Dorf 2


1
Ich war nie in Arnheimland, ich habe meinen Maskenladen in Mistelbach und stelle sie dort selbst her. Aber verraten Sie’s niemandem! (Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land)

2
Provinztotenstill.

3
Der Wochenendwiener erzählt mir, dass er sich über zehn Jahre lang mit voller Breitseite ins Dorfleben stürzte. Und es jetzt nicht mehr aushält. Weil das Dorf ihn droht mit Haut und Haar aufzufressen. Diesbezüglich hat sich seit Thomas Bernhard nichts geändert. Oder seit Maria Magdalena.

4
Ich möge doch eine von ihnen sein. Ich möge doch so denken lernen, wie sie es tun. Gleichzeitig möge ich doch mein Fremdsein zur Schau stellen, sie mitpartizipieren lassen von dem, was sie nicht kennen. Dass sie auch etwas von mir haben. Ich spüre eine unbändige Langeweile und Neugierde. Ich habe Angst davor, dass sie mich stückweise aufessen und dann ausspucken.

5
Beliebte Frage: „Dich sehe ich ja gar nicht mehr!“
Das ist nicht Treue, es ist Ausdruck von Gruppenzwang und moralischer Super-Instanz.

6
Alle hier außer mir wissen, wie Leben geht. Ich bekomme ungefragt Antworten darauf. Nachbarschaftshilfe besteht darin, dass du, nachdem du dich an einem Balken im Stadel aufgeknüpft hast, im Fernrohr der Nachbarin als vorher-nicht-dagewesene Puppe entdeckt wirst und nicht am Strick verwesen musst.

7
Heute hat sich unser Dorfnarr das Leben genommen. Vorerst mischt sich schlechtes Gewissen in meine Gedanken. Dann tiefe Trauer. Nach einigen Stunden klopft die Hochachtung an. Eine Verwandte vom Dorfnarren hat einmal mit Nachdruck behauptet, dass er viel intelligenter sei, als es die meisten vermuten. Mit dieser mutigen Tat hat er es jetzt bewiesen. Ich bin erstaunt darüber, dass er es geschafft hat. Sich mit einem Strick im Stadl erhängen. Was ging ihm die Stunden zuvor durch den Kopf? Es wird nicht besser, das Leben nach 70. Er war der ehrlichste Mensch im Dorf. Er hat Vieles richtig gemacht. Er hat in den Augen der anderen Vieles falsch gemacht. Er hat seine Felder kleinweise verkauft, um das Geld für sich auszugeben. Die eigene Wirtschaft Stück für Stück aufbrauchen, das kommt nicht gut an. Er hat keine Kinder, hatte wohl nie eine Frau oder einen Mann für die langen Nächte. Sage ich Dorftrottel, meine ich das im besten Sinne des Wortes. Er hat sich stellvertretend zum Narren gemacht, weil er sich zeigte, weil er sich der rauhen Menschenmenge aussetzte, weil er sich nicht zu schade war, auf andere zuzugehen mit all seinen Liebenswürdigkeiten und Abgründen.

Er hat das Fußballspiel geliebt und die Volkskultur. „Wias‘d sogst“

Er war ein Trinker vor dem Herrn, ein paarmal auf Entzug und immer durstig. In manchen Häusern wusste er, wo der Wein zu finden war, auch wenn niemand daheim war. Er war sein Lebtag gern Bauer. Er hat Kontakt zu allen möglichen Menschen gehalten, über das Dorf hinaus, alle Menschen mit dem Vornamen anzusprechen gewusst, war unterwegs mit seinem Auto, selten zu Fuß, hat am frühen Morgen in der nahegelegenen Kleinstadt die Gratiszeitung geholt, um sie im Dorf zu verteilen. Manchmal stand er unvermittelt in der Tür, warf ein paar kurze Sätze in den Raum, wartete nicht auf deren Wirkung und verschwand wieder. Er hat seine Art und Weise alle Menschen mögen. Wenn ihm der Druck zu viel wurde, war er zornig, schimpfte vor sich hin. Er war ruhelos. Rastlos. Manchmal distanzlos. Viele haben ihn dafür verachtet, dass er so selbstbewusst in seiner Realitätsverweigerung war. Alle miteinander haben ihn zu seiner Tat gedrängt. Die feinen Sticheleien. Das Von-Oben-Herab. Die derben Witze auf seine Kosten.

Den Gurt für seine Erhängung holte er sich bei einem Kumpel aus der Werkstatt. Den wird dieser nicht mehr zurückhaben wollen.

Auch seine Mutter wächst schon seit Jahrzehnten nicht mehr.

Jetzt hat er schon die erste Nacht im kühlen Grab verbracht, sagt sein Freund am Sonntag nach dem Begräbnis.

Er geht ab.

Im Keller ist‘s immer schön. Im Winter ist s warm und im Sommer ist s kühl.

8
Eine Linde kann viel älter werden als eine Eiche. Die Zeit in der Stadt verfliegt viel schneller als am Land.

 

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