder als Raumschmuck in den unterschiedlichsten Räumlichkeiten verwendet werden. Am besten gefallen mir die Bleistiftzeichnungen aus seiner frühen Zeit und ein kleinformatiges Aquarell, auf dem Zermatt zu sehen ist.

2
Die Minibar am Ostufer des größten Nexinger Teiches ist eröffnet. Wir beobachten einen Fledermaustanz am Abendhimmel. Außer den Fledermäusen ist niemand da. Sie kommen uns sehr nahe.

3
Ich nehme mich hoffentlich nicht allzu wichtig und lache mich ab und zu kräftig über all meine Unzulänglichkeiten aus.

4
Es kommt auf die Idee an und auf das Wissen, dass Worte Konsequenzen haben.

5
Ein altes, weises Wort (?): Am besten ist es, niemanden zu lieben.

 

Brille tragen

1
Ein paar Einblicke in Galerien im ersten Bezirk sind uns gewährt. Hohe, weiße Räume mit ausgewählter Kunst an den Wänden. Ich kann mich heute nicht auf eine neue, fremde Biografie einlassen. Es ist ähnlich, wie in einem Buch zu lesen. Es lenkt ab. Von der Stille im Rosengarten, die ja immer Saison hat. Der Franziskanerplatz, das Kleine Café sind die Entdeckung des Tages. Der Inhaber des Kaffeehauses ist ein Schauspieler, der im Film „Before sunrise“ mitgespielt hat, so wie sein Café. In der Jesuitenkirche binde ich mir die Schnürsenkel meiner roten Stiefel zu. Die Herbstsonne und ein leichter Wind machen Wien bezaubernd – wir gehen zufrieden durch die kleine Allee im Innenhof des AKH wieder zurück zur U-Bahn und fahren nach Hause. Das tu ich gern, nach Hause fahren, wenn ich weiß, daheim ist es warm.

2
Die Ausbildung zur Lehrerin geht völlig an der Praxis vorbei, sagt die Lehramtsanwärterin, es gibt kein Handwerkszeug für die Aufgaben, die auf sie zukommen. Für Mathe vielleicht am ehesten noch, aber sonst schon gar nixi. Sie sammelt lustige Brillen und anschauliche Bilder: „Diese schicken Eltern von den Kindern auf dem Land sind unausstehlich. Da fühle ich mich doch in den Brennpunktschulen der Großstadt viel wohler! Und das Meer in Porto hat bis zu 35 Meter hohe Wellen!

3
Wie man eine gute Ehefrau ist: Mindestens 90 Prozent der Dinge, die einen nerven, hinter sich lassen. Daran arbeite ich. Ich bin bei etwa neun Prozent angelangt.Und die Frage, ob ich eine gute Ehefrau sein will, sollte ich mir wohl nicht mehr stellen.

4
Hoffentlich kommt die rosa Brille rechtzeitig an, die ich ihm zum Geburtstag bestellt habe.

5
Ich überlege, die eigenen Kinder, Männer und Frauen wieder viel mehr zu berühren, als Selbstverständlichkeit. Ich überlege, Monologe zu halten und anderen zuzuhören, die monologisieren, ausführlich über Kunst zu sprechen und dann zu tun, wofür wir auf der Welt sind.

Semmering

1
Der Sommer fängt so an: Sarah Kirsch, Tagebuch 1990.
Und wir halten Sommerfrische.

2
Dieses Weltkulturerbe „Semmering-Bahn“ hat es uns angetan. Und der Regen und das Faulenzen. Landschaft fällt uns zu und die alten Villen. Kunst fällt uns nicht zu. KeineR von uns hat Lust darauf, sich eine Lesung anzuhören.

3
Jene Gebäude, die den Skifahrern zur Verfügung stehen, sind schrecklich anzusehen: Talstation. Bergstation. Essensbuden. Und dazwischen die Pisten, die im Sommer zur Radfahrstrecke umfunktioniert werden. Der Berg voller Wunden, Krusten, Narben. Nur der Wasserteich für die Schneekanone hat Versöhnliches an sich.

