Autormartha

Die Meisen, die im Frühling hier gebrütet haben, besuchen mich wieder


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Im Wasser fühlt sich jeder Mensch schön.

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Mehr Zuhören ohne zu bewerten – eine tägliche Herausforderung.

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Ich: Was würde dich glücklich machen?
Er: Dass mein Hund stirbt.

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Ich habe unlängst an einem (öffentlichen) Katzenbegräbnis teilgenommen. Ein Teil von mir versteht das. Vor allem meine kindliche Abteilung. Wir versuchen, keine Tiere mehr zu essen. Das ist meistens gut. Ich schätze es am Menschen, dass ich mit ihm ein Gespräch führen kann, dass er Kunst macht und dass es ihm möglich ist zu verzeihen oder zu hoffen.

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Du sagst: Es wird sich schon fügen …, und meinst damit: Alles.

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Ich mache hier meine physiotherapeutischen Übungen und dort erschießt sich mein Onkel.

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Nichts ist für immer, das solltest du schon wissen, Mutti, schreibt meine Tochter per Whats App.

Abends, im Schein einer Tranfunzel


…  Martha kommt allerdings um 7 h morgens zu meiner Tür und schreit: „Tantile – Martha da!“ Wenn sie dann in meinem Bett sitzt, dann kannst Du Dir denken, wie ruhig es ist. Aber auch daran hab ich mich gewöhnt …

… Martha ist auch ziemlich schlimm, sie wird eben zu sehr verwöhnt. Aber sie bekommt ja ein Geschwisterchen, dann wird es schon anders werden …

1
Mir ist ein Brief meiner Tante an ihren Freund in die Hände gefallen. Er stammt aus dem Jahr 1968. Aus dieser Zeit kenne ich nur erzählte Geschichten über mich, nun liegt mir etwas Schriftliches vor, das eine kurze Episode aus meinen ersten Lebensjahren erzählt. Dieses Zeitdokument geht mir nahe. Ich suche in mir nach Erinnerungen, nach meiner Sicht auf die Situation an der Tür und auf dem Bett meiner Tante. Ich stelle mir vor, ich war wohl ausgeschlafen und neugierig und wollte ein Abenteuer mit meiner Tante erleben. Wie schön, dass ich (scheinbar) verwöhnt wurde. Ich bin stolz auf mich, wenigstens in diesem Alter schlimm gewesen zu sein.

2
Manchmal bin ich wütend: Wie naiv ich war! Mich so aufzusparen für einen Menschen. Mein ganzes Leben auf diesen auszurichten, während er längst seiner Wege gegangen ist.  Und jetzt meine ich manchmal, es sei zu spät, mich auf die eigenen Füße zu stellen, weil all das zu verletzend wäre – selbst für mich.

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Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist. Das steht beim Schottentor in Wien auf einem sehr großen Kunststoffrohr, das einige Meter über dem Boden quer über den Ring in die Querstraße führt. Ist es ein Kunstwerk?

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Ich kann noch nicht schlafen. Die vielen Gäste und Veranstaltungen, die in Zukunft kommen, gehen mir durch den Kopf. Ich stehe auf. Ich mache mir eine Tasse Milch mit Honig. Wann war es das letzte Mal, dass ich so etwas getrunken habe? Es beruhigt mich. In diese Ruhe beginne ich mit der Speisenplanung: Rehmedaillons mit Eierschwammerlsauce und Nudeln. Melanzani-Auflauf mit Frühkartoffeln und Salat. Und viel Polenta.

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Meine Aufmerksamkeit wird fast nur von Tatsachen absorbiert. Dabei möchte ich mich durch eine Welt aus Gedankengespinsten bewegen.

