Autormartha

Demut


1
Man darf sich halt nicht immer alles wünschen, zum Beispiel dass man in der Nacht durchschlafen möchte.

2
Nach seiner Fußoperation will er nicht über das Gehen reden, sondern über die Demut.

3
Sie arbeitet schon seit 43 Jahren im Krankenhaus. Hier hat sie ihren Lehrberuf erlernt und hier wird sie in Pension gehen.

4
Ein junger Mensch weiß nicht, wie es ist, alt zu sein. Ein alter hingegen schon, wie es ist, jung zu sein.

5
Wenn man etwas realisiert, beginnt schon der Kompromiss. In Tagträumen hingegen kann man sich die Welt noch so ausmale, wie man sie haben möchte…

 

Dorf 3

1
Mein zugereister Freund und ich finden in ein Gespräch darüber, wie viel Kitt wir bereit sind, für die Dorf-Gesellschaft beizusteuern. Im Sparverein. In der Nachbarschaft. Im stillen Kämmerlein.

In einem Dorf verändert sich nicht so viel, wie man bereit wäre, an sich selber zu verändern. In einem Dorf am Laufenden zu sein heißt, sich im Kreis zu drehen. Man muss der Natur und den Menschen trotzen. Alle wollen dir an die Wäsche, beurteilen, kontrollieren, mit partizipieren, alles über dich wissen, mitnaschen. Alle wollen eine Familie sein. Neid ist Thema, da kann man nicht darüber hinwegsehen. Mit „allen“ meine ich 90 Prozent. Und die Kirche lasse ich vorerst auch einmal im Dorf.

2
Host du ka daham ned?, fragt mich der Kellner, weil ich meine Zeit schon wieder im Wirtshaus verbringe.

3
Im Wirtshaus sitzen lauter wohlgenährte, laute Marchfeldbauern. Da nehme ich mir jetzt kein Blatt vor den Mund. Außer der „Rudl, der is nimma do, der is schon am Onstond!Breitbeinig sitzen sie an den rustikalen Tischen und grölen einander zusammenhanglose Sätze zu. „Um 22 Uhr is Happy Hour … am Faschingdienstag in Lassee !“  Da gehen dann 16 Leute aus der Truppe hin. Der Kellner ist jung, hübsch und schwarzhäutig. Er muss jetzt „Gin Tonic mit viel Liebe machen.“  Dass dann einer von den Lustigen ungeniert der Kellnerin auf Hintern klopft, wundert mich nicht. Auch sie kommentiert es nicht.

4
Der Weinbauvereinsobmann verteilt die Einladung für die Weinkost an alle Haushalte und übersieht dabei, dass er die Vorlage vom Vorjahr vervielfältigt hat. Ein aufmerksamer Leser ruft an und sagt, dass er da schon gewesen sei, ob er nun heuer noch einmal dahin gehen solle und ob die Zeitmaschine vom Weinbauverein zur Verfügung gestellt würde.

Beim Raiffeisen Lagerhaus wurden drei neue Getreidesilos aufgestellt. Sie sollen gesegnet werden. Der Dienststellenleiter hat schon ein Kreuz gekauft, das ganz oben angebracht wird.

Die Nachbarkinder und deren Eltern und Großeltern sind unerträglich laut. Sie reden so, dass man alles mithören kann und muss. Das ist Absicht!

5
Meine Mutter und ich reden heute beim Telefonieren über die neue Koalition in Niederösterreich und darüber, dass man am Rettenbach (im Mölltal) von den Einheimischen mit dem Gewehr verjagt wird, wenn man auf einer Almwiese Grant‘n klaubt (Preiselbeeren pflückt).

6
Sie erzählt von den deutschen Gästen, die in ihrer Jugend schon ins Mölltal kamen. Sie hatten Geld und eine Sprache, die uns völlig fremd war. Der Wortschatz übertraf den unseren um ein Vielfaches und selbst wenn sie den größten Blödsinn von sich gaben, war jeder geblendet von genau dieser Sprache und wir glaubten, etwas sehr Geistreiches gehört zu haben.

7
Versöhnlich bin ich später mal, vielleicht …

Übersetzen


1
Kunst ist keine Macht, sie kann nur Trost sein. Wenn sie frei sein soll, darf sie auch keine Aufgabe haben. Was nicht heißen sollte, dass sie keine Kraft hat, im Gegenteil.

