Weinlesen. Gruß aus der Küche

Verblüffende Zärtlichkeit

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Mein erstes Gefühl des Sesshaftwerdens im Weinviertel stellte sich beim beim Setzen von Weingartenknoblauch- und Zwiebelknollen ein. Ein intuitiv richtiger Akt der Einübung in die Zugehörigkeit zu diesem Menschenschlag und dieser Landschaft. Parallel dazu hat es sich bis heute als richtig erwiesen, dass ich mein Fremdsein als Grundgefühl und Lebenseinstellung pflege. Dazu gehört man ja erst dann, wenn man in den Augen der UreinwohnerInnen alles richtig macht. Ich bin zu Hause im geteilten Wort und in der Stille dazwischen.

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Erntehelfer „Nummero Eins“ hilft beim Aufhängen der Netze, die Stare und andere Tiere abhalten sollen, die süßen Trauben zu holen. Ich koche ein gutes Mittagessen. Weinbau ist unser Hobby.

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„Darf ich heuer bei der Lese mitarbeiten? Ich bin so gerne in deiner Nähe.“

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Ich fürchte mich ein bisschen vor der Anstrengung der Lese. Bin nicht ausgeruht. Die Hitze der vergangenen Monate weist mich in meine körperlichen Schranken. Ich kann mit Stress immer weniger umgehen, ich mag es, alles gut zu planen. Die Natur macht mir einen Strich durch die Rechnung, weil sie ausschließlich Flexibilität fordert. Sie ist unbarmherzig und großzügig. Beides in unermesslichem Ausmaß.
Zudem brauche ich noch eine gute Idee für die kulinarische Begleitung fürs Weinausschenken beim Weinpfad. Der findet auch in der Lesezeit statt.

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Von unserem Hühnervolk sind noch eine Henne und ein Hahn übriggeblieben. Sie bekommen keinen Zuwachs mehr, dafür Gnadenkorn. Obwohl ich Hühner als Haustiere vorbehaltlos akzeptiere, schlage ich ein paar hühnerfreie Saisonen vor. Wird genehmigt! Beim Weingarten kann man solche Pausen nicht einlegen. Dauerkultur nennt sich das so schön. Die Tochter lässt diesen Begriff im Vorbeigehen fallen. Weinbau also entweder ganz oder gar nicht. Während der Lese steigt der Eierverbrauch stark an.

Herzblatt, Quitte, Maulbeere

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Ob mir heuer wieder jemand einen opulenten Blumenstrauß zum Leseabschluss schenken wird? Letztes Jahr war diese Gabe wie Balsam für meine Seele.

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Vorbereitung auf die Weinlese heißt: Küche putzen, Geschirr zusammensuchen, Lebensmittel einkaufen, im Garten ernten, Speiseplan erstellen.
Kochen ist die geringste Arbeit. Das Abwaschen die meiste. Alles in allem ein sinnlicher Prozess.

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In der Ruhe vor dem Sturm fallen mir viele Dinge gleichzeitig ein, die mit der Weinlese zu tun haben: Die Mühe, die das ganze Jahr über in der Arbeit im Weinberg steckt, an der ich nur im Hintergrund teilnehme, weil ich das andere mache, wofür die Weingartenarbeitenden keine Zeit haben.  Wird die Qualität der Trauben dem prüfenden Blick der Großtante standhalten? Wer bezahlt gerne für das Achterl mehr als zwei Euro und wer mag das neue Fass bezahlen? Trägt der Winzer Bio-Unterwäsche, um durch die Biokontrolle zu kommen? Wird mein Kreuz mitspielen? Werden die Menschen, die von weit her anreisen, nicht enttäuscht sein? Werden die Menschen, die von hier sind, nicht enttäuscht sein? Ist genügend Wasser eingekühlt und wer ist für den Plan B zuständig? Reichen unsere Kräfte?

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Ein Freund sagt: Irgendwie ist es bei euch wie in einem französischen Film. Kurzurlaub auf intensivem Niveau. Und dann schießt er noch das Rezept für die Sausömü nach.

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Lesespeiseplan.
Liptauer, Chillischmalz, Erdäpfelaufstrich, Linsenaufstrich, Humus, Kelleraufstrich, Lauchaufstrich, Rote Rübenaufstrich, Leberpastete, Verhackert, Quargelaufstrich, gekochte Eier, eingelegtes Sauergemüse, Paradeiser, Paprika, Gurken, Ananas, Leberkässemmel, Sausömü, vegetarische Bratlinge, Mohnstrudel, Nussstrudel, Nusskuchen, Zwetschkenkuchen, Apfelkuchen, Birnenkuchen, Tiramisu, Mousse au chocolat, Eis, Nusskipferl, Kürbissuppe, Kurkuma-Pilz-suppe, Zwiebelsuppe, Gulasch im Kessel, Faschierter Braten, Erdäpfelschmarrn, Hühnerfilets, grüner Salat, Reis, Strangelen, Tsatziki, Linsental, Melanzaniauflauf.