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Abends im Schein einer Tranfunzel singen. Ein Kärntner Psalmenlied oder „Es führt über den Main …“

Ursprünglichkeit


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Es ist eine Form von Freiheit, mehr zur Kenntnis zu nehmen als sich selbst. So verstehe ich meine Verbundenheit mit meinen Eltern, meinen Geschwistern, mit jenen, die vor mir waren.
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Ich beginne wieder, mich selbst zu spüren. Mein eigenes Universum zu sein und mich selbst als Geheimnis zu leben. Mit einem Ich, das ich nicht teile. Dabei ist es eine unmögliche Aufgabe, mein eigenes Ideal zu werden. Zum einen bin ich nicht alleine dafür zuständig und zum anderen ist das gar nicht notwendig (sinnstiftend?).
Hingegen Augenblicke des Glücks zu erkennen, das Leben nicht zu verpasst, es immer wieder in eine Erzählung zu bringen, ja, dafür fühle ich mich verantwortlich.
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Wir alle müssen unsere Körper auf den Markt stellen, schon den Kindern werden abstehende Ohren, ein schielendes Auge, schiefe Zähne weggemacht. Wir normieren schon die Jüngsten, damit sie auf dem Markt bestehen können. Aussehen und Ansehen sind Synonyme geworden.
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Die Wahrheit liegt im Körper des anderen, seiner Anwesenheit, seiner Stimme, seinem Geruch.
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Dass eine körperlose Macht auf die Idee kam, einen Körper zu erschaffen, ist und bleibt ein großartiger Geniestreich. Gehört bei Ganymed
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Hor·ror Va·cui/Hórror Vácui/Substantiv, maskulin [der].
von der aristotelischen Physik ausgehende Annahme, die Natur sei überall um Auffüllung eines leeren Raumes bemüht
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Bei der Tagung: Wir haben Kulis auf unseren Sitzen liegen. Kugelschreiber ohne Werbeaufdruck. Dass es so etwas noch gibt!
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Rotzfrech das aufschreiben, was ich fühle und was mir durch den Kopf geht?

Operationssaal

1
Gastfreundschaft
Ich besuche das sogenannte Herzstück des Krankenhauses, den Operationssaal und erfahre großzügige Gastfreundschaft. Zu Gast sind auch die Patientinnen und Patienten, die zu einer Operation herkommen, Gäste der besonderen Art. Eine kompetente und freundliche Frau, die sich hier auskennt, begleitet mich von Raum zu Raum und erzählt, beschreibt, weist hin. Von sich sagt sie: „Ich brenne für den OP!“.  Ich besuche diese Räume so unvoreingenommen wie möglich. Natürlich schaue ich trotzdem mit den Augen einer Seelsorgerin auf das Geschehen, ich frage mich, wo begegne ich hier dem Seelischen?

2
Türen, Schleusen und Übergänge
Wir betreten die Räume durch einen unscheinbaren Gang, dahinter tut sich eine neue Welt auf.
Es ist selbstverständlich, Schutzkleidung zu tragen. Zwei Mitarbeitende begrüßen mich und beschreiben mir zum Beispiel „einschleusen“ „vorbereiten“ … natürlich heißen sie auch die Patientinnen und Patienten willkommen, fragen nach, klären die Formalitäten, besprechen ruhig die nächsten Schritte. Ob sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hol- und Bringdienstes ihrer Bedeutung in vollem Umfang bewusst sind?

Für Kinder ist es zweifellos am besten, wenn sie von ihren Eltern hierher begleitet und im Aufwachraum wieder in Empfang genommen werden.

3
Nacktheit und Ausgeliefertsein
Die Patientinnen und Patienten fühlen sich hier nackt und ausgeliefert wie nirgendwo sonst.

4
Angst
Sie ist hier zu Hause, gleich beim Eingang. Ich erinnere mich an eigene OP’s, mit welcher Sorge man sich als Patientin in die Hände anderer, vollkommen Unbekannter, begibt!

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Mensch
Hier spricht man in Diagnosen: „Nabelbruch“, „Galle“. Wir begleiten eine Patientin. Ich schaue aus alter Gewohnheit auf das Namensschild, sie wird mir in sehr guter Erinnerung bleiben. is auf die Stelle, an der operiert wird, ist sie mit Tüchern zugedeckt.
Hier arbeiten Menschen aus den verschiedenen Disziplinen und Berufsgruppen zusammen.
Wie geht man damit um, wenn Fehler gemacht werden?