2
Der Andere ist die Begründung für das eigene Leben. Vielleicht ist es einfacher, wenn man nicht liebt.

3
Liebe

4
Psychogeographie

5
Ich werde nicht damit aufhören, den Aspekt Spiritualität in meinem Leben zu pflegen.

6
Wir treffen einander zufällig bei der Mutter im Pflegeheim. Heute sitzen wir das erste Mal im Kaffeehaus. Hier ist es doch entspannter und persönlicher als in der Wohngruppe. Der Kuchen ist frisch gemacht und schmeckt uns allen gut. Der Kaffee ist lauwarm. Die Betreuerin hätte uns eh einen Spritzer empfohlen…

7
Auf der Rolltreppe zur S-Bahn sagt ein Mann zu uns: „Lasst Euch nicht stören“

8
Er meint, er denke gar nicht so viel. Es sehe nur so aus.

9
Wenn Du nicht genau hinschaust, meinst Du, ich hinke. Aber, ich hinke nicht! Ich bin einfach nur ernst.

10
Du bist auf der Flucht, sagt er zu mir

11
Rote Stöckelschuhe in Passau kaufen.
Die Farben der drei Flüsse von oben fotografieren.
Sodbrennen haben.

12
Jupiter und Venus waren so nah beieinander, wie schon lange nicht mehr.

Gebärmutter

1
Die Frau hat ein Kind mit einem Trinker. Mittlerweile ist dieses Kind eine Jugendliche. Sie wollte es nicht und hat deshalb ein schlechtes Gewissen, weil sie meint, die seelischen Probleme der Tochter lägen in dieser vorgeburtlichen Ablehnung begründet. Wer ihr das wohl einredet? Mit 30 hat die Frau zu Gott gefunden. Vorher dürfte sie ein normales Leben gelebt haben. Sie sieht wunderschön aus – eine natürliche Schönheit mit einem üppig-warmen Körperbau.

2
Der Mann ist im Krieg. Der Sohn steht knapp davor, im Krieg mitzukämpfen. Die Frau lebt mit den zwei volksschulpflichtigen Kindern seit einigen Monaten als Flüchtlingsfamilie im Weinviertel. Das allein klingt schon wie einem dystopischen Film entliehen. Jetzt verlässt sie auch ihre Gesundheit. Sie liegt im Krankenzimmer, in das die Krankenschwestern gar nicht hineinwollen, weil sie es nicht aushalten, dass so junge Frauen dieses schicksalsschwere Leben ertragen müssen. Leben müssen. Mit Sinn erfüllen müssen. – Nein, damit müssen sie es nicht erfüllen.

3
Meine Reise durch das Krankenhaus führt mich in die Gebärmutter einer Rumänin. Darm, Gebärmutter, Eierstöcke sind miteinander verwachsen, bilden eine hochexplosive Insel mitten in ihrem Körper. Sie ist vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit Mann und halbwüchsigem Sohn in das halbfertige Haus eines Scheidungspaares gezogen. Das kann man sich leisten. Seit der Diagnose steht ihr Leben Kopf. Über allem stehen Schock und Ende.
Ich suche Luft zwischen den Gesprächen mit ihr, finde Windhauch …

4
Der Mensch braucht sehr viel Kraft, um das Leben zu überstehen.

5
Meine Mutter: „Mach es mit Freude, auch das, was Du machen musst.“
Ihre Mutter: „S‘ is wia’s is.“

6
Meine Mutter weiß, dass es ein spezielles Training für Frauen gibt, um ihre Sprechstimmen tiefer zu legen. Angeblich ist es so, dass man Männern aufgrund ihrer tieferen Stimmlage lieber zuhört. Ich weiß nicht …

7
Wer kann nicht nur zeigen, was ist, sondern auch, was sein könnte?

8
… vor mich hin werkeln …

Verborgenes


1
Die Liebe ist nicht ohne Leiden zu haben.

2
Hoffentlich seid Ihr jetzt über den Berg und die vielgerühmte doppelte Kraft nach einer überstandenen Krankheit hält Einzug bei Euch! Ich trinke Hirtentäscheltee. Aber sonst geht’s mir sehr gut!

3
Mit der Zeit, also im Laufe der vergangenen 57 Jahre, gelingt es, mir einen Sinnierraum einzurichten. Einen Raum, den ich überall hin mitnehmen kann. Die Fähigkeit des Schauens von etwas, das bislang den Augen verborgen geblieben war, ist somit ein Vorzug des Älterwerdens.

