Wild
1 Mein Großvater hat beim abendlichen Tischgebet immer den Vorbeter gemacht. Waren die üblichen Vaterunser und die abschließende „Bitte für die armen Seelen“ vollendet, fügte er stets noch die „Bitte um einen guten Hausverstand“ an. Er tat es zum Wohle aller und im Wissen, dass es sich bei dieser besagten Gabe um keine Selbstverständlichkeit handelt. Meine Mutter erzählt mir diese verschollene Erinnerung erst Jahrzehnte später, jetzt, in Zeiten der Hochkonjunktur aufkeimender Verschwörungstheorien.
2 Indem ich Genuss empfinde, wenn ich einen Girlitz (sehr kurz) oder eine Wilde Karde (lang) betrachte, offenbart sich eine uralte Zusammengehörigkeit. Es zeigt sich, dass eine ursprüngliche Kraft überspringt, von Lebewesen zu Lebewesen: Ich bin also am Leben! Ich bin ein Nachtfalter und ein Rabe und ein Regenwurm und ich bin alle Pflanzen, die ich mir nur vorstellen kann. Ich mache mir heute die Spielregel eines Sperbers zu eigen und morgen jene eines Apfelbaums. Ich flüchte in den Wald, auf den Berg, in den Fluss. Hier kann mich nichts erschüttern. Weil ich unendlich schön und wild bin!