Budapest, Fragment


Siehst du, die Bilder bewegen sich. [1]
1
Wir nehmen den Zug und lassen uns im Speisewagen nieder und verbringen die Fahrt mit der Rede über die eigenen Befindlichkeiten. Der Ostbahnhof ist unser Zielbahnhof. Er nimmt uns großzügig auf. Er ist mondän. Die ganze (Innen-) Stadt ist mondän. Es gibt nicht genug Geld, um alles abzureißen und mehr oder weniger aufregende Neubauten hinzustellen. Es gibt genug Geld, um manche schöne alte Bauten mit einer neuen Fassade auszustatten.

2
Im Hotel Astoria wohnt man gemeinsam mit der Geschichte einer Radioquizsendung von anno dazumal: „Wer gewinnt heute? Spiel und Musik in 10 Minuten vor 12.“ In der Hotellobby fand fast über 40 Jahre lang eine Sendung mit Livebeteiligung statt. Die Signation dazu klingt entzückend. Man kann sie im Internet nachhören.

3
Wir finden traditionelles Essen in einem Gasthaus mit schlichter Einrichtung: Pörkölt mit Spätzle und Topfennudel, Turos csuszas. Diese bereitet man aus Nudeln, Bröseltopfen, Sauerrahm und gebratenem Speck zu.

4
Im Nationalmuseum in Pest werden Bilder von Magyar Tivadar Csontvary Kosztka gezeigt, einem Maler, der für seine eigenwilligen Phantasiegemälde von Orten bekannt ist, die er selbst nie besucht hat. Bilder mit Titeln wie: „Die Zedern des Libanon“ oder „Das Griechische Theater in Taormina“. Wir sehen „Eine (verträumte) Dame in Lila“ von Pal Szinyei Merse, „Drei steinewerfende Jungs am Wasser“ von Karoly Ferenczy oder „Ein Paar beim Kukuruzschälen“ von Simon Hollósy. Besonders liebe ich ein Bild von Sándor Bihari aus dem Jahr 1890, das drei nähende Frauen auf einer Veranda darstellt. Ein Mann sitzt dabei und wir scherzen, dass er wahrscheinlich besonders Geistreiches von sich gibt und den Frauen Ratschläge für die Herstellung der Handarbeiten erteilt.

5
Das Ludwigmuseum liegt etwas außerhalb des Zentrums. Wir nehmen die Tram und übersehen die Zeit, sodass sich nur ein paar Augen – Blicke auf zeitgenössiche Kunst der SiegerInnen des Esterhazy Art Award 2025 ausgehen. Ich brauch sehr lange, um zu kapieren, dass es für die Entwertung der Tramkarte noch das alte Lochsystem gibt.

6
Die Donau begleitet uns während des ganzen Tages. Am Abend finden wir “Liz & Chain“, eine erfreulich schlichte Bar direkt am Fluss. Wasser, Fähren, Kreuzschiffe, Boote, Menschen. Alles fließt. Man fragt sich, welche Touristen außer uns Budapest besuchen? Und bekommt darauf ein paar Antworten.

7
Ich darf ein paar Längen im Gelertbad schwimmen. Für einen Moment werde ich an „Perfect Days“ erinnert, während ich verstohlen einen japanischen Gast dabei beobachte, wie er mit großer Langsamkeit und genussvoll in ein Becken mit heißem Wasser steigt.

Und ich habe gesehen, wie ein Fest ist, wenn alle Angst haben.
8
Beim Streifen durch die Straßen, beim Betrachten bestimmter Häuser, ziehen vergangene Künstlerfreundschaften vorbei.

Sie waren die größten Künstler aller Zeiten.
Sie waren zornig.
Sie waren Einheizer auf der Hochschule.
Sie bauten eine simple Lokomotive aus Blechdosen und wurden nicht von der Schule geschmissen, obwohl der Arbeitsauftrag ein ganz anderer war.
Sie legten provokativ ein weißes Blatt Papier über die neue grafische Arbeit, damit der Professor nicht in die Zeichnung pfuschte, sondern seine Verbesserungsvorschläge auf dem Extrablatt skizzierte.

Das Begräbnis des Kunsttheoretikers und Künstlers Ernö Tolvay liegt viele Jahre zurück. Es ist eiskalt. Einer aus der Gruppe schlägt vor, noch etwas trinken zu gehen. Daraufhin driften alle erschrocken auseinander und verschwinden. In Ungarn endet Trinken immer im Desaster. Das wissen alle. Es gibt kaum jemanden in der Runde, dem Alkohol nicht ein schlechter Freund war oder ist. „Wir feiern, bis wir in der Traurigkeit untergehen!“ Immer fließen Tränen.

Und ich habe den alten Mann gesehen, mit dem Stock in der Hand, damit er nicht allein ist.
9
Hier in Ungarn sind wir Nationalhelden, aber 500 Meter weiter über der Grenze kennt uns niemand“, sagt Gabor Presser, der Sänger von Locomotiv GT.
Natürlich gibt es die Wiese in Pest noch, auf der – besonders in den kommunistischen Jahren –  wichtige Konzerte stattgefunden haben. Gabors Lieder mit den versteckten Botschaften, die für viele Tausende junger Menschen Hoffnung und Trost bedeuteten, hängen noch in den Bäumen. Lieder mit Texten, wie aus der Seele gestochen.

Ich habe es gesehen, mein Leben ist nicht genug, um nicht zerrissen zu werden.
10
Ein paar Wochen später höre ich daheim im Radio Fatima Szalay‘s Konzert beim Festival „Glatt und Verkehrt“. Die junge Musikerin lebt  in Budapest und all ihre Lieder klingen so melancholisch und traurig, wie es Lieder in Ungarn seit eh und jäh tun. Sie singt von rohen Verhältnissen. Sie singt von der Armut, davon, ohne festen Wohnplatz zu sein, immer bei Bekannten oder in leerstehenden Häusern unterzukommen und morgens ein Sackerl mit Milch und ein Stück Brot zu stehlen, um etwas in den Magen zu kriegen. Sie singt davon, einen streunenden Hund zum Freund zu haben, ihn Baghira zu nennen, mit ihm zur Erfrischung an die Donau zu gehen und Hühnerkrägen zu organisieren, die dieser im Ganzen verschluckt.
Sie singt vom Sohn, den die Eltern aus der gemeinsamen Wohnung aussperren, weil er zu teuer kommt, sie singt von Ungarn, in dem die Menschen immer schwermütig, enttäuscht und alkoholisiert sind. „Zuerst haben uns die Türken belagert, dann die Habsburger, die Russen und nun die EU.“ Es ändert sich im Grunde gar nichts!

Denn du bist noch da, und unsere Hände sind noch nicht auseinandergerissen.
11
Kann es in dieser Stadt sein, dass sich irgendetwas Bedeutsames in großer Klarheit zeigt, die Schönheit der Welt, die Größe einer Liebe oder die Tiefe einer Trauer? Oder muss man dazu wieder weg von ihr?
Was außerhalb der Norm ist, hat eine besondere Kraft, sagt die Geschichtsschreibung. Wenn wir wüssten, wie sehr wir einander brauchen, würden wir das nicht aushalten.

12
… und der grinsende Erwachsenen lernte, wie man leben muss.

[1] Gabor Presser/ Horvath Peter/ Mozi/ Kino

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