4
„Auch wir hinterlassen Spuren. Von Venedig bis New York“

5
Panhans und die Plakate von anno dazumal, die diese Gegend bewerben, sind einmalig. Das Bahnhofmuseum wir liebevoll von Ehrenamtlichen betreut. Sie sind schon etwas gebrechlich und zerknittert. Das passt gut zur Nostalgie, die in der ganzen Geschichte der Semmering-Bahn steckt. In einer Demokratie wäre so ein Bau nicht möglich!

6
Es zwei Frauen recht zu machen, das ist nicht einfach.

7
Alle langgedienten Paare schweigen, wenn sie zu zweit im Restaurant sitzen. Oder sie schauen auf ihre Handys. Oder einer von ihnen schaut aufs Handy. Und, hast Du morgen schon etwas vor?

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Sarah schreibt: Das Licht von Alpha Centauri (der Stern, der uns am nächsten ist) braucht fünf Jahre, bis wir es sehen können. Das heißt, sein Licht, das jetzt bei uns ankommt, ist gestartet, als ich Dich das erste Mal geküsst habe.

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Im Nationalpark Kalkalpen haben Forscher im Jahr 2023 einen sensationellen Fund gemacht: den Rothalsigen Düsterkäfer, eine Urwaldreliktart! Es ist ein schwarzer Käfer mit rotem Hals.

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Ich fühle mich jedenfalls wehmütig, wenn ich meinen Kalender für kommende Woche ansehe. Er ist bumsvoll. Entweder ich habe sehr viel zu tun oder ich bin krank und mache mir Sorgen, dass ich vereinsame und am Sinn des Lebens vorbei dämmere. Kann ich mich im Schreiben zeigen und verbunden sein mit den Menschen, die mir am Herzen liegen und jenen, die ich unbedingt noch kennenlernen möchte?

Triest

1
Ich habe noch nie in meinem Leben drei Stunden im Stau gestanden. Man verfällt dabei in eine selbstschützende Lethargie.

2
Der „Edammer“ auf dem Karsthügel, der zum Meer hin abfällt,  ist immer noch da. Er scheint unverwüstlich. Genauso wie die Spelunke mit dem Kunstgrasteppich auf der schmalen Mole.

3
Bei der Ankunft liegt ein Kreuzfahrtschiff im Hafen. Das entrüstet mich. Das freundliche Personal im Hotel Vis á Vis macht dieses Ärgernis wett. Eine Stunde später ist das Schiff verschwunden. Vielleicht habe ich mir das alles auch nur eingebildet.

4
Der Blick aus dem Hotelzimmerfenster fällt auf in eine schmale Gasse. Dort ist der Schriftzug „Ulysses“ angebracht. Eine poetische Spur ist gelegt.

5
Ein Spaziergang führt bergauf. Wir kommen ins Schwitzen und werden mit dem Ausblick auf den Hafen und das Meer belohnt. In der Kirche Maria Maggiore lauschen wir für einige Minuten den für uns unverständlichen Worten eines Priesters, der die Messe liest. Die Atmosphäre ist beruhigend. Immer wieder baue ich mir einen Leuchtturm aus den zum Teil schrecklichen Bausteinen der katholischen Kirche, die mir zur Verfügung stehen. Über diese Tatsache möchte ich nicht mehr viel nachdenken.

6
Der Mann in der Vinothek füllt uns für 3,5 Euro Wein aus der Zapfanlage ab. Das geht hier auch. Er schmeckt uns sehr gut, der Friulano, der Ribolla Gialla und der Prosecco. Selbst einige Wochen später wieder daheim im Weinviertel hat er nichts von seiner Frische eingebüßt!

7
Kurz vor Miramare finden wir einen Parkplatz. Auf der Promenade tummeln sich die Badegäste. Wie (fast) immer strahlt die Sonne auf die Schlossmauern. Spektakuläre Architektur. Ich schwimme eine Runde und schaue mir Triest vom Wasser aus an. Viel Stadt ist da zu sehen.

8
Wir schöpfen wieder einmal aus dem Vollen. Mein Reisegefährte legt den großen Bogen Papier, auf dem das Periodensystem abgebildet ist, auf dem Boden aus. Ein weiterer Schritt auf der poetischen Spur dieser Stadt. Ich habe mir das so sehr gewünscht, wieder einmal hier zu sein! Man kann dazu nichts beitragen, dass das eigene Leben manchmal wie eine Operette daherkommt. Einfach ignorieren!

