Autormartha

Adventkranz

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Die Kinder sind zu Besuch, wir essen zu Abend. Wir haben Muscheln vorbereitet. Und Salat und ein selbstgebackenes Knäckebrot. Der Käse, den uns die Freundin aus der Steiermark mitgebracht hat, passt auch dazu. Es gibt immer noch Feigen vom Baum aus dem Garten. Später mache ich doch noch ein paar Gläser Marmelade daraus. In der Nacht kann ich nicht schlafen, weil ich ans Geld denken muss. Dass es immer knapp ausgeht und wir diesbezüglich den Kindern nicht wirklich eine Hilfe sind. Es ist und bleibt nur ein Herantasten an ein ausgewogenes Dasein. Stabilität gibt’s im Grab.

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Sonst ist die Nacht voller Träume und am Nachmittag bin ich müde. Wenn jemand vertrauensvoll in die Richtung seiner Träume vorwärtsschreitet und danach strebt, das Leben, das er sich einbildet, zu leben, so wird er Erfolge haben, von denen er sich in gewöhnlichen Stunden nicht zu träumen wagt. Ich bin noch nicht so weit.

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Ein kleines Stück vom Kuchen. Ein berührender Film. Ohne Schnörkel. Aus dem Iran. Wenigstens ein paar Bilder, die nicht abschrecken!

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Eine Gottesanbeterin sitzt auf dem Fensterrahmen. Bei meinen Morgenübungen, die ich mit Blick auf den Garten verrichte, sehe ich ihr direkt in die Augen.

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Eine Kollegin erzählt, dass zum Adventskranzbinden bei ihr zu Hause jedes Jahr an die 30 Leute kommen.  Es ist ein Sehnsuchtsbild, so viele Menschen um sich zu versammeln und es miteinander gut zu haben. Gleichzeitig weiß ich, wie viel Kraft es kostet, sich diesen Menschen auszuliefern UND Gastgeberin zu sein. Da, wo ich jetzt bin und wie ich jetzt bin, geht das nicht mehr. Diese Kraft ist nicht mehr da, außerdem benötige ich sie für Reflexion.

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Es ist manchmal gar nicht möglich, in der kurzen Zeit, in der wir ohne einander sind, neuen Wert füreinander zu erlangen. Eine andere Kollegin sagt dazu etwas Wichtiges: Es kommt, wie es kommen muss. Und ohne Depression ist alles möglich.

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Ich brauche ein wenig Alleinsein. Jenen Anteil an Ewigkeit.

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Rasten. Zu Gast sein.

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Ein Sofa im Zimmer und zeichnend denken.

Kisten

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Im Künstlerhaus betrachte ich Wunderkammern.
Ich sehe schon wieder Kisten. Befüllt mit Dystopien. Oleg und Ludmilla. Die Kontinuität der leeren Versprechungen. Widerhall des Spechtes. Die Wege und Irrwege der Errungenschaften. Objektkästen, Assemblagen.
Ich baue weiter an unserem Haus als Wunderkasten. Es gibt ohnehin keine andere Möglichkeit, als sie zu bauen und nach und nach zu befüllen.

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Bei der Führung erfahre ich: Wunderkammern waren die Vorläufer der Museen. Introduction – Naturalia und Artification – Collection, Memoria – Futurum.

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In unserem kleinen Häuschen geht sich nur die Petersburger Hängung aus.

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Die Fotos der großen Gschnasfeste im Künstlerhaus erinnern mich an die großen Seminarfeste zwischen 1987 und 1990.

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Ein Leporello ist auch eine Art Wunderkammer. Katja Oskamp hat eines für ihren Mann erstellt, mit dem sie nie eine gemeinsame Adresse hatte. Sie ging in ein Fotostudio, und ließ sich in Korsage geworfen ablichten.

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Der Zehentkeller wird verkauft. So gesehen bin ich noch einmal dankbarer, dass wir diesen Raum als Kokon für unsere Kokons genutzt haben. Ein Raum im Raum im Raum unter der Erde.  Eine Überraschung in der Überraschung in der Überraschung. Wie schön war es, völlig ahnungslos hineinzugehen und sich plötzlich an einem Ort zu wähnen, der überall auf der Welt sein könnte, und sich den eigenen Gedanken hinzugeben, den Phantastereien und erfüllbaren Wünschen. Verflochten, verwoben, ineinander verschlungen und verbunden, ohne sich zu berühren. Die Begegnung des Innersten zur Schau gestellt im Bauch von Mutter Erde.

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Es freut mich, bereits im im Besitz einer Tontenlade zu sein. Die letzte Kiste.

Gegenwart

Wir sprechen über unsere Gegenwart und unsere Zukunft.
Wir werden nichts verändern, sondern unsere Gedanken immer weiter feinjustieren.

Weinlesen. Gruß aus der Küche

Verblüffende Zärtlichkeit

1
Mein erstes Gefühl des Sesshaftwerdens im Weinviertel stellte sich beim beim Setzen von Weingartenknoblauch- und Zwiebelknollen ein. Ein intuitiv richtiger Akt der Einübung in die Zugehörigkeit zu diesem Menschenschlag und dieser Landschaft. Parallel dazu hat es sich bis heute als richtig erwiesen, dass ich mein Fremdsein als Grundgefühl und Lebenseinstellung pflege. Dazu gehört man ja erst dann, wenn man in den Augen der UreinwohnerInnen alles richtig macht. Ich bin zu Hause im geteilten Wort und in der Stille dazwischen.

2
Erntehelfer „Nummero Eins“ hilft beim Aufhängen der Netze, die Stare und andere Tiere abhalten sollen, die süßen Trauben zu holen. Ich koche ein gutes Mittagessen. Weinbau ist unser Hobby.

3
„Darf ich heuer bei der Lese mitarbeiten? Ich bin so gerne in deiner Nähe.“

4
Ich fürchte mich ein bisschen vor der Anstrengung der Lese. Bin nicht ausgeruht. Die Hitze der vergangenen Monate weist mich in meine körperlichen Schranken. Ich kann mit Stress immer weniger umgehen, ich mag es, alles gut zu planen. Die Natur macht mir einen Strich durch die Rechnung, weil sie ausschließlich Flexibilität fordert. Sie ist unbarmherzig und großzügig. Beides in unermesslichem Ausmaß.
Zudem brauche ich noch eine gute Idee für die kulinarische Begleitung fürs Weinausschenken beim Weinpfad. Der findet auch in der Lesezeit statt.