6
Vertrauen
Vertrauen spielt an jeder Ecke eine große Rolle, das Vertrauen der Patientinnen und Patienten, das Vertrauen der Berufsgruppen untereinander und ineinander, das Vertrauen in die gestellten Diagnosen, das Vertrauen in kunstvolle Handarbeit, das Vertrauen in die Technik und hervorragende Werkzeuge, das Vertrauen in die Planung. Nichts wird dem Zufall überlassen, auch wenn jede und jeder die Erfahrung gemacht hat, dass nicht alles planbar ist und man gut beraten ist, ein Höchstmaß an Flexibilität an den Tag zu legen.

7
Gott und Ohnmacht
Geht von jedem Chirurgen und jeder Chirurgin ein Hauch des Göttlichen aus?
Ist das so in den Augen der Patientinnen und Patienten oder in den Augen der Mit- und Zuarbeitenden, oder ist das gar im Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte verankert?
Ist das immer noch so?
An der Kleidung entdecke ich keinen Unterschied mehr.
Trotzdem herrscht eine klare Hierarchie und gleichzeitig arbeitet jede Person in großer Eigenermächtigung, der Ohnmacht zum Trotz.

8
Stille (die keine Stille ist) und Sprache
Die Ruhe ist hier daheim. Ihr zur Seite stehen Ordnung, Klarheit, Präzision.
Selbst der Schritt auf den Gängen ist etwas verhaltener und langsamer als der überdurchschnittlich schnelle Schritt im Krankenhausalltag außerhalb des OP’s, selbst Sprache tritt zurück und weicht ausgeprägter Mimik, Gestik und einer Haltung vorausschauender Aufmerksamkeit. Wenn es plötzlich nicht mehr ruhig ist, dann ist was passiert, sagt man mir.

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Ritual
Das Setting im Operationssaal folgt einer strikten Choreographie, einem einstudierten Ritual, der spannendste Moment ist der vor dem Schnitt.

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Warten
Hier muss man warten können, mitunter auch auf den Operateur.

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Fragen
Wird alles gut gehen?
Was können wir und was können wir nicht?

Wünscht man sich eigentlich vor einer großen OP alles Gute? Hält man vor einer großen Operation inne?

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Farbe
das Grün der Kleidung und der Tücher
das Braun bis kräftige Gelb des Desinfektionsmittels
das Silbergrau der Pinzetten, Spangen, Scheren
das Lila der OP-Schlapfen
das Weiß

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Fülle
es gibt sieben Operationssäle
in den Sälen herrscht eine konstante Kühle, sie sind steril, unter anderem durch ein ausgeklügeltes Be- und
Entlüftungssystem …
… voll beladene Instrumentenkoffer, Schatzkisten gleich …
… komplexe, technische Gerätschaften …
… Licht, Operationslampen …
… Brillen mit Mikroskopen …
… Verbände, Tupfer, Chemikalien …
… Bildschirme, Computerprogramme, Pläne …
… Abfall…

…Pause…

Ostsee


1
Ein halber Tag an der March: ein Vorbote.
Ein halber Tag an den Teichen in Nexing: ein weiterer Vorbote.
Die Reise an die Ostsee: Weite. Wasser. Wandern. Atmen. So stelle ich mir das vor.

2
Die Reise an die Ostsee beginnt damit, dass mich mein Mann dem von mir versäumten Bus hinterherfährt.

3
Das Krankenhaus St. Pölten liegt auf dem Weg.
Wie geht Genuss ohne Essen? Wie geht Genuss ohne Magen, fragt sie. Gehen? Kunst? Liebe? … ich soll das Meer von ihr grüßen lassen.

4
Liebe ist auf jeden Fall, wenn er jedes Mal an der Tankstelle stehen bleibt, wenn die Partnerin das will, auch wenn der Tank nur halbvoll ist.