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Aquileia ist wie aus der Zeit gefallen. Wir staunen über die Zedern des Libanons, die im Garten des Archäologischen Museums stehen. Eine mit massivem Mittelstamm und weit ausladenden Ästen, die gestützt werden. Die andere mit 7 Stämmen, die aus einem Wurzelstock wachsen. Auf jeden Fall gefallen mir die Bäume mindestens so gut wie die Mosaike, Grabbeigaben und Statuen. Goldringe fliegen mir zu.
Was ist nicht poetisch hier im Friaul? Die Politik? Ich denke immer wieder an Grado, es liegt in unmittelbarer Nähe.

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Unsere Agrotourismo – Zimmer – Vermieterin heißt Alissa und ist blutjung. Im Emailverkehr hat sie immer mit Luis unterschrieben, mit dem Namen ihres im Februar verstorbenen Vaters. Jetzt führt sie den Laden.

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Grappa schmeckt überall gut. Am besten nach dem Essen und Cividale del Friulano hält, was der Reiseführer verspricht. Kleines Städtchen mit viel Space für Schönheit. Der Spaziergang führt zum Wasser. Der Fluss nennt sich Natisone. An die 11. 000 EinwohnerInnen leben hier. Ein Hund wird im Kinderwagen vorbeigefahren. Die Hundebesitzer fotografiert die Szene.

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Unter dem Dom von Cividale del Friuli hängen einer Menge Kränze aus Efeu und Trockenblumen. Sträußen aus wilder Karde und Girlanden schmücken die Gassen und Laubengänge für das Fest am Wochenende. Die zwei Damen in der Bar gehen sogar zum Fluss hinunter, um frisches Grünzeug dafür zu sammeln. Sie tragen eng geschnittene Blusen mit tiefen Ausschnitten und stimmen sich und die Gäste auf das Fest ein. In der Pizzeria wird den ganzen Tag gebacken und über die Straße verkauft.
Wir sehen immer wieder Männer, die für das Fest vorbereiten – wahrscheinlich schon seit Tagen. Schilder montieren, Fahnen hissen, Sand aufstreuen, Buden dekorieren. Besprechungen abhalten. Der Alkohol fließt und die Milch in der Milchflasche, auf die man zu Hause wahrscheinlich schon seit Stunden wartet, wird sauer. Irgendwie denke ich an das Dörfchen Erdpreß, da gab es früher auch einmal ein Fest, mit legendärem Herrichten.

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Auf einem Bein zu stehen, das ist nicht leicht.

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Das Werner Berg Museum in Bleiburg liegt auf dem Weg. In ihm tut sich eine neue Welt auf. Die Welt der Christine Lavant. Dass ich eine empfindsame Frau bin, das ehrt mich. Man muss sich mit mir nicht abrackern. Drehe die Herzspindel. Ein Kreis schließt sich.

backen


1
Für Sonntag bereitet sie einen Kuchen zu. Dazu gibt sie die benötigten Zutaten in die elektrische Küchenmaschine. Dabei passiert ihr das Missgeschick, dass der Quirl nicht richtig einrastet. So verteilen sich Zucker, Vanille, Zitronenschale und Butter innerhalb kürzester Zeit in der ganzen Küche. Daraufhin bricht sie in schallendes Gelächter aus.

2
Heuer gibt es so viele Kirschen ohne Würmer wie lange nicht. Die Freundin backt schon den achten Kirschkuchen der Saison.

3
Ein rund zehnjähriger Junge sitzt mit seinen Eltern in einem Wirtshaus in der Josefstadt. Nach dem Verzehren des Mittagsmenüs steht er auf, holt sich drei Zeitungen und beginnt, eine nach der anderen zu lesen. Seine Eltern hängen die ganze Zeit über am Handy.

4
Ich schaue in den Spiegel und sage mir: Mein Leben ist jetzt ein anderes geworden. Ich definiere mich nicht mehr durch meine Arbeit. Ich lebe, ich genieße, ich nehme an, was kommt und mache das Beste draus.

5
Wir sollten aus uns herausgehe, Gaben geben, freiwillig und obligatorisch, denn darin liegt kein Risiko. MARCEL MAUSS