5
Von unserem Hühnervolk sind noch eine Henne und ein Hahn übriggeblieben. Sie bekommen keinen Zuwachs mehr, dafür Gnadenkorn. Obwohl ich Hühner als Haustiere vorbehaltlos akzeptiere, schlage ich ein paar hühnerfreie Saisonen vor. Wird genehmigt! Beim Weingarten kann man solche Pausen nicht einlegen. Dauerkultur nennt sich das so schön. Die Tochter lässt diesen Begriff im Vorbeigehen fallen. Weinbau also entweder ganz oder gar nicht. Während der Lese steigt der Eierverbrauch stark an.

Herzblatt, Quitte, Maulbeere

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Ob mir heuer wieder jemand einen opulenten Blumenstrauß zum Leseabschluss schenken wird? Letztes Jahr war diese Gabe wie Balsam für meine Seele.

7
Vorbereitung auf die Weinlese heißt: Küche putzen, Geschirr zusammensuchen, Lebensmittel einkaufen, im Garten ernten, Speiseplan erstellen.
Kochen ist die geringste Arbeit. Das Abwaschen die meiste. Alles in allem ein sinnlicher Prozess.

8
In der Ruhe vor dem Sturm fallen mir viele Dinge gleichzeitig ein, die mit der Weinlese zu tun haben: Die Mühe, die das ganze Jahr über in der Arbeit im Weinberg steckt, an der ich nur im Hintergrund teilnehme, weil ich das andere mache, wofür die Weingartenarbeitenden keine Zeit haben.  Wird die Qualität der Trauben dem prüfenden Blick der Großtante standhalten? Wer bezahlt gerne für das Achterl mehr als zwei Euro und wer mag das neue Fass bezahlen? Trägt der Winzer Bio-Unterwäsche, um durch die Biokontrolle zu kommen? Wird mein Kreuz mitspielen? Werden die Menschen, die von weit her anreisen, nicht enttäuscht sein? Werden die Menschen, die von hier sind, nicht enttäuscht sein? Ist genügend Wasser eingekühlt und wer ist für den Plan B zuständig? Reichen unsere Kräfte?

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Ein Freund sagt: Irgendwie ist es bei euch wie in einem französischen Film. Kurzurlaub auf intensivem Niveau. Und dann schießt er noch das Rezept für die Sausömü nach.

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Lesespeiseplan.
Liptauer, Chillischmalz, Erdäpfelaufstrich, Linsenaufstrich, Humus, Kelleraufstrich, Lauchaufstrich, Rote Rübenaufstrich, Leberpastete, Verhackert, Quargelaufstrich, gekochte Eier, eingelegtes Sauergemüse, Paradeiser, Paprika, Gurken, Ananas, Leberkässemmel, Sausömü, vegetarische Bratlinge, Mohnstrudel, Nussstrudel, Nusskuchen, Zwetschkenkuchen, Apfelkuchen, Birnenkuchen, Tiramisu, Mousse au chocolat, Eis, Nusskipferl, Kürbissuppe, Kurkuma-Pilz-suppe, Zwiebelsuppe, Gulasch im Kessel, Faschierter Braten, Erdäpfelschmarrn, Hühnerfilets, grüner Salat, Reis, Strangelen, Tsatziki, Linsental, Melanzaniauflauf.

 

Deutungshoheit abgeben

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Im Weingarten kommen alle ins Gespräch. Manchmal hat das alles den Anschein einer Gruppentherapie, manchmal eines Markttages für G’schichtldrucken. Ein Wagnis auf jeden Fall.
Der eine Freund zieht doch nicht – so wie man munkelt – nach Vorarlberg, die beiden Frauen sind schon lange ein Paar, ohne dass wir es wussten, die Fotografin geht über ihre Grenzen und die Freunde aus dem Norden sind irgendwie am Sand, aber das war schon immer so.
Der andere Freund kommt nur so vorbei, um zu schauen, was bei uns los ist, bleibt picken und kauft für alle Eis. Der dritte Freund mag nicht allein sein. Und schon gar nicht allein in einer Zeile lesen.
Die Tochter macht Stimmung im Weinberg. Aber das ist bei der Hitze nicht mehr nötig, da hilft nur noch aufhören, und das wiederum wagt niemand auszusprechen, bevor die Zeile nicht fertig ist. Die eine Freundin meint, wenn man an die Grenzen geht, braucht man dann keine Cheerleaderin mehr.
Der Winzer und die Winzerin husten um die Wette und tun so, als ob eh alles passt, wie es ist. Der Sohn kümmert sich bravourös, wenn`s brennt.
Die Weinbauexperten von der Uni sagen: Weinbau ist Arbeit! Und Weinbau ist eine Dauerkultur (schon wieder!). Und auch diesmal darf uns jeder, der will, in die Karten schauen.
Die Tochter muss einen halben Lesetag lang schlafen und die Freunde der Kinder bemerken, dass ich heuer wenig Nerven habe und der vierte Freund liest heuer zum ersten Mal mit Inbrunst mit.

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Ich leide mit, wenn die Trauben nicht schön aussehen.

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Der Schöpflöffel auf der Aufhängevorrichtung über dem Gulaschkessel ist voller Kruste und der Gulaschkoch gibt sein Bestes, sein bestes ungarisches Hirtengulasch. Und die besten Freundinnen helfen ausgiebig beim Zaubern kulinarischer Sinnesfreuden: süß, sauer, salzig, bitter, umami, fett, scharf, in ausgewogener Struktur, in ansprechenden Farben, mit Liebe, auf den Punkt. (Spruch meines Schwagers).
Ein Cousin isst drei Sausömü, eine Gerda bäckt fünf verschiedene Kuchen, wir sind aufeinander eingespielt und wir kochen gerne.
Für den zwischendurch gemixten Mojito bleibt zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit. Alle Töpfe finden Verwendung und ich brauche bald enen Deckel für den großen Hefen.

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Das Handy ist wichtiges Werkzeug: Bitte die Jause bringen! Der Kercher ist kaputt, wo ist ein Reservegerät? Der Rebler schafft die dicken Kampe der PIWIsorten nicht, wir kommen später. Bitte bring noch Apfelsaft mit und ein großes Messer fürs Brot und frische Socken! Is everything possible?

