Autormartha

Brno

 

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Wie schön, dass der Jahresbeginn viel Zeit bereithält.

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Mit getrennten Betten bleibt man länger verheiratet. Tut mir leid, aber es ist wahr. Das steht heute Morgen in der Zeitung.

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Er sagt: “Das machen wir schon!“

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Ich zweifle an mir, weil mir die vielen Termine und Menschen über den Kopf wachsen. Dann steige ich in einen Zug nach Brünn … Dürnkrut … Breclav … Brünn.

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Durch unsere Reisen habe ich das Gefühl, in sein Leben getreten zu sein. Wenn auch nur kurz. Und etwas von ihm gesehen zu haben, was ich nie zuvor gesehen habe, so dass ich mich jetzt anders kenne.

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Von außen sind die Kirchen schön anzusehen. Innen tragen sie Weihnachtsschmuck.

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Die  Moravsky Galery for Art Design & Fashion trägt Ohrringe und beschwört das Feuer.

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Die Straßen sind mit ganz kleinen Steinen gepflastert. Das sieht fast liebevoll aus.

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Mein Reisebegleiter redet von flüssigem Kuchen, bevor ich an einem der Punschstandl‘n am Hauptplatz einen „Turbomost“ bestelle. Mir schmeckt das.

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Im Cafe Pilat fragt ein junger Geiger die Kellnerin, ob er ein paar Stücke einspielen dürfe, packt dann sein Instrument aus und fiedelt drauflosEr sitzt zwischen den Mittaggästen am Wirtshaustisch. Die Augen geschlossen. Er macht seine Aufnahme mit dem Handy. Niemand ist wirklich irritiert, man isst in Ruhe weiter, traut allerdings seinen Ohren nicht, ob der exzellenten musikalischen Darbietung. Trotzdem klatscht niemand. Wir sind gerührt. Vermutlich hat er in diesem nach gutem Essen riechenden Raum, den dezenten Geräuschen, der hell-heimeligen Atmosphäre des Lokals das perfekte Nest für seine Melodien gefunden.

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In einem Bierlokal mit dem perfekten Logo serviert man vier verschiedene, geräucherte Wurstsorten zum goldgelben Getränk. Das schmeckt mir.

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Im Cafe Tungsram trinke ich ein Glas Absinth und kaufe zwei Gläser Leberpastete als Mitbringsel für die Lieben daheim.

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Irgendwohin zu reisen, wo einem nichts vertraut ist, ist spannend. Genauso hat eine Fahrt in die Nähe ihren Reiz. Die Geborgenheit gesellt sich zur kleinen Aufregung. Diese Reise ist wie ein Packerl.

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Am Abend, wieder zurück im Gewohnten, finde ich in der Post einen sehr schönen Brief und eine Vase. Was ist gegen eine Brieffreundschaft zu sagen?

 

Am Abend

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Die Anstrengung der Freundlichkeit für einen Abend lang riskieren.

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Der Beginn eines Tanzes soll eine Umarmung sein.

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Sie kommt nach einem zehnwöchigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nach Hause. Im Haus ist es kalt. Unter dem Benjamin-Ficus liegen viele Blätter. Im Kühlschrank findet sie eingetrocknetes Gemüse, ein Stück Butter, ein paar Gläser Eingemachtes.

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Der Mann ist um die 80 Jahre alt. Seine Schwester spielt mit ihm seit neuestem bei ihren wöchentlichen Besuchen im Heim mit Duplosteinen. Das rührt sie zutiefst. Sie erinnert sich an ihre gemeinsame Kindheit. Sie empfindet eine Mischung aus Scham und großer Nähe.

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Wir spielen ein Wortspiel
„Glas berührt nicht, Baum schon!“
Die Regel dahinter: Unterscheide Wörter, bei denen sich die Lippen berühren von Wörtern, bei deren Aussprache sich die Lippen nicht berühren.

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Er hat Angst vor Schmerzen oder Atemnot beim Sterben. Er möchte gerne gehen und wie ein Kind glauben. Dass vieles offen bleibt, findet er gut. Beten Sie für mich, sagt er zum Abschied. Später schickt er mir eine Weihnachtskarte aus dem Hospiz: Ich würde mich freuen, wenn wir uns in einem offenen Himmel wiederfinden.

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Seine Bilder will er nicht hergeben.

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Sie möchte erfolgreich sein bei der Suche nach einer Gemeinschaft, einer Familie und einem inneren Einklang mit der Welt, nach einem Ort, an dem sie aufhört, wegzulaufen, nach einem Ort, der die Möglichkeit birgt, bei sich selbst anzukommen … Weil ich grad dran bin, werde ich jetzt einmal für sie beten. Dass sie vorerst einmal einen eleganten Liebhaber findet.

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Solange ich der Meinung bin, dass es darum geht, den Dingen auf den Grund zu gehen, kann ich im Leichten nicht froh werden.

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Ich bin Heiligabend – Ultra.

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Ich räuchere, was das Zeug hält.

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Meine Augen leuchten.

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Sei nicht verloren!

