Apulien
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Frage an den Ökonomen Donato Di Carlo: Sie sind im Süden Italiens aufgewachsen. Welche Optionen gibt es dort? Antwort: Emigration, organisierte Kriminalität, Schwarzarbeit oder Arbeit im öffentlichen Sektor. Na dann: fai buon viaggio!
- Dezember 2024
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Wien Schwechat. Um 5 Uhr morgens ist der Flughafen molto occupato. Das Flughafengeschäft funktioniert bis auf ein paar Sicherheitskram mittlerweile digital. Jede Fluglinie hat ihre App, die Bordkarte ist sowieso auf dem Handy, das Einchecken des Koffers erledigt auch eine Maschine. Wir leisten uns allerdings eine persönliche Assistenz: Sie navigiert uns durch diese kleinen und großen Abenteuer. Der ungarische Kellner, der uns noch am Boden ein kleines Frühstück serviert, ist sehr guter Dinge und unterstreicht unsere Vorfreude.
Für mich: Zum ersten Mal nach Bari fliegen. Abflug: 6.30 Uhr. Im Flugzeug geht die Sonne auf. Der Schneeberg leuchtet am Horizont, weil der Schnee das Licht reflektiert. Wir bestellen (auch digital!) zwei Bordgetränke: Whisky und Capri Um 7.05 Uhr wird angestoßen!
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Bari. Wir mieten uns ein Auto mit allen Versicherungen. Und uns gefällt das. Dass uns der Mann von Sixt die Bäckerei Fiore empfiehlt, erkennen wir erst während des Besuchs dort als freundlichen Tipp. Der erste Parkplatz, den wir anvisieren, entpuppt sich als weiteres erheiterndes Erlebnis: Wir können gar nicht so schnell schauen und Auto samt Schlüssel sind in fremder Hand. Die Parkwächter leisten ganze Arbeit. Es ist früher Vormittag und die Stadt wacht gerade auf. Ein erster Espresso plus ein erstes Germteiggebäck mit viel Zucker im Stehen genossen. Der erste Prosecco im Sitzen. Natürlich besuchen wir die Nikolauskirche und zünden Kerzen an. Wir kaufen ein Sackerl mit „hergeschnittenem Gemüse“ – am Abend wird es damit ein Leichtes sein, die beste Minestrone zu kochen. Die „älteren“ Frauen, die vor ihren Wohnungen direkt auf der Straße frisch zubereitete Orecchiette verkaufen, sehen wir leider nicht.
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Auf der zweistündigen Fahrt Richtung Brindisi gewöhnen wir uns noch nicht daran, dass uns die vorbeiziehende Landschaft weniger „niederkultiviert“ und die Bebauung triste vorkommt. Die Gegend wird immer zerlumpter. Die alten Olivenbäume machen uns (hier noch) staunen – weiter im Süden stehen sie als Baumruinen herum, weil sie von einem Feuerbakterium getötet werden. Aus den vielen halbfertigen und verlassenen Bauruinen schließen wir, dass immer wieder das Geld zu knapp wird. Das Meer begleitet uns ein Stück weit, die tief stehende Sonne wird unsere liebste Reiseführerin. Der Espresso im Barocco Cafe schmeckt natürlich hervorragend. Am Strand Pizzo springen zwei Delphine in den Sunset. Dieser Augenblick wird zu einem der Höhepunkte unserer Reise.
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Man wird im Alter einsam. Einsamer. Beginnt das jetzt schon? Ich kann mich noch so gut an meine Jugend-Einsamkeit erinnern – als ob es gestern gewesen wäre… und jetzt soll das schon wieder anfangen? Man kann hier und in Erdpreß einsam sein. Die Einsamkeit gehört zu unser aller Lebensweg. Aus ihr erwächst Kraft, Kreativität. Wir müssen Raum für sie schaffen, sie einladen, anstatt sie in einer Angst beliebig zu füllen. Wir sollten sie öfter aufsuchen, als sie mit Unwichtigem zu verdrängen.
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Taviano, Villa Li Giannelli, Province of Lecce. Wir finden die Villa des Freundes. Wir finden fast alle passenden Schlüssel zu den Schlössern der vielen Tore und Türen. Im Laufe der Tage finden wir Gefallen an all den Lampen und Lichtern, die überall im Haus verteilt sind. Wir kommen dem Vermieter, näher, obwohl wir ihn kaum kennen. Ich hasse Überwachungskameras. Mit so was können Jugendliche nicht einmal mehr nachts von daheim wegschleichen. Hauptsache, potenzielle Einbrecher werden nicht abgeschreckt! Die Nachbarn und Haus- und Hofkümmerer Guiseppe und Gabriela besuchen uns zweimal, um uns mit Warmwasser und Heizung unter die Arme zu greifen. Gabriela war schon einmal die Befane zu Heiligendreikönigen. Das erzählt sie stolz.