 

Deutungshoheit abgeben

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Im Weingarten kommen alle ins Gespräch. Manchmal hat das alles den Anschein einer Gruppentherapie, manchmal eines Markttages für G’schichtldrucken. Ein Wagnis auf jeden Fall.
Der eine Freund zieht doch nicht – so wie man munkelt – nach Vorarlberg, die beiden Frauen sind schon lange ein Paar, ohne dass wir es wussten, die Fotografin geht über ihre Grenzen und die Freunde aus dem Norden sind irgendwie am Sand, aber das war schon immer so.
Der andere Freund kommt nur so vorbei, um zu schauen, was bei uns los ist, bleibt picken und kauft für alle Eis. Der dritte Freund mag nicht allein sein. Und schon gar nicht allein in einer Zeile lesen.
Die Tochter macht Stimmung im Weinberg. Aber das ist bei der Hitze nicht mehr nötig, da hilft nur noch aufhören, und das wiederum wagt niemand auszusprechen, bevor die Zeile nicht fertig ist. Die eine Freundin meint, wenn man an die Grenzen geht, braucht man dann keine Cheerleaderin mehr.
Der Winzer und die Winzerin husten um die Wette und tun so, als ob eh alles passt, wie es ist. Der Sohn kümmert sich bravourös, wenn`s brennt.
Die Weinbauexperten von der Uni sagen: Weinbau ist Arbeit! Und Weinbau ist eine Dauerkultur (schon wieder!). Und auch diesmal darf uns jeder, der will, in die Karten schauen.
Die Tochter muss einen halben Lesetag lang schlafen und die Freunde der Kinder bemerken, dass ich heuer wenig Nerven habe und der vierte Freund liest heuer zum ersten Mal mit Inbrunst mit.

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Ich leide mit, wenn die Trauben nicht schön aussehen.

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Der Schöpflöffel auf der Aufhängevorrichtung über dem Gulaschkessel ist voller Kruste und der Gulaschkoch gibt sein Bestes, sein bestes ungarisches Hirtengulasch. Und die besten Freundinnen helfen ausgiebig beim Zaubern kulinarischer Sinnesfreuden: süß, sauer, salzig, bitter, umami, fett, scharf, in ausgewogener Struktur, in ansprechenden Farben, mit Liebe, auf den Punkt. (Spruch meines Schwagers).
Ein Cousin isst drei Sausömü, eine Gerda bäckt fünf verschiedene Kuchen, wir sind aufeinander eingespielt und wir kochen gerne.
Für den zwischendurch gemixten Mojito bleibt zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit. Alle Töpfe finden Verwendung und ich brauche bald enen Deckel für den großen Hefen.

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Das Handy ist wichtiges Werkzeug: Bitte die Jause bringen! Der Kercher ist kaputt, wo ist ein Reservegerät? Der Rebler schafft die dicken Kampe der PIWIsorten nicht, wir kommen später. Bitte bring noch Apfelsaft mit und ein großes Messer fürs Brot und frische Socken! Is everything possible?

Heute geht’s uns allen furchtbar

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Eine Freundin powert sich gerne aus, wenn nichts mehr geht, nicht aufgeben, durchhalten und die Netze von Hand aufrollen, weil der Akku leer ist.

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Zwei jugendliche Mädchen waschen mit großer Begeisterung 200 Weingläser von Hand ab.

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Zwischendurch: Nur noch Enge zwischen den Weinbergen – so wie früher manchmal in den Hohen Tauern. Ich bin eingesperrt im Kurz-Denken, kann im Kopf nicht über Maßeinheiten und Wetterbericht drüberhüpfen. Der Gedanke, die richtigen Entscheidungen treffen zu müssen, legt sich schwer auf mich. Ich würde sehr gerne viel Sprudel trinken, um leicht zu werden. Einen halben Zentimeter über dem Boden zu schweben, würde bedeuten, aus dem ewig Gleichen auszubrechen.

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Es hat 35 Grad im Schatten. Wir kommen an unsere Grenzen. Die Trauben auch.

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Nach dem Mittagsschlaf ist es möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Mama schickt mich in Urlaub. Ich beantrage eine Mitgliedschaft bei den Naturfreunden. Der Freund vertraut mir sein Auto an, damit ich einfach losfahren kann. Wir werden immer bescheidener.