Heute geht’s uns allen furchtbar

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Eine Freundin powert sich gerne aus, wenn nichts mehr geht, nicht aufgeben, durchhalten und die Netze von Hand aufrollen, weil der Akku leer ist.

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Zwei jugendliche Mädchen waschen mit großer Begeisterung 200 Weingläser von Hand ab.

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Zwischendurch: Nur noch Enge zwischen den Weinbergen – so wie früher manchmal in den Hohen Tauern. Ich bin eingesperrt im Kurz-Denken, kann im Kopf nicht über Maßeinheiten und Wetterbericht drüberhüpfen. Der Gedanke, die richtigen Entscheidungen treffen zu müssen, legt sich schwer auf mich. Ich würde sehr gerne viel Sprudel trinken, um leicht zu werden. Einen halben Zentimeter über dem Boden zu schweben, würde bedeuten, aus dem ewig Gleichen auszubrechen.

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Es hat 35 Grad im Schatten. Wir kommen an unsere Grenzen. Die Trauben auch.

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Nach dem Mittagsschlaf ist es möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Mama schickt mich in Urlaub. Ich beantrage eine Mitgliedschaft bei den Naturfreunden. Der Freund vertraut mir sein Auto an, damit ich einfach losfahren kann. Wir werden immer bescheidener.

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Es ist wild.

Jede Ritze, jeden Spalt salben

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Dann beginnt es zu regnen. Vor Leseschluss. Sintflutartig. Die restlichen Trauben, die noch hängen, werden aufspringen, sag ich. Unsere Beziehung auch. Die Lese verhält sich wie eine Lupe auf unser Familienleben. Wir meinen, heuer ist es hart. Die „Krise“ in dieser Geschichte ist das Wetter. Tropenhitze und Regenflut. Aber: Das Wetter und die Natur sind natürlich jedes Jahr die „Krise“. Wir arbeiten mit Unsicherheiten und Zerbrechlichkeiten und mit diversen Ansprüchen. Die Natur wird uns auf jeden Fall überleben. Sind ja nur ein winziger Teil davon.

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Wir müssen einigen Lesegästen absagen. Sie werden heuer nicht dabei sein. Ich bin enttäuscht.

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„Ja, wir sind Helden! Ich konnte nicht anders, als heute im Nieselregen den Sauvignir gris runterzunehmen. Mit meinen Männerfreunden! Gut, sie WAREN meine Männerfreunde nach diesem Ereignis“, beteuert der Winzer.

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Mein Mann hat Ideen. Ist das nicht zum Verrücktwerden? Oder ist es einfach eine schöne Geschichte?

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Der Regen schickt uns ins Haus. Die Tochter legt Austern und Champagner in die andere Waagschale. Upcheering nennt sie das, schreibt: „Life is good“ in die WhatsApp-Nachricht. Wir genießen die kulinarischen Trostpflaster in der nahen Stadt. Immer wieder brauchen wir das. Trost. Selbst in der Landwirtschaft.

„Wer ist hier der Chef?“

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„Papa, wenn es dich nicht gäbe, dich müsste man erfinden!“

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„Ich gehe morgen ins Dampfbad. Ich brauch das!“ sagt der Winzer. Nach einer sehr langen Pause: „Magst Du auch mitkommen?“ Wir wissen beide, es ist sehr gut, nicht zu wollen.

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Die Trauben sind trotz Regen nicht aufgeplatzt.

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Heuer bekomme ich viel Grün aus dem Garten der Freundin geschenkt. Wir dekorieren damit die Alte Schmiede, in der wir essen. Und dann bekomme ich noch das Glas für die kaputte Petroleumlampe geschenkt. Alles renkt sich ein.

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Und wenn dann alle an einem großen Tisch sitzen und essen, dann bin ich zufrieden. Das Tor zur Straße hin ist offen, man blickt hinaus auf die Kreuzung. Immer wieder bleibt jemand stehen und trinkt ein Glas Sturm oder Wein. Ein Neugeborenes kommt mit seinen Großeltern vorbei. Das kriegt noch keinen Sprudel. Die Großeltern schon. Die Freunde der Jungen bevorzugen Spritzwein.

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Wir denken laut darüber nach, doch mit der Lesemaschine zu ernten. Ein Lesegast sagt, es würde uns allen sehr fehlen, wenn wir nicht mehr lesen, so wie wir lesen.
Die soziale Dimension von Landwirtschaft wird bei der Handlese sichtbar. Wo sonst noch in der Bauerei?

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Ich liebe die Ruhe, die sich einstellt, wenn alle nach Hause gegangen sind und ich mich für eine kleine Weile an den verlassenen Tisch setze. Ein paar geleerte Gläser stehen herum, zerknüllte Servietten, Brotkrümel. Durch das Fenster schaue ich auf den verwilderten Vorgarten mit dem Nussbaum. Am Himmel zeigen sich erste Sterne. Treue hilft, in der Welt nicht verloren zu gehen.

Ich bin so alt wie das Blut in deinen Adern

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Die Weinlese ist für dieses Jahr vorbei. Es ist jedes Jahr ein Abenteuer. Menschen, Wetter, Boden, Trauben, Maschinen, alles muss zusammenspielen. Irgendwie. Das Ziel: am Ende ein schönes Festmahl und im Keller guter Traubensaft … Wein …
Zur Feier des Tages sitze ich mit der Tochter auf dem Schlosserberg, dort, wo das Sortenspiel wächst. Wir essen die Reste des Festes und schauen dem Sonnenuntergang zu. Wir haben es gut gemacht und ich wünsche mir von Herzen, dass die Kinder Freude am Tun finden und Menschen, mit denen sie diese Freude teilen können. Ich staune ein wenig, was ich noch alles kann und vor allem, was ich nicht mehr kann, leisten kann.

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Zur Nachbesprechung im Oktober lassen wir uns Pizza liefern. Der Winzer ist dankbar. Und gerührt. Seine Leidenschaft wird geteilt.

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Viel später im Herbst, wird die Mutter sterben. Mitzi, sie steht auf den Weinetiketten an erster Stelle. Ein Kreis schließt sich.