4
Ich sehe eine Wildschweinfamilie quer über die Straße laufen. Ich sehe einen Silberreiher in der sumpfigen Brache stehen. Ich sehe Fledermäuse bei Nacht und Mauersegler bei Tag. Was haben wir einander zu sagen, was bedeuten wir einander?

5
An manchen Tagen muss ich verstummen, weil kaum Blut bleibt, um durch Herz und Hirn zu fließen.

6
Wenn man auf einen hohen Berg steigt, hat man schon einen Teil der Erdatmosphäre unter sich.

7
Je mehr ich nachdenke, desto mehr geht mir durch den Kopf. Heute trinke ich schon am Vormittag ein Glas Frizzante. Das benebelt mich ein bisschen.

8
Am Nachbarbalkon sitzt eine Krähe immer an derselben Stelle in derselben Haltung. Ich brauche zwei Tage, um zu bemerken, dass es eine Attrappe ist. Bei einem genaueren Rundblick auf das Häuser-Dächermeer aus der Dachgeschosswohnung entdecke ich noch eine zweite Plastikkrähe dieser Art. Sollen sie bewirken, dass sich weniger Tauben niederlassen? Sie lassen sich nicht abschrecken.

9
Er empfiehlt mir, zwischen den Zeilen zu leben, jetzt, hier in der Stadt, nicht „zu mir zu kommen“ (ist schon ziemlich abgelutscht, dieser Ausdruck!), sondern zwischen die Zeilen. Das ist ein ungewöhnlicher Wunsch, den ich mir auf die Stirn schreibe. Im Normalfall wiederhole ich mich zu oft. Neue Saiten aufziehen sei mir Programm!

10
Die Straßenbahngleise vom 71er beim Zentralfriedhof werden saniert. Tolles Werkzeug liegt neben den herausgerissenen Schienen. Und massive Holzpflöcke. Die Arbeiter sehen in dieser aufgeräumten Stadt aus, wie einer anderen Welt entstiegen. Zwischen den Schienen liegen lauter Betonplatten. Zum Teil sind sie herausgehoben. Darunter liegt blanke Erde. Die Abflussrohre werden neu verlegt. Hoffentlich wissen die Tiefbauer, was sie tun. Alles sieht trotz der massiven Baustoffe sehr verletzlich aus, leicht zerstörbar. Die Natur scheint mir bei diesem Anblick ungleich stärker gegenüber dem, was Menschen machen können.

11
Zuneigung zu Steinen empfinden…

Krank sein, gesund sein, meistens irgendetwas dazwischen sein …

Der Frau zuhören, die in der Nacht bei offenem Fenster lauthals in einer mir unbekannten Sprache mit irgendjemandem stundenlang telefoniert …

Daran glauben, dass es auf dieser Welt keinen uninteressanten Menschen gibt …

12
Viele Bücher liegen neben meinem Bett. In einigen lese ich. Hab diesbezüglich eine gute Phase. Was meinen wir, wenn wir das Wort »Liebe« in den Mund nehmen, worum geht es, wenn von »lieben« die Rede ist? Die zu lesenden Texte und die Figuren, die in ihnen zu Wort kommen, lassen verschiedene Interpretationen dieses Wortes zu. Was verdient es, »Liebe« genannt zu werden?

Wertschätzung

 


1
Wertschätzung, muss man sich selber entgegenbringen und manchmal von anderen bekommen. Sie muss körperlich erfahrbar sein. Ich stelle mit Erstaunen fest, dass es auch mit mir so ist.

2
Wo ist die Grenze zwischen Jammern auf hohem Niveau und echter Not?

3
Um einen so aggressiven Moralismus zu vertreten, wie er heute üblich ist, muss ich meiner eigenen Vortrefflichkeit schon sehr sicher sein.

4
Wenn ich jeden Menschen, den ich treffe, so ernst nehme, wie er es verdient, kann ich nicht so weitermachen mit meinen Menschenbegegnungen. Ich kann nur einer Person pro Tag begegnen. Mehr geht nicht. Was sollen sie sonst denn denken von mir oberflächlichen Frau?