Selbstgefällig


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Heute war der frühe Morgen die gute Stunde. Langsam wird es hell. Draußen ist alles schneeweiß und winterstarr. Ich gehe barfuß raus und freue mich über den Kitzel und lauf schnell wieder rein und trockne mir die Füße ab. Sie sind jetzt ganz warm. Heute fühle ich mich wohl in meiner Haut.
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Alle Menschen, die in Pension sind, haben viel zu viel Kraft und es ist ihnen langweilig. Ich bin berufstätig. Mir fehlt die Kraft.
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Der Freund verschwindet kurz nach draußen und kommt mit einer Überraschung für mich zurück ins Wohnzimmer: Er schenkt mir einen Schneeball.
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Dir gefällt nicht, wer du bist, wenn du mit ihm zusammen bist?
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Die Nachbarin versucht mit einem Gerät, das wie ein Rasenmäher aussieht, das Laub von der kleinen Straße vor unserem Haus wegzukehren. Es dürfte ihr peinlich sein, sie macht das in der Nacht. Die andere Nachbarin stört sich an den Mülltonnen und den Autos, die vor den Häusern stehen. Sie kann deren Anblick nicht ertragen.
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Besser Heu rauchen als Heu machen, sagt der Wirt zu mir und serviert mir einen Topfenstrudel. Sobald man sich in ein Gasthaus setzt, erlebt man mehr, als man erleben will. Ähnlich ist es, wenn man in einen Schulbus steigt. Vor der Eingangstür stehen Säcke mit Zwiebeln.
Bevor ich gehe, kaufe ich ihm einen Zehnkilosack mit roten Zwiebeln ab. Er hilft mir beim Tragen und Einladen ins Auto.
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Ich bin zu Hause abgängig. Mein Mann ruft mich an. Ich nehme den Anruf entgegen.
„Soll ich dir auch eine Palatschinke machen?“ „Ja, die kann ich morgen in die Suppe schneiden.“
„Wann kommst du?“ „Das kann ich nicht genau sagen“
„Bist du im Gasthaus?“ „Ja.“
„………“.
Jetzt weiß ich, warum er nie abnimmt, wenn ich versuche, ihn zu erreichen, während er im Gasthaus sitzt.
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Mich an einen Tisch setzen, der für andere gedeckt ist.
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Auch Wahrheiten altern.

Kleinspecht


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Wir sehen einen Kleinspecht.
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Auf meinem Fußweg von daheim zur Bushaltestelle staune ich über das Moos, das zwischen zwei Polocalrohren wächst.
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Jetzt bin ich einmal dran.
Ich wende mich mir selbst zu, dem Detail, das mich gerade angeht, ich gehe auf Erkundung in mir selbst, suche nach den Zusammenhängen in mir, die mich zusammenhalten. Ich suche nach angemessenen und erwartbaren Gedanken und spüre keine Not, weil darunter auch Erhellendes zu entdecken ist und Überraschendes und Ungeahntes. Ich sehe und spüre dieses Detail, das zu schwingen beginnt, indem ich diesem Detail Bedeutung gebe. Ich durchlebe zugleich eine Verdichtung in einem Gewebe von Wirklichkeiten, von vielen, vielen Wirklichkeiten
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Das Leben ist ein endloser Umbruch. Es ist schön, darin zu baden. Und dabei tue ich nichts, was ich nicht wirklich will.
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Bei mir gibt immer noch die Natur den Ton an. Nicht der Geist.

Marder


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Jäger haben sich im Jagdstüberl zum Mittagessen versammelt. An den Wänden hängen zahlreiche Trophäen. Zähne und Penisknochen von Fuchs, Iltis und Marder, Geweihe von Hirsch, Reh und Gams und die Krallen des letzten Hahns aus Omas Hühnerstall. Der größte Singvogel der Welt, der Kolkrabe und der kleinste Eulenvogel, ein Sperlingskauz, stehen ausgestopft auf der Kredenz. Das Wildschweinragout, das für die Gäste aufgetischt wird, schmeckt vorzüglich.
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Waldrappe fliegen 1000 Kilometer in die falsche Richtung.
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Ein Teil meiner Arbeit besteht darin, mich bunt zu kleiden. Ein anderer Teil besteht darin, die Leute zu grüßen, die auf den Krankenhausfluren an mir vorbeigehen. Ich wundere mich immer wieder, dass das nicht selbstverständlich ist. Vor allem junge ÄrztInnen machen beim Vorbeigehen ein grüblerisches, finsteres Gesicht. Wahrscheinlich hängen sie unglaublich großen, lebensrettenden Gedanken nach. Oder sie sind mit der Gesamtsituation überfordert. Ich kann es nicht unterscheiden. Da hilft auch meine bunte Kleidung nicht.
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Nicht alle müssen „woke“ sein. Ich gehöre zu allen.
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Ich muss mich sehr anstrengen, um schlecht über andere zu denken oder gar zu reden, sagt Clemens Setz in einem Interview.
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Wenn ich dich beiße, dann weiß ich, ich bin daheim.

Wunschzettel


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Unsere Mutter postet das Foto eines Einkaufszettels in der Familien-WhatsApp-Gruppe. Ohne Kommentar. Muss sie auch nicht. Alles Wesentliche steht zwischen den Zeilen: „Ich habe keinen Führerschein. Ich habe nicht mal ein Elektrofahrrad, mit dem ich ins nächste Kaufhaus fahren könnte, das ist sowieso viel zu weit weg. Beim Nachbarn gibt es keine Kühe und keine Milchprodukte mehr. Niemand ruft an! Wo seid ihr alle?“
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Ich habe überhaupt keine Lust mehr dazu, abschiedlich zu leben. Wer kann sich nur so einen Schwachsinn ausdenken? Und wahrscheinlich war ich selbst lange Jahre davon überzeugt, dass man das muss und dass man das Sterben üben kann. W!
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Ein Zertifikat nach dem anderen zu erlangen. Das ist meine Daseinsberechtigung.
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Gerade wenn etwas schief geht, können die besten Dinge daraus entstehen, tröstet mich ein Kluger.
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Eine Freundin und ich sind uns einig: Wir haben schöne Kinder. Erzogen.
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Ein Mensch mit Talent zum Glücklichsein sein.