- Dezember
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Die Schönheit des Gartens wird mir erst am zweiten Tag bewusst. Hier hat jemand schon viel Liebe hineingesteckt. Granatapfelbäume, Zitronenbäumchen, frisch gepflanzt, Olivenbäume, gelb blühender Sauerklee. Die Wege sind geschottert, Büsche, deren Namen ich nicht kenne, säumen sie. Viele Pflanzen werden bewässert. Oleander, Kakteen, Gräser. Verschiedene Arten von Palmen. Hoch, majestätisch. Ich lese im Buch über die Liebe von Baum-Schüchternheit: Bei einigen Baumarten wird beobachtet, dass sich die vollen Baumkronen nebeneinader stehender Pflanzen nicht berühren. Pflanzen sind also sehr wohl in der Lage, die Grenzen ihres Selbst und die des Nachbarn wahrzunehmen und zu wahren. Huhhh! Artischocken aus Beton oder Keramik zieren die Stiegenaufgänge. Überall Sitzplätze und Hängesessel. Diese werden hauptsächlich Rossino und Madame Miau aufgesucht.
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Die Entdeckung des Schwedenofens: Es wird jetzt richtig warm im Wohnzimmer. Die Tochter sagt mir zu, dass es zu den Menschenrechten zählt, einen Espresso zu trinken. Mir kann nichts mehr passieren.
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Im Supermarkt lernen wir neue Freunde kennen. Sie sprechen uns an, weil sie gerne Deutsch hören. 20 Jahre haben sie als Gastarbeiter in Hamburg gelebt und gearbeitet, zwei Töchter geboren und großgezogen. In die Pension sind sie zurückgekehrt. Hier ist es ruhiger. Sie wohnen nur vier Kilometer vom Meer entfernt. Die Töchter sind geblieben… Katja und Sabine …. Wohl auch wegen des Bildungssystems und der wirtschaftlichen Situation …. Sie vermehren sich weiter. Heute, kurz vor Silvester, werden die Großeltern wehmütig, so weit weg von ihren Lieben.
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Wildgemüse und Obst am Standl von Sandro Spennato. Ein einfacher Holzverschlag und unverstellte Freundlichkeit empfangen uns. Käse und Ricotta bei Margheritas Caseificio versteckt sich hinter einem Friseurgeschäft. Beide Einrichtngen empfiehlt uns unser Vermieter, wir hätten diese einfachen Verkaufsstände nie ohne genaue Adressangabe gefunden! Und wie glücklich es uns macht, hier einzukaufen. Gerade weil die Auswahl nicht so groß ist. Die Qualität, wir werden es später noch merken, ist hervorragend. Das Gemüse und der Käse sind sogar eine Woche später -zurück im Weinviertel – wunderbar zu essen. Claudios Bar. Pasticceriea. Der bestenPannetone ever! Einmal gefüllt mit Schokolade, einmal mit kandierten Orangen. Tonis Kuchen! Grappa, Frizzante. Foccacia. Pasticciotto con crema. Was wollen wir mehr.
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Wir entdecken die Dachterrasse.
Wir baden in der Bucht, nahe unserer Villa, in Sonne, Meer und guter Luft.
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Ich habe mich in den wilden Broccoli verliebt. Orecchiette con cima di rapa.
Das Leitungswasser schmeckt salzig. Das Wasser kommt über ein Rohrsystem (Acquedotto Pugliese ) aus der Basiliata. Das Salz schummelt sich ins Trinkwasser – entweder sind die Leitungen undicht oder es vermischt sich mit dem Grundwasser. Dieses salzige Wasser muss eine Herausforderung für die Hausfrauen und -männer und ihre Küchengeräte sein.
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In Gallipoli ist immer Weihnachten.
- Dezember
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Wir suchen den südlichsten Teil Apuliens auf. Santa Maria De Leuca. Eine Wanderung zum Ende des apulischen Aquädukts, der als Wasserfall angelegte Hang führt kein Wasser. Ich wage ein kleines Tänzchen zu „Last Christmas“, das aus einem Lautsprecher über dem Meer erschallt.