7
… ein Gruß, ein Dank, ein richtiges Wort zu gegebener Zeit …

… Ansehen verliehen bekommen, beim Namen genannt werden, ermächtigt werden, Verantwortung tragen dürfen, einer sinnvollen Aufgabe nachgehen können, wichtige Arbeit leisten, gerecht entlohnt werden, …

8
Werden wir schwermütig, wenn wir zu wenig Aufmerksamkeit bekommen?

5
Die Tankstelle in Schrick findet immer Personal, das freundlich ist. Der Tankstelle in Hochleithen passiert das Gegenteil.

6
Die Dinge beim Namen nennen. Mariendistel. Baldrian. Alant. Herzgespann. Malve. Storchenschnabel. Minze. Bergbohnenkraut. Ysop. Meertraubenstrauch. Ich bestelle französischen und russischen Estragon zum Auspflanzen. Zum Kochen verwende ich ihn kaum. Mutterkraut. Thymian. Rosmarin. Lorbeer. Den lasse ich heuer im Garten überwintern – es ist einen Versuch wert. Ringelblumen. Holler …

9
Heute begegnet mir ein müder Mann. Er ist es satt, als erwerbsmäßiger Ernährer funktionieren zu müssen, Vollzeit zu arbeiten, dafür nicht wertgeschätzt zu werden. Er beschreibt mir sein Sehnsuchtsbild vom sinnvollen Leben: Holz schneiden und Erdäpfel setzen.

10
Ich kann das Buch von Daniela Dröscher nicht lesen: „Lügen über meine Mutter“. Weil wir noch mitten drinnen stecken in der vom Patriarchat zerfurchten Welt.

11
Die Literatin Tanja Maljartschuk um 6.55 auf Ö1: … dann werden auch Frauen zu Diktatoren, auch sie werden einmal die Welt zerstören dürfen.

 

Weben


foto: Christa Plößnig

1
Milena aus Prag kündigt ihren Besuch an. Sie kommt aus einem anderen Jahrhundert zu mir und sie wird nicht viel Zeit mitbringen. Wir werden sie zu nutzen wissen. Sie ist ein lebendiges Feuer. Sie sagt, zwei Stunden Leben sind mehr als zwei Seiten Schrift. Sie wird sehr früh mit dem Zug anreisen, so plane ich, sie am Hauptbahnhof in Wien abzuholen und bei einer Tasse Kaffee im Café am Heumarkt eine erste Plauderstunde einzulegen. Vielleicht mag sie einen Apfelstrudel. Oder doch lieber Reisfleisch mit grünem Salat?

2
Ich werde Milena bitten, mit mir ein bisschen durch die Stadt zu streunen, an jene Plätze, die ihr von früher in Erinnerung geblieben sind, die Bedeutung für sie haben. Sie war schon viele Jahre nicht mehr hier zu Gast, was sie wohl heute von dieser Stadt hält?
Ich nehme mir vor, sie nicht mit allzu vielen Fragen zu bedrängen, weil ich weiß, dass sie ungefragt erzählen wird, weil sie wachsam ist und in meinen Augen lesen kann…Sie wird mir erzählen von den Frauen in ihrem Leben, ihrer viel zu früh verstorbenen Mutter, von ihren Arbeitskolleginnen im Verlag und ihren Mitstreiterinnen im Lager. Sie wird mir davon erzählen, wie sie es immer wieder verstanden hat und versteht, ihre Angst zu überwinden, um unerschrocken für Gerechtigkeit oder das Stillen einer Sehnsucht zu kämpfen. Sie wird mir sehr ausführlich von ihrer Tochter erzählen, von deren Entwicklung und den kleinen, feinen Geschichten, die sie beide einander zuflüstern, wenn sie sich nicht sehen können … was wünscht sie sich für diesen jungen Menschen?
Und spätestens nach dem zweiten Achterl Wein im Café Carmen wird sie mir davon erzählen, was es für sie bedeutet, ein Leben zu führen, in dem nichts fehlt, das durchtränkt ist von Einsamkeit, Glück und Liebe, ein Leben, das der Erde sehr nahe ist. Und ich, redselig geworden durch den Alkohol, werde nun doch von ihr wissen wollen, ob es eine Form der Beziehung gibt, die größer ist als die Liebe.

3
Ob wir es danach noch schaffen, pünktlich zum Abendessen mit Janosch, Fuzzman und meinem Mann im JüdischeMuseum zu erscheinen?