5
Liebe ist, die von mir gekochte Rote-Rüben-Suppe zu essen.

6
In seiner Jugend mochte er Thomas Mann. Usedom ist für ihn eine der Landschaften, die Mann beschrieben hat: „Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit.“

7
In Wien für eine Nacht lang eine Wohnung mit Dachterrasse zu beziehen, ist schon Urlaub. Auf der Simmeringer Hauptstraße neben dem 71er in der Platanenallee ein einfaches Abendessen und ein heißer Wind, der mehr und mehr abkühlt. Wien. Brünn. Prag. Mit dem Flixbus. Um fünf Uhr früh fährt der Fernbus in Erdberg ab. Am Busterminal lese ich auf den vielen Plänen lauter Städtenamen, von denen ich noch nie gehört habe. Sophia und Thessaloniki sind am wenigsten exotisch, Durres, Ohrid, Plovdiv, Prileb, Vir. Alle liegen im Süden. Wir fahren in den Norden. Unsere beiden Buschauffeure sind Kroaten. Stoisch ernst. Oder gelangweilt. Souverän in ihrem Job. Sie sind am späten Abend in Zagreb gestartet.

Jetzt fahren wir durch ein Land, das über 40 Jahre lang keine Demokratie gelernt hat. Und dann kamen 30 Jahre lang stetes Erarbeiten eines Minderwertigkeitskomplexes. Differenziertes Denken und Argumentieren muss regelmäßig gelernt werden. Vielleicht ist die Natur hier in Ordnung. Biosphärenparks gibt es zur Genüge.

Obwohl wir nach Deutschland unterwegs sind, ist die Muttersprache der meisten Fahrgäste nicht Deutsch. Der Komfort ist ganz passabel, man kann sogar schlafen. In diesem Ambiente ein isländisches Buch zu lesen, gefällt mir. Im Buch ist es kalt und urtümlich. Und ich fahre wenigstens in die richtige Richtung. 

Mit meinem Reisegefährten teile ich eine Jause. Wir beschreiben, was wir vom Busfenster aus sehen und fühlen; Wetter und Temperaturen gesellen sich dazu.

8
Kurz vor Berlin sehe ich einen Rotmilan über die Autobahn fliegen.

9
Berlin ist voller Grünflächen, Wildkräuterwiesen und Mahnmalen. Das Mahnmal für die Juden. Das für den Genozid an den Roma und Sinti. Das für die Homosexuellen. Jeder Ort hat eine besondere Stimmung. Kunst kann im Nachhinein so vieles deutlich machen. Warum kann sie es nicht von vornherein, um diese Katastrophen zu verhindern?

Der Himmel ist immer noch groß in Berlin.

Die opulenten Bilder von Roxana Halls gefallen mir sehr.

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Gedicht aus dem Haus Kunst Mitte:

Allein
Gutgläubige Träumerin
In dem Zimmer
In dem du eine
Viertel Kerzenlänge
Lang geliebt hast
Allein
Klagst du und wertest
In schwarz gewandener Hoffnung
Umhüllt von Langeweile
Es ist viel zuviel
Zeit ohne ihn
In diesem Zimmer

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Die Übernachtung im Urbanloft nahe des Bahnhofs in Berlin ist trendig und auswechselbar. Ich fühle mich, als könnte ich überall auf der Welt sein. Die Leute, die das Hotel betreiben, sind sehr freundlich und zuvorkommend. Die Wände und die Seifenspender sind voll mit Weisheitssprüchen. Auf dem Klo lese ich: „Lieber Küssen statt reden“.

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Die Fahrt von Berlin nach Züssow und Bad Heringsdorf mit der Deutschen Bahn. HBF Berlin: Hunderte von Menschen. Alle wollen in den Urlaub. So wie in Wien. Wir kaufen noch Ampelmännchen-Souvenir am Bahnhof. Magersüchtige Frauen sehen aus wie Menschen, die man von den KZ–Fotos kennt. Man mag sie sich gar nicht nackt vorstellen. Kindern gefällt das Gedränge gar nicht. Hunden auch nicht.
Richtung Greifswald und Stralsund fahren, das ist lyrisch.
Manufakturenscheune steht auf einem Haus zwischen Stralsund und Stubenfelde.