Das letzte Hemd. Abteilung 17. Notizen.


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Für kurze Zeit kommt Kaffeehausstimmung auf, als ich mit zwei Herren auf dem Balkon sitze und das Rauchen unser kleinster gemeinsamer Nenner ist.

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Was ist ihr Anliegen?

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Er (Jahrgang 1942) hatte als Kind extreme O-Füße. Die Ärzte rieten, sie zu brechen und zu schienen, um sie in Form zu bringen. Seine Mutter entzog sich dieser Tortur. In diesen Jahren spielte er oft am Wasser und hatte den Mund voll Sand. Ab und zu aß er Kalk von der Wand. Sein Organismus wusste instinktiv, dass ihm diese Mineralien fehlten. Seine Beine wuchsen von selbst. Wir sind alle Tiere.

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Der Pater schlägt vor, zu Ostern zu sterben. Einen Tag später revidiert er seine Ansage. Es wird wohl früher stattfinden. Der Arzt zögert noch, was er ihm alternativ vorschlagen soll. Ich halte Maria Lichtmess für eine gute Idee.

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Drei Menschen übersiedeln heute. Ein ganz normaler Montag, der stressig ist. Die Station ist adventlich geschmückt. Zwei Adventkalender zieren die Wände. Hinter der Glastür wartet ein nackter Christbaum auf seine Deko. Die Lichterkette schlängelt sich über das Balkongitter. Auf einem kleinen Tischchen steht ein Bronzepferd auf einem Tannenzweig.

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Gestern noch hatte er seinen Sohn angerufen, um ihm zu sagen, dass er schwer krank ist. Die Weihnachtsrituale die daheim gepflegt werden, kommen ihm in den Sinn. Vor einigen Jahren brachte er der Frau des Nachbarn am Heiligen Abend das Friedenslicht. Sie nahm es entgegen. Beim Tod des Nachbarn können sie sich die Hand geben und ein paar Worte wechseln. Seit dieser Zeit bittet sie ihn, ihr jedes Jahr, das Friedenslicht zu bringen.

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Die alleinerziehende Mutter von sechs Kindern konnte es sich nicht leisten, einen Christbaum zu kaufen. So zog der älteste Bruder jedes Jahr zu Weihnachten um die Häuser, um einen zu stehlen.

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Er möchte mir einen Kaffee machen und so setzen wir unser Gespräch in der Teeküche fort. Er will seine Gedanken ordnen. Er will Ordnung machen in der Werkstatt. Er will Ordnung machen mit dem Nachbarn, mit dem er zerstritten ist.

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Ein Patient kommt neu auf die Station.

Die Krankenschwester zeigt ihm sein Zimmer, den Stützpunkt, die Teeküche. Man sieht ihm an, dass er sich alle Mühe gibt, um diese „Führung“ an diesem ungewöhnlichen Ort wie selbstverständlich anzunehmen. Als würde er in einem Hotel einchecken. Hier kommst du rein, wenn Du schon geknickt bist, sagt er zu ihr. Er zieht sich eine dicke Weste an. Auf dem Rücken steht „Onkel Charly’s Hütte“.

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Zurzeit wohnt er aus beruflichen Gründen allein in einer Wohnung, weit weg von seinen Nahen. Er will sich nach den Feiertagen eine Wohnung in der Nähe seiner Freunde und seines Bruders suchen. Seinem Bruder, der „Wöd“ ist und der zwei Jahre und einen Monat jünger als er ist.  Er freut sich sehr auf die Herrenrunde zu Weihnachten daheim und darauf, sein Badezimmer, seine Fenster und Türen in der eigenen Wohnung zu sehen.
Weihnachten ist halt nur Weihnachten, wenn man zu Hause sein kann.

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Weihnachten daheim dauerte 22 Stunden lang.

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Zwei Frauen sind mit der Pflege beschäftigt. Durch die halb offene Tür sehe ich sie in ihren weißen Schürzen ruhig die Handgriffe machen, die sie machen müssen. Ein Mann stöhnt. Vermutlich plagt ihn ein Schmerz. Hier ist man immer auf der Suche nach der guten Schwester des Schmerzes, wie nennt sie sich noch mal?

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„Alles gut heute?“

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Heute riecht es nach frisch gewaschener Wäsche oder nach Waschküche. Jeder Tag ein anderer Geruch.

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Vom Gang herein höre ich Vokabeln wie „Tabletten“, „23691“, „Krankenstand“, „Gebietskrankenkasse“ und das Rascheln der weißen Schürzen der Krankenschwestern, die ein ganz bestimmtes Geräusch macht, wenn sie vorbeigeht. Ich wundere mich ein bisschen, wie ruhig es hier zwischendurch immer wieder ist.

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Die Kollegin fliegt bald nach Marokko und hofft, dass sie vorher nicht krank wird. Sie freut sich schon seit Jahren darauf, einmal um diese Zeit in den Süden zu fahren.