4
In der „Goldenen Spinne“ habe ich ein Zimmer für sie reserviert. Es bleiben ihr nur ein paar Stunden Schlaf, da ist dieses Hotel die richtige Wahl. Ich habe das Zimmer mit der goldenen Wand genommen. An ihr hängt ein Spiegel mit goldenem Rahmen und eine Frauenporträt. Das große Fenster lässt viel Licht herein. Sie kann den Blick auf Stadtpark und  Stephansdom richten. Sie wird ein Bad in der großen Wanne nehmen, das wird ihr guttun nach dem langen Tag.

5
Wohin wird ihre Reise sie nach dem Wienaufenthalt weiterführen? Sie hält sich diesbezüglich bedeckt.

6
Ich fahre heuer im Sommer an die Ostsee. Ich plane die Route so, dass ich am Schwedtsee eine kurze Rast einlegen kann.

Mail

1
Heute lese ich folgenden Satz in einer Mail: „Lieben geht nur in der Langsamkeit, Liebe braucht Zeit.“
Inhalt und Versandart stimmen nicht überein.

2
Ich bring eine weiße Flamingoblume zu unserem Treffen in einem einfachen Bistro in der Stadt. Wir kennen einander von frühester Kindheit an und haben uns Jahrzehntelang lang nicht gesehen.  Er kommt tadellos gekleidet zu unserer Verabredung: Anzug, Gilet, weißes Hemd. Seine Gesichtsfarbe ist sehr hell. So kenne ich ihn. Er nimmt sich kaum Zeit, an die frische Luft zu gehen. Er sitzt wohl nach wie vor lieber bei seinen Büchern.

Er erzählt von seiner Schulzeit. Er erzählt davon, viel zu spät erfasst zu haben, dass er gar nicht so viel tun muss, um durchzukommen. Er, der Introvertierte,  hatte keine Freunde in der Klasse. Er erzählt vom letzten Jahr vor der Matura, das er lieber zuhause verbrachte als in der Schule, dorthin nur zu den Prüfungen ging, weil das trostlose Absitzen in freudloser Umgebung keinen Sinn machte.

Vor Jahren hat er eine 1000seitige Glockenkunde von Österreich veröffentlicht. Er kann jede Kirchen- und Kapellenglocke Österreichs an ihrem Klang identifizieren.

Er macht jetzt eine weitere Ausbildung. Für die Erstellung eines Herbariums wird er eine alte Holzschatulle seines Vaters verwenden, eine Laubsägearbeit, die dieser vor 70 Jahren im Gymnasium in Tanzenberg anfertigte und die er, der Sohn, am Dachboden des Geburtshauses seines Vaters entdeckte. Bei der Bewertung der 120 gesammelten Pflanzen, wird auch die Aufmachung und Verzierung des Kästchens herangezogen und  sollte maßgeblich zum einem guten Prüfungsergebnis beitragen. (Schon wieder Schule?)

Jeden Abend telefoniert er mit seiner Mutter. Er mag keine E-Mails schreiben, das kostet ihn so viel Zeit, weil er den Ehrgeiz hat, keine Fehler zu machen, es formal auch gut hinzukriegen und eben einen guten „Aufsatz“ abzuliefern.

Mitten im Gespräch sagt er zu mir: “Ich freu mich sehr, ich kann es nur nicht zeigen, morgen werde ich es erst realisieren, und es mein Leben lang nicht vergessen.“ Es tut mir leid, kein Foto von uns beiden gemacht zu haben.

3
Immer wenn wir den Weg ins Mölltal über den Neumarktersattel nehmen, fahren wir an dem Dörfchen Mail vorbei. Liebenfels, auch das ist ein schöner Ortsname!

Gast

1
Wien liegt mir zu Füßen.

2
Es dünkt mir ungewöhnlich, bis weit nach Mitternacht in einem fremden Haus bei bislang fremden Menschen Wein zu trinken.

