Poesie

1
Man erzählte von einer Ärztin, die glaubte, dass Poesie nahezu jede Krankheit heilen oder zumindest viel zur Heilung beitragen könne. Sie verschrieb ihren PatientInnen Gedichte, wie andere Arzneien verschrieben.

2
Ich sitze nun schon über drei Jahre lang an meinem Honigtisch, Seite an Seite mit ihm und lasse mich beatmen von seinem Geist.

3
Ich frage ihn, was ihn beschäftigt. Arbeit und Poesie, meint er.

4
Er zeigt mir ein Foto von seinen Eltern. Ich suche Spuren von ihm in ihren Gesichtszügen.

5
Der Mann in der U-Bahn spricht in sein Smartphone: Das hat schon etwas, Obst zu verschenken!

6
Die wohlüberlegten Worte eines Gedichtes machen die Welt noch komplizierter, als sie ohnehin ist. Nur so kann man ihr gerecht werden.

7
Den Tod dieses besonderen Menschen nehme ich zum Anlass, hemmungslos zu weinen. Ich weine über sein Weggehen. Ich weine über den langsamen Untergang seines Berufungsstandes, der, so wie er ihn gelebt hatte, Poesie als Überschrift trug, über seine Handlungen legte. Er, dem es genügte, nichts in der Hand zu haben außer ein paar Worte, vor allem die Stille und das Schweigen. Er verkörperte das Ahnen, über das nicht gesprochen werden kann.
Er sah das Grandiose am Verzicht, dass Zeit und Raum bleiben, für den größten Reichtum – menschliche Substanz. Er liebte die neue alte Erzählung, wie Menschen miteinander eine Weise des Fühlens erdenken. Er behauptete, es genüge, dass man da ist. Darin war er sich sicher.
Darüber zu klagen, dass es ein tiefes, dunkles Tal ist, durch das er immer wieder schreiten musste, mutete er kaum jemandem zu.
Ich weiß, dass jetzt eine Zeit zum Weinen ist. Die großen Ströme stehen noch aus.

 

 

 

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