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Nach den beiden Gesprächen mit den Herren in Zimmer 6 und Zimmer 4 sitze ich im Aufenthaltsraum und höre der Klimaanlage zu. Sie ist das Lauteste hier, wenn nicht gerade jemand mit der Putzmaschine durch die Gänge rollt. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein angenehmes Alltagsgeräusch ist oder ein störendes, lautes Unding.

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Er bittet mich, ihm 2 Schachteln blaue Chesterfields mitzubringen und drückt mir 11 Euro in die Hand, soviel werden sie kosten. Hier wird geraucht, ohne Rücksicht auf Verluste.

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Die Putzfrau räumt sehr verlässlich täglich den Geschirrspüler aus.  Außerdem ist sie sehr gut eingeschult und hat ein feinsinniges Gespür für diese Abteilung. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. Sie achtet darauf, dass ich mit dem Gespräch fertig bin, bevor sie mit ihrer Arbeit im Krankenzimmer beginnt. Im Laufe der Zeit finden wir Vertrauen zueinander. So erzählt sie mir, dass alle ihre Kinder schon erwachsen sind. Dadurch fällt das Arbeitengehen leichter. Am Sonntag hatte sie Dienst bis zu Mittag. Sie lächelt stets mit dem gesamten Gesicht, wenn sie einen Gruß ausspricht. Ein paar Wochen später vermisse ich sie. Nach einer Umschulung arbeitet sie als Pflegerin auf einer anderen Station. Das kann sie sicher genauso gut.

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Die Narben und Falten auf seinem Körper erzählen Geschichten. Der rechte Mittelfinger, der in eine Walze geriet, ein Bänderriss am rechten Fuß, ein schwerer Karton, der auf ihn fiel – alles im Lager seiner Firma. Das Herz: Die Trennung von zwei Frauen, die er liebt.  Vor drei Jahren war er das letzte Mal mit einer von ihnen beim Griechen essen. „Griechisch essen, das ist gut.“, sagt er.

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Sie hat die Gabe, sehr differenziert über ihre Gefühle sprechen zu können. Von ihrer Trauer darüber, zu wenig gelebt und geliebt zu haben. Von ihrer Dankbarkeit, viele schöne und schwerwiegende Reisen mit den Kindern unternommen zu haben. Von ihrer mangelnden Kraft, Hoffnung zu entwickeln. Von ihrer Resignation, angesichts der oberflächlichen Beziehung zu ihren Eltern. Von ihrer Angst, es nicht zu schaffen. Von ihrem Wunsch, hie und da noch ein Glas Sekt mit Freundinnen trinken zu können.

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Wir verabschieden uns mit den Worten: „Hoffentlich sehen wir zwei uns nun lange nicht!“

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Da passt kein Blatt zwischen ihn und seine Frau.

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Der Musiktherapeut weist mich auf einen in seelische Nöte geratenen Menschen hin. Von Prüfungen und Qualen ist die Rede und von der Kunst des Verzeihens.

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Wir reden über Kleiderfarben. Ich ziehe mich gerne bunt an. Die Pflegerin trägt grau in ihrer Freizeit.

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Der Arzt zeigt mir, wie man Kaffee macht. Die Kaffeemaschine ist neu.

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Die Kollegin hat ein rotes Auge. Ein Äderchen ist geplatzt.

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Er ist nicht traurig, weil sein Vater gestorben ist. Das kommt manchen Menschen in seinem Umfeld ungewöhnlich, ja fremd vor. Der Begriff „Trauerromantik“ fällt. Er hat von seinem Vater gelernt, es anders zu machen, als dieser. Dafür ist er dankbar. Jeder trauert anders.

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Eine Kollegin isst eine Banane im Stehen. Ein Stück davon bricht ab und fällt zu Boden.

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Die Palliativschwester ist zufrieden darüber, dass der Küchenfußboden daheim neu gemacht wurde. Morgen hat sie dienstfrei und wird mit einer ehemaligen Kollegin so lange brunchen, bis alles gesagt ist, was gesagt werden muss.

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Ein Patient erzählt mir einen Witz: Kennen sie den schon? sagt der Postbeamte zum Kunden: „Der Brief ist zu schwer, da sind zu wenig Marken drauf, da müssen sie noch eine draufpicken!“ Sagt der Kunde: „Sind sie verrückt, dann wird er ja noch schwerer!“

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Die Frau erschrickt richtiggehend, als ich mich an ihrem Krankenbett als Seelsorgerin vorstelle. Ich versuche, sie vom ersten Schrecken abzulenken, indem ich sie auf ihre Katze anspreche, deren Foto auf dem Nachtkästchen steht. Ich denke, das ist mir gelungen. Sie lächelt und sagt „Mia“. Sie ist mir und dem Tod vorerst entkommen. In den Film mit Christiane Hörbiger, der auf dem Bildschirm des Fernsehers läuft und nach Hause nach Asparn. In einer Stunde wird sie vom Enkelkind dorthin abgeholt.

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„Ich muss mich doch als Palliativschwester vorstellen! Ich kann doch nicht schonungshalber sagen, ich bin die mobile Friseurin und komme, um eine schicke Frisur zu zaubern!“

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Ein Freund erreicht mich am Diensttelefon und bittet mich, seine kranke Nachbarin zu besuchen. In einem Nebensatz erwähnt er, dass er nun – zwei Jahre vor seiner Pensionierung – in der Arbeit nur mehr den schrulligen Alten geben möchte, bevor es zu spät dafür ist …

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Sie kauft sich ein Pferd um 10.000 Euro. Das Pferd hat blaue Augen und ist erst sechs Monate alt. Es könnte an die 30 Jahre alt werden. Reiten darf sie es erst ab einem Alter von zwei Jahren.