13
Ein Reisegefährte interessiert sich im Vorfeld unserer Reise für eine Explosion auf Rügen, die eine Feriensiedlung zerstörte. Außerdem findet er im Internet die „Kleine Auszeit“ in Kamminke, wo Softeis angeboten wird. Er kümmert sich um die Diskussion, ob in Berlin ein Löwe oder Wildschwein entlaufen ist. Und er sorgt sich um unbeaufsichtigte Kinder in der Ferienanlage: „Unbeaufsichtigte Kinder bekommen bei mir einen doppelten Espresso und einen Hundewelpen geschenkt!“.
Brandmelder sind da. WLAN auch. Funktionieren tun beide nicht.

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Heute wächst hier die Welt schon zusammen. Die Natur gibt sich her. Konsum wird nicht allzu hoch geschrieben. Die Geschäfte sind klein und wenig marktschreierisch. Genuss geschieht unmittelbar. Die Oberfläche ist nicht so wichtig. Und die ganze Welt ist unterminiert von Krieg und Kommunismus, Warschauer Pakt, Nato und Schifffahrt. Aufwändige Kultur scheint nicht im Osten geparkt zu sein. Kunst auf jeden Fall nicht. Die Leidenschaft versteckt sich. Inspiration muss hier von Innen kommen.

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Unser Hauswart Peter besticht durch deutsche Ungründlichkeit.

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Die Ostdeutschen versuchen nicht, mich zu blenden, das können die Italiener. Die tun sich diese Arbeit an.

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Im Nachbarhaus leben zwei richtige Muskelprotze sind. Das Kind trägt Gummistiefel, eine lila Fließjacke und einen langen Pullover. Es schaut mürrisch. Hat wohl etwas nicht bekommen, was es wollte.

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Die Trockenrasenwiese auf dem Weg nach Garz und ein verfallener Friedhof, das sind Tageseindrücke, die bleiben. Überhaupt die Friedhöfe. Auf dem Golm (der höchsten Erhebung der Insel Usedom), früher beliebter Ausflugsberg mit einer Gaststätte, die sich Onkel Tom’s Hütte nannte (ein paar Grundmauern davon und zwei große, emailierte Töpfe, aufgespießt auf zwei Eisenstreben eines Betonpfeilers, erinnern daran), heute Grab- und Erinnerungsstätte des Luftangriffs vom 18. März 1945, dem etwa 6.000 Menschen zum Opfer fielen, ein wunderschöner Wald mit alten Koniferen, Eichen, Lärchen, Pappeln, bemoosten Böden und Denkmälern. Selbst die Gestalt gewordene Erinnerung sorgt immer wieder für Streit, denn die einen sähen lieber ein Kreuz, die anderen eine weinende Kriegerdenkmalsmutter und wieder andere einen erschreckend nüchternen Betonkranz als Mahnmal. Ein paar schlichte Steinkreuze geben den Namenlosen ein Gesicht. Wir essen eine Schnitzelsemmel in Garz in einer belebten Würstelbude, die ein AfD – Anhänger betreibt. Die Semmel schmeckt sehr gut.

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Es ist vorbei mit dem Tourismus. Zu viele Leute. Außerdem gibt es nirgendwo auf der Welt einen Landstrich, der nicht kontaminiert ist von denSchrecken irgendeines Geschichtsereignisses.

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Wir kaufen uns gelbe Regenmäntel. Der Strand ist nach wie vor sandig. Und dann sitzen wir endlich in der kleinen Auszeit am Haff.

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Ein Reisegefährte kauft in meinem Traum weiße Schuhpasta.

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Plötzlich nehme ich Sonnenschein oberhalb der Nebelschwade wahr – eine ferne Helligkeit, dunstig und überirdisch. Zwei Friedhöfe zwischen Garz und Kamminke erwecken meine Aufmerksamkeit. Gegen Abend fängt es zu regnen an. In der Nacht dreht der Wind auf Nord.