Später


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Im Moment scheint es, als ob der Mensch sich in sein eigenes Unglück stürzen will. Viele finden die Demokratie nicht aufregend genug und wünschen sich stattdessen Anarchie oder Autokratie. Der Mensch ist sein eigener schlimmster Feind. Aus Sehnsucht nach Überraschung und Spannung wird wohl alles ausprobiert.

2
Schuhe geputzt. Schuhe bestellt.

3
Mit dem Alter wird man immer sensibler, so, wie im Bett vor dem Einschlafen, oder nach dem Aufwachen, da ist man sehr durchlässig für alle möglichen Gefühle.

4
Heute nehme ich meinem Mann mit Gelassenheit den Wind aus den Segeln. Und morgen, da lass ich ihn ganz einfach segeln und winke ihm hinterher.

5
Bei der Familienaufstellung sucht sich der kleine Junge Spielfiguren aus: „Der Bär ist der Vater, der Löwe bin ich und das kleine Henderl ist meine Mutter, weil die mag sowieso keiner.“

6
Mir gefallen diese Begegnungen zwischen Tür und Angel an meinem Arbeitsplatz. Heute bekomme ich ein aus Erikakraut geflochtenes Herz geschenkt. Ich liebe meine Hingabeenergie, mich zu verschleudern, unbeeindruckt von meinen Grenzen – um dann nach einiger Zeit ganz einzuknicken. Naja, alles hat seinen Preis.

7
Der Feigenbaum trägt heuer sehr reiche Ernte. Dir Früchte sind optimal ausgereift. Das ist ein Vorteil von einem Sommer wie diesem.

8
Georgia O‘Keeffe: I have done nothing all summer but wait for myself again.
Ich lese einen sehr schönen Artikel über den Sommer. Komm zurück! Daneben ein Klatschmohnfoto des Schweizer Fotografen Etienne Francey …

9
Ich lese einen Text über Notizbücher, darüber, dass es mittlerweile Standard ist, persönliche Notizen auf dem Handy zu machen, nicht mehr in den Büchern oder auf Papier.

 

Es mir vorstellen

1
Worauf sich stürzen, wenn die Wahlen so ausgehen? Die Rechtsextremen gewinnen. Wir reimen wieder einmal: Eine Kombination aus Dummheit, Faulheit und Ignoranz führt in diese Gasse. Naja, alles in allem: nicht gut. Aber real. Ich mache einen Spaziergang. Die Menschen waren schon immer hier und ich war schon immer Teil einer Minderheit.
2
Ein Freund sagt: Wie kann man ein Wiener Schnitzel essen wollen und dann Rohkost bestellen?
3
Ich habe gelesen, dass in Italien ein Dieb geschnappt wurde, weil er in der Wohnung, in die er eingebrochen war, von einem Buch so gefesselt war, dass er sich nicht losreißen konnte. Er war leicht zu überführen.
4
Ich fahre zur Supervision und entscheide mich, es als einen Ausflug in die Stadt meiner Träume zu sehen. Das ist heute halt Wien.
Ich schaue auf die Gleise und bemerke, dass sie stabil sind. Die Welt ist nass. In der Wolkersdorfer Gegend stehen plötzlich Seen, wo sonst keine sind. Das Hochwasser ist sichtbar, obwohl die Sonne scheint. Ich stelle mir vor, es könnte immer so sein, das Weinviertel, eine Seenlandschaft.
Im Bus sitzt eine Frau, die ich vom Sehen kenne, sie hat eine ausführliche Chemotherapie hinter sich. Man sieht es ihr an. Ein Sterbesegenheftchen fällt aus meiner Arbeitstasche. Ich stelle mir vor, dass ich es an ihrem Krankenbett brauchen könnte. Aber, es ist viel besser, hier gemeinsam im Bus zu sitzen und gemeinsam auf einen Regenbogen zu schauen.
5
Ich kann nur mit jenen Menschen zusammenleben, die da sind. Nicht mit denen, die ich mir vorstelle.

Hochwasser


1
Mein Kollege schickt mir Fotos und Videos vom Taschelbach. Dieses Rinnsal, das man normalerweise nicht bemerkt, wird plötzlich zu einem reißenden Fluss. Ich schau mir ausnahmsweise Zeit im Bild Spezial an. Überall Wasser. Nur ernste Gesichter und tiefe Stimmen. Der Wahlkampf ist unterbrochen, macht Pause. „Wir müssen jetzt zusammenhalten.“  Irgendwie sind aber auch alle sensationsgeil oder froh, wieder einmal „richtig Mann“ und „rettender Held“ sein zu dürfen. Das ist meine böse Zunge. Sie weiß, was sie sagt. Ich hab Leichtes. Muss keine Sandsäcke füllen und keine Keller ausräumen. Ich kann mich zurückziehen.

2
Zu Hause gehe ich wie auf rohen Eiern durch alle Räume und durch die Beziehung.

3
Im Traum lande ich auf einer Insel. Sie heißt Raftin. Ein junges Kind ist bei mir. Es kann schon laufen. Es ist eine arabische Insel mit russischer Besatzung. Wir sind zu zweit allein in einer luxuriösen Wohnung und warten darauf, abgeholt zu werden. Während des Wartens sind wir die ganze Zeit mit Staunen beschäftigt.

4
Bei den Schlüsseln hört sich der Spaß auf.

5
Ich fürchte mich ein bisschen vor der fetten Schrift.

6
Zur Feier des Tages.

7
Ich fahr mit ihm an die March. Das Leben ist schön steht unter Wasser. Die Sonne glitzert im Marchsee. Wir rufen unsere Gedanken in die menschenleere Gegend.

Richtung Alm

0
Gehen, ging, gegangen.

VORHER

25.Juli
1
Auf der Autobahn ist genug los. Für einen Freitag wohl normal. Obwohl wir nur nach Kärnten fahren, spüre ich seit gestern Abend Reisefieber.

2
Unbedingt erledigen steht auf meinem gedanklichen Merkzettel: Liebstöckl trocknen, Schwammerl in Salzlake einlegen, Pilze trocknen, Bauernbutter und Topfen besorgen, Speck für Peter organisieren,
Lasagne kochen, überhaupt sehr gut kochen, eine Wanderhose kaufen, Kontakt zu den Naturfreunden aufnehmen, Rezeptideen für SuppenTee’s und Shots besprechen.