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 „Das wird schon. Wir halten zusammen und dann wird das schon!“

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Auf dem Tisch liegen zwei Blätter mit Zeichnungen. Darauf sind geometrische Figuren, ein Baum und ein Schmetterling zu sehen. Die Nachtschwester hat in den dunklen Stunden mit der jungen Patientin gemalt.

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Auf ihren Unterarmen trägt sie drei Tätowierungen. Jedes Tattoo ist eine Kombination aus Körper- und Pflanzenteilen. Aus einem Kopf wächst ein Blumenstrauß. Blätter wachsen aus abgeschnittenen Fingerkuppen. Ein Auge wird zu einem Blatt. Sie spricht darüber, dass ihre Trauer eine neue Dimension erreicht hat. Eine Trauer, die pure Einsamkeit ist. Der Einzige, der dieses Gefühl etwas aufbrechen kann, ist ihr Vater. Wenn er da ist, ist sie nicht allein.

Ihr Vater hört uns zu. Ich hoffe, er spürt die Liebe, die aus ihren Worten spricht. Sie wird ihm bleiben.

Heute ist sie gestorben. Lange hat ihr Leben auf diesem Erdenrund nicht gedauert. Sie liegt noch in ihrem letzten Bett, die beiden Schwestern haben die Verabschiedungsdecke über sie gelegt. Ich lege eine gelbe Rose, die mir der Gärtner aus dem Krankenhausgarten abgeschnitten hat, auf die Decke. Auf dem Nachttisch steht ein Engel. Ein Stein leuchtet. Der Vater packt ihre Sachen zusammen. Die Schwester gibt ihm noch Zeichnungen mit, die ihre Kinder daheim für die Patientin gemalt haben. Er sagt, seine Tochter sei nicht mehr hier in diesem Körper, der sei jetzt leer. Ab nun sei sie in seinen Gedanken. Darf das Band, das Freundinnen für sie geknüpft haben, an ihrem Arm bleiben?

Er wirft einen letzten Blick auf sein Kind und setzt sich etwas abseits mit dem Handy, um die Nachricht weiterzugeben.

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Er brauchte sie, um so leben zu können, wie er wollte. Sie waren eine Symbiose eingegangen. Man konnte den einen nicht mehr von der anderen trennen, ohne beide zu zerstören.

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Maßgeblich für mich ist die unaufgeregte geistige Arbeit im Alltag. Denken. Schreiben. Üben.

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„Ich hab’ etwas gesehen, das schön war!“, sagt sie und lächelt. Was wünscht man sich mehr für einen Tag?

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… die Zeit zu haben, auf dem Heimweg in Siebenhirten stehen zu bleiben, um mit einer Patientin Kaffee zu trinken…

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Sie hatte einen Herzinfarkt. Ihr kommen die Tränen, als sie nach dem medizinischen Eingriff erklärt bekommt, dass alles sehr gut gegangen ist.

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Ins Wasser gehen.

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Eine Schwester wünscht sich, dass einmal eine Hochzeit auf der Palliativstation gefeiert wird.

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Die Frau ist erschöpft, sie ist gelb im Gesicht, sie erbricht Stuhl und es ekelt sie sichtlich davor. Sie möchte heute nur schlafen. Sie hatte bei ihrer Aufnahme ein großes Redebedürfnis. Ich konnte sie in dieser Phase aus Zeitgründen nicht besuchen und heute passt mein Besuch überhaupt nicht. Es gibt immer wieder so etwas wie einen richtigen Zeitpunkt, wenn man ihn versäumt, ist er vorbei. Das entlastet mich. Niemand von uns kann Unmögliches leisten.

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Sie erzählt mir von ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Pflegeheim, wo sie bis vor kurzem eine demenzkranke Bewohnerin regelmäßig besucht hat. Die verbale Sprache ist dieser Frau schon verloren gegangen. Das liebevolle Begrüßungsritual bestand darin, dass die Bewohnerin die Hände der Besucherin nahm, um sie zu wärmen: „Dann saßen wir da und hielten einander die Hände“.

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Zwei Frauen gehen nach draußen um zu rauchen. Eine wickelt sich den Schal um den Mund, weil sie keine Maske dabeihat.

49

Im Aufzug begegne ich einem bettlägerigen Mann, der von einem Kollegen des Fahrdienstes von A nach B gebracht wird. Der Mann wirkt sehr verschreckt. Ich weiß nicht, ob er hören kann, ob er sehen kann. Ich lege meine Hand vorsichtig auf seinen Unterarm und spreche ihn an. Leider habe ich ihn dadurch nicht beruhigt, sondern noch mehr erschreckt.