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Wenn sie „dreckiges Geschirr“ hört, stellt sie sich vor, dass man daraus Dreck gegessen hat.

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Heute sind wir Dünenmausi und Spreewaldratte!

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Wir müssen wohl alle zu viel arbeiten. Der Körper ist endlich. Im Urlaub wird das noch einmal deutlicher.

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Die Altkanzlerin Merkel macht in Dierhagen Urlaub.

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Ich verbringe den 22. Juli 2023 am Bahnsteig in Züssow. Und bin nach morgendlich sehr guter Laune sofort schlecht gelaunt. Denn die Deutsche Bahn schafft es nicht, Menschen zu transportieren.

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Der Schaffner im gerammelt vollen Zug von Züssow nach Seebad Heringsdorf: „Das ist nicht mehr tragbar!“
Unsere Haltestellen zwischen Züssow und Seebad Heringsdorf: Buddenhagen, Wolgast,  Bannemin Mölschow (das „w“ am Ende wird nicht ausgesprochen), Tassenheide, Zinnowitz, Zempin, Koserou, Kölpinsee, Stubenfelde, Ückeritz, Neu Pudagla, Schmollensee, Bansin, Seebad Heringsdorf, Neuhof. Endstation: Swinovice.

29
Die Schaffnerin im Zug mit 2stündiger Verspätung von Züssow nach Berlin/Bernau: „Da kann ich ihnen nicht weiterhelfen. Wir haben kein Internet.“

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Ein junger Bursche zu seinem Banknachbarn im Zug von Berlin nach Nürnberg: “Bring mich zum Lachen!“ Und dann lachte er.

31
Die Zugverspätung und die Zugräumung in Nürnberg erfolgen aufgrund der fehlenden Toiletten im Zug.
In Nürnberg arbeiten viele Afrikaner*innen und Asiat*innen in der Gastro.
In Nürnberg ist das ganze Jahr über Weihnachtsmarkt.
In Nürnberg auf einer Häuserfassade zu lesen: Ein Werk, ein Mensch, ein Wahrnehmen.
In Nürnberg beziehen wir ein Hotelzimmer und ich gönne mir eine Kingsiz-Dusche.

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Auf unserer Rückreise treffen wir am Bahnhof Wien Meidling einen Schriftsteller. Wir reden über seine Missbrauchsgeschichte, die er für einen Literaturwettbewerb eingereicht hat und darüber, dass seine beiden Töchter künstlerische Berufe gewählt haben.

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Ritual. Wiederholung. Die Welt mit Schwermut zum Schwingen bringen. Wichtig ist, dass man eintaucht und spürt, wie schön es ist, wenn da etwas zuverlässig vorangeht, ohne dass es vorangeht. (Isländ. Künstler: Ragnar Kjartansson)

34
Wo liegen: Strandir? Strandasyssel, Skaftarjökull, Thule, Dkagaströnd, Stykkisholmur, Kollafjardarnes, Reykjarfjord, Kluka, Trekyllisheidi, Sunnadaluhr, Nordurfjördur?

35
Wenn sich etwas dem Ende zuneigt, wird es gerne übertrieben.

Butter im Espresso


1
Er wird in meiner Wahrnehmung zu einem Mann, der wie alle anderen Männer ist, mit einem Leben, zu dem ich keinen Zugang habe und dessen Einzelheiten mich eines Tages zugrunde richten werden …

…durch die anderen hindurch erkenne ich dich besser. Ich kann wieder sehen, wer du warst. Unsere Absichten und Pläne decken sich nicht mehr, aber sie durchkreuzen sich immer wieder …

2
Aufgrund welcher Tatsachen liebt man seine Geschwister?

3
Etwas Butter im Espresso steigert die Leistungsfähigkeit. Das schmeckt nicht gut.

4
Die vielen Satelliten und Flugzeuge am Himmel bilden immer neue Sternbilder. Der Horizont verbindet uns.

5
Der Federspiel Grüne Veltliner schmeckt mir in der Wachau auch sehr gut. Es muss nicht immer Riesling sein.

6
Wenn meine Verletzung am Bein ausgeheilt ist, gehen wir ein Stück auf dem  Welterbeweg. Wahrscheinlich in Weissenkirchen. Oder den Achleitenweg. Oder einfach von Krems nach Dürnstein. Und dann mit dem Bus zurück. In der Verlängerung des Kuenringerbades kann man gut in der Donau schwimmen. Große Kieselsteine säumen das Flussufer. Genauso schön ist es, mit der Fähre von Dürnstein nach Rossatz zu fahren. Dort liegt Sand. Dort ist das Wasser der Donau seicht.