3
Eine Marterlsegnung steht am ersten Wochenende im Mittelpunkt. Ich freue mich auf inspirierende Gespräche im Mölltal. Und auf die Ruhe zum Nachdenken.

4
Ich nehme Aufforderungen mit, die lauten wie:
Blühe auf in deinem Element.
Pflege deinen Körper mit allem, was du finden kannst.
Sei eine Vielgeherin.
Schau in den Wald.
Schau in die Sterne.
Schlaf dich aus.
Schreibe Briefe nur mit der Hand.
Plaudere mit deiner Tochter und deiner Mutter.

5
Es ist ein großes Glück, mit Tochter und Mutter Urlaub machen zu dürfen. Anna selbdritt. Wir hängen eine Lichterkette im Alm-Schlafzimmer auf. Dann sieht das schon sehr nach Heiligenschrein aus!

6
Er gibt mir einen Brief mit. „Diesmal bleib ich da und freue mich übers wundersame Leben. Du lässt einen glücklichen Menschen zurück.“

GESTERN

26. Juli

7
Der Mann ist schon an der Möll, um Weihwasser für die Marterlsegnung zu holen. Ich beobachte, er fühlt sich wohl hier im Tal.

27. Juli

8
Die Mutter erschrickt angesichts des eigenen Mutes, wieder ein grosses Fest zu feiern. Die Gürtelrose schmerzt und die Kraft lässt nach. Trotzdem tun wir es. Ein Fest am Annatag feiern. Und uns einander zeigen: Der Cousin erzählt vom letzten Schlachttag, er ist Metzger, die Cousine hat mittlerweile vier Enkelsöhne. Der Onkel trinkt nur mehr Wasser – no alkohol! – und die Tante muss nach einer Stunde Fest schon wieder heim zum Hund. Die nächste Cousine hat ein herzliches Lachen und die andere trägt zu Hause täglich Schmuck, obwohl sie schon in Pension ist. Ein Cousin ist frisch und wild verliebt in eine schöne, vom Leben gezeichnete Frau. Der Mann hört sich gerne reden, die Schwiegertochter macht überall mit, der Sohn lässt sich nicht zu Feierlaune überreden und hält einen Kurzvortrag über Männer, die sich zu sehr von ihren Frauen beeinflussen lassen und von ihnen abhängig werden.
Die Nachbarin bringt 20 Liter Bowle. Die andere Nachbarin stellt mir ihr Herzpinki vor, das mit ADHS leben muss, nicht dem Mainstream entspricht und ihr Leben als große Party sieht. Der Nachbar hat vor ein paar Tagen zwei Kilometer Weg in den Berg sprengen lassen und der Marterlbauer kaut mir gefühlte hundert Mal seine Lebensgeschichte durch. Der eine Hausfreund erzählt, dass seine wichtigste Morgenübung darin besteht, sich den Gedanken zurechtzurichten, dass der Tag gut wird, und der andere Hausfreund ist unendlich müde. Die Schwester ist bissig, weil es nicht leicht ist, so vielen Geschwistern (Ansprüchen) gerecht zu werden. Die zweite Schwester ist ausgebrannt. Die dritte Schwester ist guter Dinge und sieht sich nicht als Chamäleon (ein Vorwurf, der sie schmerzt). Die Schwägerin und der Bruder funktionieren, sie haben viel zu tun. Das macht rastlos. Der eine Schwager hat Angst, der andere ist lustig und nimmt jede Menge Psychopharmaka. Die Nichte geht seit neuestem in Psychotherapie und die Verhältnisse passen nicht immer. Die andere Nichte sucht eine neue Wohnung, der Neffe punktet mit einem Vortrag über ChatGPT. Der andere Neffe lässt seine neue Drohne fliegen. Eine weitere Nichte ist im Ausland zur Familientherpeutin mutiert, und der Neffe kommt nicht, weil er sich dieser Festgesellschaft nicht ausliefern will. Wer ist für wen Ehemannersatz?  Diese Frage wird nicht offen besprochen. Man möge sich doch nicht so viele Sorgen machen! Ich denke mir: Schon sehr viel Familie und meine Harmoniesucht ist in dieser Gesellschaft ein Drahtseilakt. Mam steht über all dem, so scheint es.

HEUTE

28. JULI
9
Mein Leben besteht aus Zuhören, Gehen und einen Haushalt führen. Das ist hier auf der Alm nicht anders. Ich möchte mich diesbezüglich auch nicht neu definieren, wohin auch.Und darüber hinaus: Morgenübungen in der aufgehenden Sonne. Einer Grille beim Zirpen zuhören. Baden im Trog. Schlafen unter Sternen. Schreiben.

10
Hinter mir geht es jeden Tag ins Holz. Die heulende Motorsäge, das laute Knacksen der Äste, wenn der Stamm fällt. Nervensäge kommt sicher von Motorsäge.

11
Die Kuhglocken.

12
Mein Büro ist im großen Almgarten auf einer breiten Holzbank unter einem kleinen Holzdach angesiedelt; den Laptop offenstehen lassen und im Laufe des Tages immer wieder am Tagebuch weiterschreiben.

13
Die Sprache hier kann sehr grob sein.

29.Juli

14
Die Cousine stellt uns Zirbenschnaps auf den Tisch in der Hütte und heißt uns so willkommen.
Auf der Schaukel sitzend, fällt mir die Almsonne in den Nacken. Wir sagen es nicht laut, wie schön es hier ist. Das würde zu viele Menschen anlocken. Lesen ist nicht möglich. Ins Grün starren. Sonst nichts. Die Schaukel nimmt uns alle auf. Neben dem neu aufgesetzten Herd in der Küche, bildet sie das Herzstück dieser Almdestination. Alles eingebettet in einen saftig grünen Körper. Man freut sich aufs Kochen und Essen. Was geht in mir vor? Ich liebe es, in die Gegend zu schauen, ich hege keine großen Gedanken, der Wiesenpipau wiegt sich im Wind.

15
Die Nacht ist still. Die Tochter sieht eine Sternschnuppe. Ich schlafe draußen auf der Schaukel, das Sternenzelt über mir, ein Wunder. Der nächste Laurentiusregen wird rund um den 12. August erwartet. Beim Einschlafen sagt mir der Gedanke an warme Kuhmilch gute Nacht.