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Die Schwester erzählt vom Wochenende:

Mit ihren Gästen aus der Ukraine fährt sie für einen Tag in die Therme. Dort wird sie Zeugin, wie ein 5-jähriges Kind ertrinkt. Es ist zwetschkenblau im Gesicht. Obwohl sie nur ein paar Sekunden hinsieht, geht ihr dieser Anblick nicht mehr aus dem Kopf. Wieder zu Hause angekommen, klettert die Katze der Gäste den Baum hoch und kommt nicht mehr von selbst herunter. So organisiert die Gastgeberin die Feuerwehr, um die Katze zu retten. Gott sei Dank ist man im Dorf diesbezüglich gut vernetzt. Dann meldet sich eine Bekannte, die sich ohne Computer kurzfristig das dringend benötigte Flugticket nicht organisieren kann. Sie bittet um Unterstützung. Der Nachbar findet seine Radlpumpe nicht. Kann sie aushelfen? Puhh!

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Wir reden über lange Einkaufslisten, die sie schreiben wird, damit ihr der Bruder die Sachen einkauft, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird. Falls sie nicht aus dem Haus kann, weil ihr linker Fuß sie im Stich lässt, ist es gut, vorgesorgt zu haben.

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„Nur die Harten kommen durch und davon nur 10 %…oder waren es doch nur 3?“

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“I hob an Schwoaf wia a Kotz!”

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Er ist wie ein scheues Reh.

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Wenn er sich vorbeugt, um ein Glas zu heben, fährt ihm der Schmerz in den Rücken.

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Der Mann sitzt im Bett und spielt am Handy. Zwischendurch kippt er weg in einen leichten Schlummerschlaf. Sobald er wieder aufwacht, spielt er weiter, um nach geraumer Zeit wieder wegzuschlummern. So lange, bis ihn ein junger Mann vom Hol- und Bringdienst zur Physiotherapie ins Untergeschoss begleitet.

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Der Arzt sagt: „Wir können im Moment nichts für Sie tun.“ Der Patient sagt: „Vielen Dank, ich fühle mich hier sehr gut aufgehoben …“

58

Stronsdorf ist für diese Familie der Mittelpunkt der Welt.

59

Was ihn hält? Dass seine Frau „nach Hause geht“, dass er an einen Gott glauben kann, der dieses Zuhause ist, die Erinnerungen an Wochenendurlaube nach Paris, in die Therme, zum Wandern …

60

Seine Frau trägt den gleichen Vornamen wie ich. Martha. Es ist für mich nicht unwesentlich.

61

Was das für ein Unterschied ist: ausschließlich in sein Antlitz zu schauen, weil er heute zu keiner verbalen Äußerung in der Lage ist oder ein längeres Gespräch mit ihm zu führen.

Er erzählt sein Leben, als würde er es vor meinen Augen malen. Zuerst ist da die weiße Leinwand, mit jedem Satz, mit jedem Absatz kommt eine neue Szene dazu. Er tut es in ausdrucksstarken Details, ohne dafür viele Worte zu gebrauchen. Er spricht von der Kindheit, die noch unschuldig, voller Geheimnisse und Schnee war. Er spricht von einem großen Haus in einem fernen Land, in der seine Familie gemeinsam mit fünf Katzen und fünf Hunden im Garten lebt. Er erzählt von einer Zeit in Tirol, von den Bergen und Wäldern zum Skifahren und von der nahen Stadt mit dem Gasthaus, in dem seine Mutter allein wirtschaftete und sich vor den unberechenbaren Gästen fürchtete, während sein Vater als Taxifahrer Geld verdiente. Er erzählt von seiner Mutter, die ihn schon als kleines Kind in Obhut einer anderen Frau gab, weil der Bruder nur ein knappes Jahr nach ihm geboren wurde und sie tagsüber nicht die Kraft hatte beide Kinder zu beaufsichtigen. Er erzählt vom Gspusi seiner Mutter, einem Mann, der als Beschützer für sie eintrat, den der Vater allerdings dann verprügelte, als die Geschichte aufflog, er erzählt von seinem Seelenmenschen, der Tante, die ihm Herzensbildung beibrachte, weil er die Mutter nie nahe zu sich herangelassen hatte, ohne genau zu wissen, weshalb, er erzählt von der Schwester, mit der er sich zerstritten hat, er erzählt vom eigenen Sohn, auf den er stolz ist, vor allem seine junge Kindheit hat er in vollen Zügen genossen, er erzählt von einem Talent, das er besitzt, nämlich nicht neidisch zu sein. Er erzählt davon, stets großzügige Löhne gezahlt zu haben, er erzählt davon, dass er sehr viel Geld in den Sand gesetzt hat.

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Er sieht heute wie eine Armseligkeit aus. Er kauert in Empbryonalhaltung im Bett. Es gibt nichts zu sagen.

63

…das letzte Hemd

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Ich spreche ihn auf seine dunkelblauen Augen an. „In jungen Jahren wäre ich darauf eingestiegen, aber jetzt nicht mehr.“  Ich sage nichts darauf, denke mir jedoch: „Warum nicht?“

65

Er habe nicht genug Geld für seine Beerdigung, sagt er. Er will deswegen den Bürgermeister anrufen. Er möchte eingeäschert werden und seine Asche soll in seine Heimat gebracht werden.

66

Sie sagt zu den Menschen, die ihr Zimmer aufsuchen: „Sie betreten mein Hoheitsgebiet!“

67

Sie wird von Tag zu Tag schwächer. Ihr Sohn ist ihr täglicher Lichtblick. Er liest aus einem Buch vor, das sie mag. Bald wird sie sterben und er wird ihr großes Haus erben, das ihre letzte Heimat war. Alles ist anders, wenn die Eltern nicht mehr da sind. Solange ein Körper existiert, ist der Mensch greifbar im wahrsten Sinne des Wortes. Erfahrbar. Ein Körper, der Wärme abgibt und ausstrahlt.  Und dann „… bist du plötzlich nicht mehr da…“. Übrig bleibt das leere Haus. Übrig bleibt die eigene Körperlichkeit, die jetzt (noch! und hoffentlich gut!) weiterlebt ohne Altvordere.