3
Mit meinen ungezählten Giveaways aus Keramik niste ich mich in Häuser, Wohnungen und Gärten von Menschen ein, die ich mehr oder weniger oder gar nicht kenne.
4
Der Buchtitel Adas Raum macht mich neugierig.
5
Meine Räume sind Sehnsuchtsräume. Einsamkeitsräume. Es zieht mich dahin, wo keine Menschen sind. So gelingt es mir besser, mein anerzogenes, positives Menschenbild nicht über Bord werfen zu müssen.
6
Sie ist zu ihm gezogen. Jetzt haben beide zu wenig Raum und das Häuschen muss neu definiert werden. „Wir sind zu Gast in unserem Haus, ein Zimmer für dich, ein Zimmer für mich…“
7
Er wächst auf am Land, gemeinsam mit sechs Geschwistern und viel Gewalt. Es gelingt ihm, sich daraus zu befreien und sich von der Vergangenheit zu lösen. Er lernt Koch und beginnt, viele Dinge auszuprobieren. Er erkundet Südamerika barfuß mit dem Rad, lebt ein paar Wochen im Regenwald. Er heuert als Schiffskoch an, u. a. auf einem U-Boot. Mit der Besatzung kommt er in Gefangenschaft in Dschibuti, woraus er sich durch einen Hungerstreik befreit. Zu einem seiner schönsten Erlebnisse zählt er einen heftigen Seesturm, den er festgeklammert auf einem Schiffsmast ganz oben über sich ergehen lässt und überlebt. In seinen späten Jahren hilft er einer verwitweten Freundin ein altes Bauernhaus herzurichten, er heiratet sie der Ordnung halber und bleibt. Er ist ein Hüne von einem Mann, kräftig, groß und trägt Haare und Bart lang. Manche Einheimischen sagen Jesus zu ihm. Ein alter Mann bekreuzigt sich sogar einmal, als er ihm begegnet. Jetzt ist er schwer krank, will keine Medikamente nehmen, weil er bis jetzt alles in seinem Leben mit mentaler Kraft überstanden hat. Er hat große Schmerzen und meint: Wir sind nur Gast auf Erden.

Erschöpfung

1
Die große Müdigkeit hat mich gestern Abend erreicht. Und heute ziehen deren Ausläufer wie ein feiner, zäher Schleim über den ganzen Tag. In der Arbeit ist die Ablenkung Erholung. Die anderen halten mich aufrecht. Das Arbeitspensum. Die Menschen, die etwas brauchen oder wollen. Die schönsten Stunden sind jene am frühen Morgen. Ich sollte wieder einmal zu essen aufhören, dann kommt die Energie zurück.

2
Jedes Mal vor meinem Dienst stehe ich vorm Spind und höre mich zu ihm sagen: „Kasten, ich möchte dich nie wieder aufsperren!“ Ich stelle mir vor, wenn ich ihn das letzte Mal ausräume, darin einen kleinen Zettel für meine Nachfolgerin zu hinterlassen, auf den ich schreibe: „Ich wünsche Dir Freiheit!“

3
„Du bist erschöpft, eh klar!“ Das darf genau niemand zu mir sagen!

4
Sechs Wochen Kur? Sechs Wochen im Kreis mit 12 anderen Belasteten zusammensitzen und mir ihre Geschichten anhören??

5
Die Gegenwartserschöpfung ist keine Befindlichkeit, sondern ein politischer Zustand.

6
Können bitte einmal alle damit aufhören!

7
Man sollte eine Zeitlang durch den Wald gehen und zu schreien beginnen. Es sollte ein lautes, unermüdliches Schreien sein bis hin zur Erschöpfung am Ende sollte man vergessen haben, was einen so umtreibt. Man sollte nur noch den Körper spüren, sein Zittern, seine Ermattung.

8
„Ich habe für eine Beschwerde bei der Mobbingstelle keine Kraft mehr!“, sagt er

 „Hoffnung habe ich keine mehr, aber Kraft hab ich noch!“, sagt sie.

„Die Therapeutin habe ich aufgrund ihres Vornamens ausgewählt. Sie heißt so wie meine Enkeltochter“, sagt eine andere.

 „Ich war meist etwas müde und konnte somit alles gut genießen“, schreibt mir meine Schwester.

Was mir das Auffallendste ist: meine Gefühlsarmut. „Blende es aus. Blende einmal alles aus, was weh tut“, sag ich zu mir.

9
Motorsensen können ganz schön penetrant sein.

Die Zeit haben, etwas ausklingen zu lassen, … das Gespräch oder einen Arbeitstag oder das gehörte Lied…

„Los lei lafn“, sagt Fuzzmann

10
Beide sitzen wir fest in unseren Leben und können nicht zueinander.

11
So tun, als ob es regnet.
Ins Grün schauen.