16
Ich höre einen Hirsch röhren. Zeitig in der Früh geben Buchfink und Tannenmeise Laute von sich. Von Singen kann da nicht die Rede sein. Weckrufe sind das. Ein Hase macht sich über das Heu her, das vor der Hütte lagert. Am Nachmittag sitze ich wieder auf der Schaukel und bin noch etwas übernächtig. Unter freiem Himmel zu schlafen ist ganz anders als im Bett, viel aufregender, weil der Wind mit dir im Bett liegt.

30. Juli

17
Ich betrachte mein Gegenüber: die Winklerner Alm, das Petzeck, den Friedrichskopf, den Großkopf, den Ochsenkopf und den Georgskopf. Und über mir Wetter und Wolkenfetzen. Richte ich den Blick nach links, die Lienzer Dolomiten im Regenschauer; blicke ich nach rechts: Apriach und die Hohen Tauern in der Abendsonne.

18
Mutter behauptet, sie wird ein ähnliches grantiges Weiberl wie ihre Großmutter.

19
Er sieht die Verhältnisse auf einen Blick sehr deutlich, er hat eine Begabung, soziale und zwischenmenschliche Bezüge zu erkennen. Nur mit sich selbst ist er manchmal auch aufgeschmissen.

20
Schicksals- oder Zweckgemeinschaften, Frauen und Männer verstehen einander auf vielen Ebenen nicht. Sie sind darauf ausgerichtet, Kinder zu zeugen. Sonst nichts. Je planmäßiger der Mensch vorgeht, desto wirksamer vermag ihn der Zufall zu treffen.

21
Ich bin beeindruckt von der handwerklichen Kraft und Geschicklichkeit der Almbesitzer. Ich entdecke einen Kühlraum, ein tiefes Loch in den Berg gegraben, mit einer dicken Steinmauer ausgekleidet. Das Almgartl mit den wichtigsten Kräutern, Liebstöckl, Schnittlauch, Kärntner Minze, Quendel, Almapfer. Permakulturelemente in den Lebensraum zu integrieren, das muss doch nicht mit rechtem Gedankengut einhergehen!

22
Der Himmel ist klar, die Dolomiten sind frei, ich befrage meine Mutter nach ihren Urgroßeltern. Ich mag ihre Stimme, sie ist relativ hoch, die Stimme der Tochter ist sehr tief.

23
Fällt es mir schwer, gelassen und freundlich zu bleiben? Nö. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.

31. Juli

24
Wir legen Pilze ein. Einmal in Öl, einmal in Salzlake. Wir trocknen Pilze. Ich suche Holzfindlinge. Die Pizza auf der großen gusseisernen Platte beeindruckt mich.

25
Das Gespräch mit den jugendlichen Verwandten am Abend vor der Hütte ist erheiternd. Wir reden viel übers Gehen und versinken ein wenig darin. Eine Großcousine lässt sich zur Bergretterin ausbilden. Ihre Erzählung klingt sehnsuchtsvoll.

26
Ich schlafe sehr gut. Hab auch nicht von Pilzen geträumt.

27
Ich bin aus dem Bild gefallen. Ich bitte Mam, mir eine Gretelfrisur zu machen. Wer fehlt?

28
Wir müssen hier gar nichts. Und mein gutes Gewissen ist grenzenlos. Es sind sehr starke Pflichten, die ich spüre wenn ich im Alltag bin. Habe ich einen dazugehörigen Ruf? Ob ich den Tag gut überstehe, hängt davon ab, ob ich heute wieder in die Holzbadewanne gehe. Ich koche noch eine entzückende Suppe.

29
Nach sechs Tagen Alm videotelefoniere ich wiede einmal. Du siehst glücklich aus. Du trägst eine Lockenpracht auf dem Kopf. Das kommt von den Zöpfen, die dir deine Frau macht.

1. August

30
Mutter weckt uns ungestüm um acht. Kaffeetrinken mit Blick ins Tal. Haare waschen im Trog. Haare kämmen und flechten lassen. Kurze Wanderung machen. Schwägerin und Bruder kommen mit gutem Grillzeugs zu Besuch. Ich bin nur für das Feuer zuständig. Die Tochter für den Almsalat mit Erdbeeren, Himbeeren, Klee, Quendel, Schafgarbe und Frauenmantel. Die Stimmung ist hervorragend und leicht. Man denkt frei, wenn man aufs Tal runterschauen kann. Wir schicken eine Grußbotschaft an ein Geburtstagskind und singen dafür die Mölltalleitn ins Netz.

31
Wir gehen heute den je eigenen Dingen nach. Die Tochter britschelt eine Stunde lang im Trog und ich schlafe und lese im rhythmischen Wechsel. Unser Leben spielt sich fast ausschließlich draußen ab. Ohne Radio. Ohne Zeitung. Die Nachrichten aus der Welt vermisse ich nicht.

32
Es riecht so gut hier! Aber die Vögelein sind derer nicht zu viel. Gibt es zu wenig Insekten? Kann sein. Der Wald ist komplett ausgedünnt. Der Borkenkäfer und der Fichtennadelrost, eine Pilzkrankheit, die mit dem Almrausch zusammenhängt, machen ihm zu schaffen.

33
Die Natur zaubert uns am Nachmittag Regen und ein Nebeltheater sondergleichen. Wir schauen fasziniert zu, wie sich große Nebelwürmer, Krokodile und Gespenster durchs Tal wälzen oder sich über unseren Köpfen zusammenbrauen. Die Luft ist wie ein erfrischendes Dampfbad. Ich wähne mich in einem dystopischen Film. Schön gruselig.

34
Nach dem Aufwachen finde ich es schade, dass der Traum nicht wahr ist. Im Traum hat sich ein eleganter  Pirol gezeigt. Unser Unbewusstes arbeitet ganz nah an der Realität und findet Wendungen, an die wir sonst gar nicht denken. Soll ich meinen Dialekt mehr pflegen? Am Telefon hat er scherzhaft erwähnt, dass ich in diesen Tagen auch mit ihm dialektle.

35
Meine zweistündige Wanderung Richtung Haselwand erdet mich. Der Nebel aber ist so fett, dass ich den grünen Weg nicht sehe.

36
Und endlich koche ich mir Topfennockerl mit Restl-Latwerge und Birnenmehl. Die Tochter kocht Supersuppe. Wir leben im Luxus.