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Ich verschenke Brot und Salz als Segensgabe.

69

Die Krankenschwester erzählt vom Sohn, der in der Weltgeschichte herumfliegt und wie sehr sie sich mit ihm darüber freut, mit ihm mitzuleben. Zu Ostern werden sie für die Mutter und die Schwiegereltern kochen. Der Sohn wird in New York feiern und sich nach der Rückkehr zum Physiotherapeuten ausbilden lassen.

70

Die Frau ist auf meinen Besuch vorbereitet. Sie empfängt mich in aufrechter Haltung. Ganz zu Beginn des Gespräches steigen ihr ab und zu Tränen in die Augen. Sie hat nicht erst die vergangenen Tage dazu genutzt, zu ordnen, abzuklären, zu organisieren, die Karten auf den Tisch zu legen und ihren Lebensschatz zu sichten: „Alles ist geordnet. Außer den Gefühlen. Manchmal muss ich weinen. Ich bin dankbar. Ich bin letztendlich auch einverstanden mit der Situation, dass ich meine ältere Tochter nicht mehr sehen will. Sie hat mir übel zugesetzt. Ich lerne damit zu leben, dass ich nicht mehr die Glucke sein kann. Darüber hinaus hatte ich ein wunderbares Leben.“

Ich sehe ihr Abgeklärtsein in ihrem Antlitz: Der Lidstrich ist fein gezeichnet. Die Lippen sind leicht geschminkt.

„Ich möchte nicht als Schwein wiedergeboren werden. Ich bin gespannt, wie das sein wird nach dem Tod, ob überhaupt was sein wird. Vielleicht sehe ich meine Eltern und Geschwister wieder? Wie das beim Sterben sein wird? Hoffentlich nicht zu schwer. Ich hoffe, dass ich möglichst wenig oder keine Schmerzen habe. Ich wünsche mir einen Leichenschmaus bei meinem Begräbnis und dass sich die Gäste Geschichten von mir erzählen und Erinnerungen teilen.“ 

71

Rückbesinnung ist ein Symptom von Krankheit.

72

Die Trauer der jungen Witwe sitzt tief. Die Nachbarschaftshilfe im Dorf sieht so aus: Schon bei der zweiten Einladung zum Essen sitzt „zufällig“ ein Junggeselle mit am Tisch. Sie will sich jetzt eine Kittelschürze kaufen.

73

Auf der Karte im Postfach steht: Immer ein nettes Lächeln, ein offenes Ohr und immer gut gelaunt. So kennen und lieben wir dich. Danke!

74

Sie hat ein Leben lang viel gearbeitet und wenig Geld verdient. Sie war selbstbestimmt. Sie hat 5 Kinder geboren und zusätzlich einen Enkelsohn seit seinem 2. Lebensjahr aufgezogen. Sie liebt Tiere. Seit 12 Jahren kämpft sie mit und gegen den Krebs.

75

Die Frau des Patienten ist mit dem dritten Kind schwanger. Die Schwester sagt nach dem Aufnahmegespräch zu mir: „Er ist genauso alt wie ich! … Nur nicht zu viel denken …“

76

Mittlerweile soll er nur mehr eine Zigarettenlänge lang sitzend am Balkon verbringen. Alles andere ist zu belastend. Die Tränen, die ihm runterinnen, sind ihm peinlich.
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Der Fußboden bebt, weil der Hubschrauber auf dem Krankenhausdach landet.

78
Im Bücherregal steht ein Buch mit dem Titel: Geht Sterben wieder vorbei?

79
https://www.khmistelbach.at/allerheiligenkalender/

Weissensee, ein halbes Jahr später


1
Ich sitze im Zug nach Venedig und bin versucht, einfach weiterzufahren. Aber Weißensee ist das Ziel, das mir am Herzen liegt.

2
Ich komme an und muss mich einmal für zwei Stunden bewegen, rund um den See gehen. Der See wirkt wie ein Schallverstärker. Deutlich höre ich Baulärm und Traktorenmotoren, jeder Bauer bringt anscheinend jetzt den Mist auf die Feldern aus. Kurz bevor es zu schneien beginnt. Die Fische, schwimmen betont langsam im glasklaren See. Er hat wenig Wasser, sagen die Einheimischen. Alle entschuldigen sich, dass das Wetter nicht schön ist und alle warten auf Regen. Alle entschuldigen sich, dass kein Wirtshaus offen hat. Dabei tut es so gut, hier ohne Touristen zu sein. Ich genieße den Alleinstellungsstatus. Die vielen „Betreten – Verboten“ – Schilder und die vielen Pensionen (jetzt in der Zwischensaison geschlossen und gerade dabei, sich einen neuen Anstrich zu verpassen), suggerieren etwas ganz anderes.

3
Im geräumigen Eingangsbereich meiner Bauernhof-Herberge steht ein Osterstrauch in einer Vase.

4
Der Weißensee ist an der tiefsten Stelle 60 m tief, und 12 km lang. Es gibt Moor- und Sumpfwiesen, und Haubentaucher.

5
Das Schilf macht die Landschaft pastellfarben. Sanft. Obwohl dahinter Berge hinaufragen. Die Drau hat diesen See ausgeschürft und eine Mur am richtigen Ort hat ihn aufgestaut.