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Die Sonne scheint betörend hell. Zu jeder Tageszeit. Ich beginne damit, ein Buch über die Liebe zu lesen. Die Liebe zu Menschen, zu Tieren, zu Dingen. Ein Weihnachtsgeschenk. Natürlich bin ich mit Menschen unterwegs, die ich liebe. Die zwei Katzen, die in der Villa daheim sind, liebe ich nicht, wahrscheinlich. Das Exquisite der frittierten Mohnblätter (- sind wohl eher gedünstet, zum Frittieren fehlt das Fett -) müsste sich erst noch zeigen. Liebe ist, mit der eigenen Einsamkeit freundlich und wohlwollend umzugehen, lese ich in meinem Buch. Ich salze zu viel. Zumindest das Silvesteressen. Welt versalzen. Die lieben Mitreisenden finden einen Neujahrsvorsatz für mich: kein Salz verwenden. Ich weiß, das schaffe ich keinen halben Tag.
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Tarotkarten ziehen und den Zauber des neuen Jahres erahnen … hoffentlich werden wir leichtfüßig auftreten. Das ist mein Platz im Kosmos, ein Staubkorn, ein Schnappschuss – federleicht und flüchtig. Und das Wintersternenbild Orion ist natürlich auch hier deutlich zu sehen. Die Tochter geht zu Mitternacht baden im Pool.
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Je länger ich lebe, desto klarer wird, dass die Liebe siegt. Ob wir sie nun Freundschaft, Familie oder Romantik nennen – darin besteht, das Licht des anderen zu spiegeln und zu vergrößern (James Baldwin)
1. Jänner 2025
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In Lecce spielt eine französische Mutter mit ihren beiden Kindern „Donner, Wetter, Blitz“ auf der Straße. Wir sitzen im scheinbar ersten Lokal, das in Lecce öffnet. Doppia zero. 00. Erst später lesen wir im Reiseführer, dass es ein sehr unfreundliches Restaurant ist. Und das spüren wir auf den ersten Blick. Zu viel Erfolg? Laut Reiseführer sind die Leute in Lucca generell so eingestellt: „Lecce ist eine Stadt der Kunst. Uns ist scheißegal, wer kommt und wer geht!“ Diese Stadt rinnt also nicht in mich. Barock. Es wird viel gebettelt. Wir finden den Fanshop von AC Lecce und das Stadion. Von außen gesehen: ein Betonbunker. Die Frau vom kleinen Stand mit selbstgemachtem Schmuck ist der freundlichste Mensch, dem wir begegnen. Sie leuchtet ganz bescheiden in einem Winkel an einer Hauswand. Ihr Rad lehnt neben dem provisorisch aufgebauten Standl. Sie verkauft uns einen Hals- und einen Armreifen. Sorgfältig packt sie alles ein und entfacht ein kleines Gespräch.
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Am Abend kocht die Freundin endlich viel Pasta mit viel Soße! Und ich versuche, die Minestrone nicht zu versalzen. Nach dem Essen genieße ich die Zeit, an der am Nebentisch irgendein Spiel gespielt wird und ich in Ruhe lesen kann. Wir sind einander freundlich zugewandt und verstehen uns auch ohne Worte. Meine Meinung wird relativiert. Sie ist nicht die wichtigste, na so was! ?!?
- Jänner
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Im Weinviertel ist’s jetzt frostig kalt. Ich entdecke dazu ein paar Fotos im WA Status oder auf Insta. Auch unsere Reisegruppe ist diesmal in den sozialen Medien aktiv. (Wieder zu Hause zurück werde ich sehr oft gefragt, wie es denn im Urlaub war. Und denke mir: woher wissen die Leute das?! Es ist auch ein lustiges Spiel, dieser Tratsch im Netz. Dieses Anteilhaben aneinander, kann man auch sagen!) Trotzdem werden die Menschen, denen ich zu Hause fehle, immer weniger. Was wird in 20 Jahren sein?
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In der Nacht sucht mich ein ausführlicher erotischer Traum heim. Lehrer, Kaffeehäuser, meine neue karierte Jacke und Penisse spielen eine Rolle. Ich schlafe schlecht. Wahrscheinlich sind auch die vielen Flugzeuge, die tagsüber über uns kreisen, ein Grund dafür; sie irritieren mich, erzeugen ein beklemmendes Gefühl. Nichts mehr mit „in der eigenen Einsamkeit daheim sein“. Lecce hat einen Militärflughafen.