2. August
37
Die Sonne ist um 10 Uhr voll da. Gut!

38
Die Tochter erinnert mich an die Geschichte von meinem Onkel, dass er, weil ihm die vielen Alpe-Adria-Trailer zu viel wurden, die Orientierungsschilder einfach umgedreht hat, dass sie in die falsche Richtungen zeigten und die Wanderer desorientierten. Ob es ihm geholfen hat? Jedenfalls sind heute genug Wanderer unterwegs. Gehen an der Hütte vorbei, grüßen, finden, dass es bei uns gemütlich aussieht.

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Eine Mutter-Tochter-Wanderung ist angesagt. Mangels Autos und unserer Vorsicht, um den Holzfällern nicht in die Quere zu kommen, bleibt nur der Weg übers Marterl zum Ebeneck und Laitenkopf. Täglich werden wir Zeuginnen der Holzschlägerungsarbeiten, bei der uns schon der Anblick der Gerätschaften ehrfurchtsvoll staunen lässt. Es ist ein langer Hatscher und wir entschließen uns, doch nur bis zum Ebeneck zu gehen. Das letzte und schönste Stück Weg bis zum Gipfelkreuz bleibt uns verwehrt. Ich bin zu müde und das Wetter schlägt um. Wir müssen beim Raufgehen immer miteinberechnen, dass der ganze Rückweg noch vor uns liegt. Das ist für mich relevant. Meine Tochter ist um 26 Jahre jünger, die muss noch nicht so planen, sondern einfach drauflosgehen. Wir vertragen uns gut. Auch sie braucht Zeit für sich. Fast mehr als ich.Vom Ebeneck bringen wir ein paar Wacholderzweige mit zur Almhütte. Ich will ein paar verschenken. Sie tragen Hochgebirge in sich gespeichert.

3.August
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Obwohl nix los ist, überschlagen sich die Ereignisse. In der Früh bin ich heute die erste Ausgeschlafene. Vor der Hütte bricht der Morgen langsam an. Ich möchte die beiden anderen Almgäste nicht wecke, so gibt es vorerst keinen Kaffee. Ihn zu machen würde bedeuten, Holz zu holen, einzuheizen, mit dem Geschirr zu klappern, also zu viel Lärm zu machen. Ich trinke nur ein Glas Wasser, erledige meine Morgentoilette im Freien und verrichte die Rückenübungen auf der Wiese mit Blick ins Tal. Der Todl-Hund besucht mich. Natürlich ist der Hund kein Todl, er ist der Hund vom Nachbarn, dem Jäger, dem Todl. Der Hund tut so, als wäre ich in sein Jagdrevier eingedrungen, dabei ist es umgekehrt. Gott sei Dank bin ich nur ein bisschen erschrocken. Er zieht ab, nachdem ich ihm gesagt hab, dass ich keine Freundin von Hunden und Todln bin.

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Auf einer anderen Nachbaralm gibt es auch einen neuen Brunnentrog. Das sehen wir bei unserem Spaziergang, der dort vorbei führt. Auch hier kümmert sich eine junge Frau um die schweren Almarbeiten. Sie steht auf Frauen. Im Moment ist sie allerdings mit einem Baggerfahrer liiert und bildet mit ihm eine Vernunftgemeinschaft. Sie braucht seine Arbeitskraft. Er braucht Sex. So können sie einander unter die Arme greifen. All das erfahren wir auf diesem Spaziergang. Das Wasser am Brunnen schmeckt frisch.

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Wir verstauen die Sachen, die wir aus dem Weinviertel mitgebracht haben, wieder im Auto, ziehen die Bettwäsche von den Betten, genießen ein letztes ausgiebiges Frühstück vor der Hütte, schauen hoch, schauen runter, bleiben langsam, spülen, fegen, gehen. Das ist der Teil der Reise, der schwer macht. Melancholisch. Gut, wir haben uns gesammelt und sind sommerfrisch aufgestellt. Die Tochter nimmt schwer Abschied.  Ich auch.

MORGEN

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Das Grab meines Vaters ist ein Blumenmeer.

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Ich fühle mich wohl in meiner Sommerhaut. Das Gehen tut ihr gut. Und das viele Schlafen.

4. August
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Gertraud, Resi, Sigrid, Maria. Kleines Klassentreffen. Wir fünf Frauen haben es lustig miteinander. Die Erinnerung daran, wie ich mich als junges Mädchen gefühlt habe, wird wach, als wir uns über alte und neue Zeiten unterhalten. Wir tauschen uns über Schicksalsschläge, gute Taten von Mitmenschen, Vermisstenanzeigen und die beste Lasagne im Mölltal aus. Wir reden über die Verrücktheiten unserer Altvorderen und Enkelkinder. Wir reden über die stillen Übereinkünfte, die das Zusammenleben erträglich oder sogar lebenswert machen und wir reden von der Mühe, die das tägliche Putzen der Gästezimmer mit sich bringt. Wenn wir von der ewigen Liebe sprechen oder uns unausgesprochen unserer Vergänglichkeit bewusst sind, weil viele von uns schon gestorben sind, dann sind wir uns nahe wie eh und je. Wir lachen viel miteinander. Der Unterschied zu meinem jetzigen Leben ist nicht groß und gleichzeitig liegen Welten dazwischen.

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Kurz vor der Heimreise kaufe ich mir noch beim Fleischhauer Kärntner Geschmack ein. Dort arbeiten zwei meiner ehemaligen Schulkolleginnen. Ich werde vorzüglich bedient.

5. August
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Am ersten Nachmittag, den wir im Tal verbringen, schauen wir uns pflichtbewusst die Miniaturbauernhäuser eines Einheimischen an. Sie sind in einem Stadl ausgestellt. Für den Bastler ist es Psychotherapie, diese Kleinode herzustellen, weil ihm seine Bäuerin entschwunden ist.  Die Häuschen gefallen mir, ich kenne die Originale. Kunsthandwerke, fast mehr Lebewesen als Häuser. Die skurrile Situation erinnert mich an unseren Volksschulausflug ins Minimundus. Der Künstler macht eine Führung für uns. Er kommt dabei ganz außer Atem. Das alte Muschnighaus gefällt mir am besten. Mam`s Tante Symphorosa hatte darin gelebt, vage erinnere ich mich daran. Es war ein Haus mit Seele. Leider wurde es in den 90er Jahren abgerissen. Fotos mussten als Grundlage für die Nachbildung reichen.