6
Hier feierte eine meiner Schwestern ihren 30er.
Hier haben meine Schwägerin und mein Bruder geheiratet.
Hier leben die Platzhirsche Knaller.
Hier haben wir vor einigen Jahren einen Familientag verbracht.
Hier war ich noch nie schwimmen.
Hierher fährt eine andere Schwester in den Urlaub.
Hier gibt es also noch eine Zwischensaison und einen Unterschied.
Hier gibt es einen Berufsfischer, der sich um das Wasser und die Fische sorgt, um das ganze Mikroklima des Sees.

7
Es gibt zwei Möglichkeiten zu beobachten: Einmal: stillsitzen und der Bewegung der Welt zuschauen. Die andere: sich selbst bewegen und die Bewegung der Welt gar nicht so wahrnehmen.
Mehr Beobachtung gelingt mir beim Stillsitzen.

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Nebenan schreit eine Kindergärtnerin mit den Kindern einen Zauberspruch auf den See hinaus: „Der Weißensee bleibt sauber!“ Sie tragen einen Sack mit eingesammeltem Müll mit sich.

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Ich schlafe tief. Ich träume, dass ich nachts Besuch bekomme, der mich erschreckt, weil er plötzlich neben mir liegt. Ich wache verwirrt auf. Ich brauche 24 Stunden für mich allein, um mich davon zu erholen.

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Wir bestehen aus Körperpflege und der Idee des Fühlens, Sehens und Zeigens.

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Im Löwenzahn wird gekocht, was das Zeug hält. Acht Gänge. Benannt nach den Zutaten. Karpfen | Zucchini | Hanf | Staudensellerie|Entencannelloni | Asiasalat | Estragon | Limette Wild | Stangenbohnen | Karfiol | Salzzwetschke |Dunkle Schokolade | Kirsche | Pfeffer. Der Kellner ist neu und überfordert von der Vielfalt der Ingredienzien. Jeder Gang ist ein Gemälde. Wir lassen uns inspirieren und können es nicht lassen, die Jause am nächsten Tag genauso aufzutischen. Frankfurter Würstel | Kren | Schnittlauch | Brot |Senf |Paprika.

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Mitten im Frühling an einem See eingeschneit werden. Das passt zu uns. Für ein paar Stunden leben wir in einem Kokon. Wir sind sehr überrascht darüber, wie sich das alles so zuträgt.

Ende


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Er zelebriert sein Dienstende. Über Wochen hinweg veranstaltet er kleine Symposien und Vorträge. Er will nicht weg. Er will bleiben, gestalten, sich durch Arbeit lebendig wissen.

2
Der alte Mann stirbt. Seine Frau versammelt alle um ihn. Die Kinder. Die Enkelkinder. Ohne sichtbare Planung tritt eine nach dem anderen ans Sterbebett um sich zu verabschieden. Das Zimmer ist voller Menschen, voller Leben.

Die alte Frau stirbt. Soweit ich das sehen kann, gab es drei Männer in ihrem Leben. Zwei Schwiegertöchter. „Ich würde gerne Enkelkinder sehen“, sagt der aktuelle Mann augenzwinkernd. „damit das Leben weitergeht“. Die Sterbende schmunzelt, mir scheint.

Wie hat sie es damals ausgehalten, als an ihrem 33. Geburtstag ihre Mutter, ihr Ehemann und ihre zweieinhalbjährige Tochter gleichzeitig gestorben sind? Drei Särge standen damals nebeneinander in der Kirche. Jetzt ist 50 Jahre später. Jetzt sucht sie den Knopf, um das eigene Leben endgültig auszulöschen.

Er liegt in den letzten Atemzügen. Woran denkt es in ihm?

3
Vor gar nicht allzu langer Zeit war es dem Bestatter versagt, eine Leiche ohne Leichenpass durch die Nachbargemeinde zu fahren. Geld aus dem Tod durfte er nur aus seinem Territorium schürfen. Es gab strenge Regeln für das Transportieren von Toten.

4
Sich heiter und erleichtert von Irrtümern verabschieden

Erinnerungen nicht erzwingen wollen

Verschwinden wie ein Gletscher

Die Meisen, die im Frühling hier gebrütet haben, besuchen mich wieder


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Im Wasser fühlt sich jeder Mensch schön.

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Mehr Zuhören ohne zu bewerten – eine tägliche Herausforderung.

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Ich: Was würde dich glücklich machen?
Er: Dass mein Hund stirbt.

4
Ich habe unlängst an einem (öffentlichen) Katzenbegräbnis teilgenommen. Ein Teil von mir versteht das. Vor allem meine kindliche Abteilung. Wir versuchen, keine Tiere mehr zu essen. Das ist meistens gut. Ich schätze es am Menschen, dass ich mit ihm ein Gespräch führen kann, dass er Kunst macht und dass es ihm möglich ist zu verzeihen oder zu hoffen.

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Du sagst: Es wird sich schon fügen …, und meinst damit: Alles.

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Ich mache hier meine physiotherapeutischen Übungen und dort erschießt sich mein Onkel.

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Nichts ist für immer, das solltest du schon wissen, Mutti, schreibt meine Tochter per Whats App.