7
Sonne. Viel Haut.

8
Der Bus von Krems nach Spitz wird ausführlich genutzt. Er fährt einmal in der Stunde.

9
Felsen erscheinen im Abendlicht wie Trolle in der Nebelsuppe.

Kleine Geste


1
Ausladende Blumensträuße auf den Tischen im Haus, sie wirken wie geheime Opfergaben.

2
Die Berberfrauen haben sich bis vor kurzem diese Zeichen für „Freeman“ oder das böse Geister abwehrende Auge ins Gesicht tätowieren lassen. Und jetzt, tauchen auch im Buch von Bergsveinn Birgisson/Quell des Lebens solche „alte“ Zeichen auf. Gleich auf der ersten und auf der letzten Seite.

3
Die Seniorchefin des Hotels macht mir Angst. Sie lächelt mir gekünstelt ins Gesicht und muss sich große Mühe geben, mir nicht zu zeigen, wie sehr ich ihr auf die Nerven gehe. Ganz einfach, weil ich da bin. Und sie es leid ist, Gäste zu bedienen.

4
Am Nachbartisch reden sie zum Frühstück eine halbe Stunde lang über Matratzen. Das ist konsequent.

5
Der Welterbesteig spielt alle Stückl’n: Weingärten. Burgruinen. Kunst. Wald. Donau. Monumentaler Fels.

6
In der Donau baden heute alle nackt.

7
Was macht mich nur so unruhig? Immer noch das nahende Ende? Das nahende Ende von allem? Ich bin eine Getriebene, deshalb stürze ich so leicht. Ich gehe nicht in meinem Tempo und bin in Gedanken immer zwei Schritte voraus. Das mag meine Seele nicht. Mit einer Bänderzerrung und ein paar Abschürfungen komme ich dieses Mal glimpflich davon.

8
Eine Fliege will zum Topfen in meinem Topfenwickel vordringen.

9
Sich selbst lästig werden.

10
Der Zivildiener, der mich zum Röntgen begleitet erzählt, dass es in Mautern einen Badeteich gibt. Er wird von der Donau gespeist. Und der ist voll super.

11
Meine Zimmervermieterin hat etwas Mitleid mit mir, weil ich alleine unterwegs bin und diesen kleinen Unfall hatte. Im Krankenhaus sagen sie, es ist nichts gebrochen. Ich muss zugeben, ihr Mitleid tut mir gut.

12
Wie groß eine kleine Geste sein kann!

13
Der Arzt sagt zu ihr: „Sie können sich schon was wünschen, aber wir sagen Ihnen, was richtig ist!“

14
Sie liest Krimis zur Entspannung. Er kehrt die Kirchenstiege zur Entspannung. Das wird jetzt gegeneinander aufgewogen.

15
Nicht mehr Dinge besitzen, sondern mehr Leben.

 

Bruch


1
Niemand muss irgendwo hinziehen. Niemand muss bleiben, wo er ist. Niemand muss festsitzen.

2
Im Dorf kümmert man sich gerne um frisch gebackene, junge Witwen und Witwer. Ohne Rücksicht auf Verluste. Einkochen. Ans Fenster klopfen. Behaupten: Du willst doch nicht allein bleiben, oder?

3
Im Krankenhaus:

Opfer und Täter, das liegt hier sehr nahe beieinander.

Nach der erschreckenden Diagnose ist sie natürlich außer sich. Sie wird zur kontrollierenden Beobachterin ihrer selbst und ihrer Liebsten.