- Jänner
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Ein kühler Wind begleitet uns heute auf unserem Ausflug zu den Trulli. Alberobello heißt der Ort, den wir besuchen. Rundhäuser, um der Bürokratie ein Schnippchen zu schlagen. Ansonsten lebt die Architektur hier von Licht und Steinmauern. Das Dorf erinnert uns alle ein wenig an die Kellergassen im Weinviertel. Sich von einem Raum, von der Architektur des Raumes umarmt zu fühlen, das gelingt in kleinen Einheiten leichter. Die Idee, ein zwischenmenschliches Gefühl in Architektur, in Kunst umzusetzen, ist uralt, ein Urinstinkt des Menschen. Es passiert sehr viel an einem Tag. Schokoladeeis wärmt uns alle und alle wollen bald wieder einmal nach Monopoli.
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Die Hupschwelle der AutofahrerInnen liegt viel niedriger als in Wien. Ich sehe ein Artischockenfeld nach dem anderen vorbeiziehen. Oder sind es Karden? Der Sohn hält eine Vorlesung über die berühmtesten Menschen Apuliens. Ich merke mir nur Tito Shipa, einen Opernsänger. Er empfiehlt uns die Krimiserie Lolita Lobosco. Sie spielt in Bari. Wer Prime hat, möge in den Genuss kommen … Rita Levi Montalcini, die Mikrobiologin und Alda Merine, eine Poetin aus Bari,muss ich ihm aus der Nase ziehen. Im Netz finde ich ein Gedicht, das gut zu meiner anderen Reiselektüre passt:
„Ich liebe dich“
Ich liebe dich,
wie die Nacht den Tag liebt,
wie der Wind die Blätter liebt,
wie das Wasser die Steine liebt.
Ich liebe dich,
mit der Kraft der Stürme,
mit der Zärtlichkeit der Wellen,
mit der Stille der Sterne.
Ich liebe dich,
in der Einsamkeit und im Lärm,
in der Freude und im Schmerz,
in der Hoffnung und der Verzweiflung.
Ich liebe dich,
und das ist mein Leben,
meine Freiheit,
mein ganzes Sein.
- Jänner
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Am Frühschoppen dominiert zum Ausgleich der Weltverdruss. Auch andere neue Ideen liegen auf dem Frühstückstisch. Wir machen die Prozesse hinter den Dingen und Gefühlen sichtbar.
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Die Sonne und das viele Gehen tun mir nach wie vor sehr gut. Der letzte Spaziergang zum Wasser. Die Natur in Form von Meer, Palmen, Olivenhainen, Orangenbäumen, Wintergemüse, Radicchio, Fenchel. Raukenblättriger Doppelsame als Gründüngung. Immer wieder einmal die Bourgainvillea, der Flieder des Südens. Bei jedem Spaziergang erhalten wir mehr als wir suchen. Schwimmen im kalten Meer. Nase und Rachen sind vom Salzwasser durchgeputzt.
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Ein sehr gutes Abendessen in Galipuli. Wie es im Buche steht. Mit frischem Fisch in allen möglichen Variationen. Cozze-Suppe. So gut, wie noch nie. Selbst die ungehobelte Blöd-Frau am Nachbartisch gehört dazu. Der Aperitif vorher in der Bar – ein bisschen kühl, trotz Heizstrahler – belebt uns. Wir reden über große und kleine Hunde und über Katzen. Mit frischem Fisch ist leicht gut kochen! Es ist ein Festmahl. Wir können es den Jungen nicht oft genug und früh genug sagen, dass sie richtig sind, wo und wie sie sind. Dann kommen sie gut durch Pubertät und Wechsel und Veränderung und andere Höhen und Tiefen im Leben, meint die Freundin. Wir ermutigen uns gegenseitig in dem Glauben, jenseits von Produktivität existieren zu dürfen.
- Jänner
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Ich sehe die Berge Montenegros am Horizont. Sie sind schneebedeckt. Mitten in der Nacht aufzustehen (3 Uhr), um Richtung Flughafen zu reisen, gefällt mir. Es rüttelt mich noch einmal aus dem Alltäglichen. Die Inseln vor Split laden zum Urlauben ein. Später einmal. Aber dabei denke ich an Einsamkeit. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich zu den Bäumen, den Insekten, dem Himmel und dem Wasser gehöre, bin ich nie allein. Die androgyne Stewardess fällt mir auf. Der Haarschnitt ist akkurat – wie auf dem Hinflug. Jetzt, eine Woche später, trägt er/sie viele Ringe und ist sehr freundlich. Christine Lavant schwindelt sich in meine Gedanken. Es ist mehr als genug für alle da. Wir sind für diese Zeit bestimmt.