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Ein einheimischer Bauer setzt sich zu uns an den Kaffeehaustisch. Er bewirtschaftet 3,7 Hektar schräge Wiese. Er braucht keinen Traktor. Das Heu wird den steilen Hang von oben nach unten gerecht oder geblasen und mit Seilwinden auf die Tenne transportiert. Heuer gab es 190 Buren. Das ist viel. Für die Bewirtschaftung der besonderen Flächen bekommt er 6.900 Euro Ausgleichszahlung im Jahr. Sein Hof ist der viertsteilste Hof in Kärnten. Im normalen Leben ist der Bauer Elektriker. Ich fordere ihn dazu auf, mich doch ein bisschen zu belügen, mich mit ein paar Geschichten zu unterhalten. Diese Aufforderung gefällt ihm.

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Der Mitarbeiter des Dorfkaffees ist Holländer, genau wie seine Arbeitgeber. Sie sind von Holland nach Pockhorn bei Heiligenblut gezogen, weil Holland bald untergeht. Er hat die Ausbildung zum Weinakademiker in Krems gemacht und mixt mir einen sehr süßen Campari Soda.

NACHHER

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Ich führe viele Kleinigkeiten (wieder) zusammen.

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Ich kann es mir aussuchen, ob ich vor mich hintümple, trauere oder ob ich am Morgen den Kopf in Richtung Himmel strecke und den neuen Tag wie ein unbeschriebenes Blatt empfange, willkommen heiße; wimwenderslike.

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Wieder überkommt mich das Gefühl, dass mir die Tage zu kurz werden.

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Eine Frau sein, die ein gesegnetes Leben führt, eine Frau, die jeden Tag das Leben ausprobiert, als wäre es immer wieder ein neues, überraschendes Geschenk

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Beim Hofer entdecke ich in der Ausverkaufkiste eine Hollerstaudenpflanze. Das heißt: Jemand ist auf die Idee gekommen, Hollerstauden zu verkaufen. Ich verstehe!

heißer tee im glas

1
Ich bin schon ziemlich alt. Und durcheinander. Und grundlos gereizt.
Und jetzt bin ich so richtig wütend, weil mein Körper das Klima nicht mehr erträgt. Oder weil ich nicht imstande bin, mein Leben der Hitze anzupassen. Es ist nicht möglich, zu schlafen.Ich denke an niemanden mehr, nur noch an mich. Und daran, wie ich wieder zur Schreibruhe komme. Wie toll, wenn eine Bäckerei schon um 5.30 Uhr öffnet und ich da einen Kaffee bekomme. Und Morgenstille.
2
Beim Türken in der Provinzstadt ist wenig los. Die bosnische Kellnerin versprüht Humor. Ein Schluck Tee im Glas für einen Euro, Lächeln inklusive.
3
Es gibt Frauen, die widmen sich ausschließlich der Wissenschaft und dem Denken. Eine davon ist Anna L. Tsing. Allein, dass ich das aufschreibe, ist diskriminierend und/oder doch gesellschaftskritisch?

Sie arbeitet unter anderem an einem digitalen Feral Atlas, der die reale Welt so zeigt, wie sie von Menschen geschaffen wurde. Müllfressende Marabu-Störche in Kampala. Einwandernde Kaulquappen im Schwarzen Meer, die Fische fressen, um nach einiger Zeit von einer noch größeren Quallenart gefressen zu werden. All das wird akribisch beobachtet, erforscht.
4
Es gibt so etwas wie eine Vergiftung der Wahrnehmung.
5
In den kommenden Wochen werde ich den Zufall als Quelle der Neugierde ansehen.

Semmering

1
Der Sommer fängt so an: Sarah Kirsch, Tagebuch 1990.
Und wir halten Sommerfrische.

2
Dieses Weltkulturerbe „Semmering-Bahn“ hat es uns angetan. Und der Regen und das Faulenzen. Landschaft fällt uns zu und die alten Villen. Kunst fällt uns nicht zu. KeineR von uns hat Lust darauf, sich eine Lesung anzuhören.

3
Jene Gebäude, die den Skifahrern zur Verfügung stehen, sind schrecklich anzusehen: Talstation. Bergstation. Essensbuden. Und dazwischen die Pisten, die im Sommer zur Radfahrstrecke umfunktioniert werden. Der Berg voller Wunden, Krusten, Narben. Nur der Wasserteich für die Schneekanone hat Versöhnliches an sich.

4
„Auch wir hinterlassen Spuren. Von Venedig bis New York“

5
Panhans und die Plakate von anno dazumal, die diese Gegend bewerben, sind einmalig. Das Bahnhofmuseum wir liebevoll von Ehrenamtlichen betreut. Sie sind schon etwas gebrechlich und zerknittert. Das passt gut zur Nostalgie, die in der ganzen Geschichte der Semmering-Bahn steckt. In einer Demokratie wäre so ein Bau nicht möglich!

6
Es zwei Frauen recht zu machen, das ist nicht einfach.

7
Alle langgedienten Paare schweigen, wenn sie zu zweit im Restaurant sitzen. Oder sie schauen auf ihre Handys. Oder einer von ihnen schaut aufs Handy. Und, hast Du morgen schon etwas vor?

8
Sarah schreibt: Das Licht von Alpha Centauri (der Stern, der uns am nächsten ist) braucht fünf Jahre, bis wir es sehen können. Das heißt, sein Licht, das jetzt bei uns ankommt, ist gestartet, als ich Dich das erste Mal geküsst habe.

9
Im Nationalpark Kalkalpen haben Forscher im Jahr 2023 einen sensationellen Fund gemacht: den Rothalsigen Düsterkäfer, eine Urwaldreliktart! Es ist ein schwarzer Käfer mit rotem Hals.

10
Ich fühle mich jedenfalls wehmütig, wenn ich meinen Kalender für kommende Woche ansehe. Er ist bumsvoll. Entweder ich habe sehr viel zu tun oder ich bin krank und mache mir Sorgen, dass ich vereinsame und am Sinn des Lebens vorbei dämmere. Kann ich mich im Schreiben zeigen und verbunden sein mit den Menschen, die mir am Herzen liegen und jenen, die ich unbedingt noch kennenlernen möchte?