Jede Gesunde ist für jede Kranke eine Zumutung.

müdes Geschöpf


1
Ich bin ein schwitzendes, müdes Geschöpf. Mir ist schwindelig. Ganz egal, woran ich denke, was zu tun wäre, es würde zu viel Energie kosten.
2
Beim Wandern um die Fischteiche stellt mir ein Mann nach. Ich halte davon gar nichts. Es muss für ihn eine andere Lösung geben, um seine Triebe und seiner Einsamkeit in den Griff zu bekommen. Ich ärgere mich darüber, dass ich mich darüber ärgern muss, wie plump er daherkommt.
3
Der Kellner in Wien Mitte ist rotzfrech. Ich gebe ihm einen Zwanzigeuroschein und er probiert, mir auf einen Zehner herauszugeben. Ich schau ihn an und nach kurzem Zögern gibt er mir den fehlenden Schein. Schnell verlässt er meinen Tisch.
4
Der halbe Tag an der March war perfekt. Wir entdecken den Flusseinstieg in Stillfried, indem wir beim Stillfrieder Bahnhof über den Bahnübergang und dann gleich links in den Auweg hinein ins Fahrverbot fahren. Dann gibt es noch einen verwunschenen Vogelteich bei Stillfried. Am besten überquert man den Bahnübergang vor Grub und fährt auf dem Feldweg in südlicher Richtung. Der Teich hat die Form eines Kipferls. Wenn ich mich recht erinnere, sieht man ihn auch von der Bahn aus.
5
In der Nacht holt mich die Melancholie ein. Ich sehe mir unser Hochzeitsfoto an. Die Nacht ist ein faszinierendes System. Ich sollte auf die Wiese hinaus gehen und schauen, wie sich die Grasnelken oder der Waldstorchenschnabel im fahlen Licht der Dunkelheit zeigen. Dann könnte sich die Melancholie verflüchtigen.
6
Vier Tage nach meiner Rückkehr aus Deutschland wasche ich mich zum ersten Mal.
7
Der Tod wird unwirklich, wenn es nur mehr wenige Tagesreisen bis hin zu ihm sind. Mit dem Verstand kann ich nicht begreifen, dass der Verstand sterben wird.
8
Ich will nicht sterben, ich will, dass das Leben sich noch ein weniger länger durch die Risse quetscht, ich will den Sonnenstrahl auf dem Handrücken spüren.
Auch wenn ich nichts hätte als tränengetränkte Erinnerung, die ich wiederkäuen kann, will ich noch eine Weile leben.
9
Dieser Mensch ist reine Empfindung.

Wechsel

1
Es fällt schwer, sich von gewohnten Umständen, aus sinnvollen Beschäftigungen, aus erfüllenden Aufgaben zu verabschieden. Die Zuschauer*innen dieser Beobachtung mögen sich in Demut zurückhalten und Zeit und Raum lassen, für einen sanften Rückzug, Umzug, Übergang.

2
Ich höre Gerhard Roth im Radio sprechen. Er mag am Landleben den „Kalender“, den er vor der Tür hat, er mag die Jahreszeiten, die sich zeigen.

3
Wir halten „einander die Wahrheit“ sagen für Blödsinn. Wir gehören beide einer anderen Welt an, einer, in der ein Geheimnis dazu da ist, gewahrt zu werden anstatt entblößt. Ohne Geheimnis hat nichts Gewicht. Das Schweigen, das Zögern, das Zurückhalten – das gefällt uns. Jemand, der nichts zu verbergen hat, ist uns zuwider. Wir misstrauen der Transparenz.

4
Einmal im Leben muss man alles, alle Moral über Bord werfen. Das erleichtert. Man kann sich selber grundsätzlich in Frage stellen. Das befreit.

5
Ich suche die Göttin des Wechsels aller Dinge, ein sehr abstraktes Unterfangen.

6
Imre Kertesz: „Ich glaube, ich habe alle meine Augenblicke schon erlebt. Es ist fertig und ich bin trotzdem immer noch da“.