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Es ist wild.

Jede Ritze, jeden Spalt salben

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Dann beginnt es zu regnen. Vor Leseschluss. Sintflutartig. Die restlichen Trauben, die noch hängen, werden aufspringen, sag ich. Unsere Beziehung auch. Die Lese verhält sich wie eine Lupe auf unser Familienleben. Wir meinen, heuer ist es hart. Die „Krise“ in dieser Geschichte ist das Wetter. Tropenhitze und Regenflut. Aber: Das Wetter und die Natur sind natürlich jedes Jahr die „Krise“. Wir arbeiten mit Unsicherheiten und Zerbrechlichkeiten und mit diversen Ansprüchen. Die Natur wird uns auf jeden Fall überleben. Sind ja nur ein winziger Teil davon.

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Wir müssen einigen Lesegästen absagen. Sie werden heuer nicht dabei sein. Ich bin enttäuscht.

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„Ja, wir sind Helden! Ich konnte nicht anders, als heute im Nieselregen den Sauvignir gris runterzunehmen. Mit meinen Männerfreunden! Gut, sie WAREN meine Männerfreunde nach diesem Ereignis“, beteuert der Winzer.

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Mein Mann hat Ideen. Ist das nicht zum Verrücktwerden? Oder ist es einfach eine schöne Geschichte?

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Der Regen schickt uns ins Haus. Die Tochter legt Austern und Champagner in die andere Waagschale. Upcheering nennt sie das, schreibt: „Life is good“ in die WhatsApp-Nachricht. Wir genießen die kulinarischen Trostpflaster in der nahen Stadt. Immer wieder brauchen wir das. Trost. Selbst in der Landwirtschaft.

„Wer ist hier der Chef?“

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„Papa, wenn es dich nicht gäbe, dich müsste man erfinden!“

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„Ich gehe morgen ins Dampfbad. Ich brauch das!“ sagt der Winzer. Nach einer sehr langen Pause: „Magst Du auch mitkommen?“ Wir wissen beide, es ist sehr gut, nicht zu wollen.

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Die Trauben sind trotz Regen nicht aufgeplatzt.

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Heuer bekomme ich viel Grün aus dem Garten der Freundin geschenkt. Wir dekorieren damit die Alte Schmiede, in der wir essen. Und dann bekomme ich noch das Glas für die kaputte Petroleumlampe geschenkt. Alles renkt sich ein.

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Und wenn dann alle an einem großen Tisch sitzen und essen, dann bin ich zufrieden. Das Tor zur Straße hin ist offen, man blickt hinaus auf die Kreuzung. Immer wieder bleibt jemand stehen und trinkt ein Glas Sturm oder Wein. Ein Neugeborenes kommt mit seinen Großeltern vorbei. Das kriegt noch keinen Sprudel. Die Großeltern schon. Die Freunde der Jungen bevorzugen Spritzwein.

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Wir denken laut darüber nach, doch mit der Lesemaschine zu ernten. Ein Lesegast sagt, es würde uns allen sehr fehlen, wenn wir nicht mehr lesen, so wie wir lesen.
Die soziale Dimension von Landwirtschaft wird bei der Handlese sichtbar. Wo sonst noch in der Bauerei?

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Ich liebe die Ruhe, die sich einstellt, wenn alle nach Hause gegangen sind und ich mich für eine kleine Weile an den verlassenen Tisch setze. Ein paar geleerte Gläser stehen herum, zerknüllte Servietten, Brotkrümel. Durch das Fenster schaue ich auf den verwilderten Vorgarten mit dem Nussbaum. Am Himmel zeigen sich erste Sterne. Treue hilft, in der Welt nicht verloren zu gehen.

Ich bin so alt wie das Blut in deinen Adern

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Die Weinlese ist für dieses Jahr vorbei. Es ist jedes Jahr ein Abenteuer. Menschen, Wetter, Boden, Trauben, Maschinen, alles muss zusammenspielen. Irgendwie. Das Ziel: am Ende ein schönes Festmahl und im Keller guter Traubensaft … Wein …
Zur Feier des Tages sitze ich mit der Tochter auf dem Schlosserberg, dort, wo das Sortenspiel wächst. Wir essen die Reste des Festes und schauen dem Sonnenuntergang zu. Wir haben es gut gemacht und ich wünsche mir von Herzen, dass die Kinder Freude am Tun finden und Menschen, mit denen sie diese Freude teilen können. Ich staune ein wenig, was ich noch alles kann und vor allem, was ich nicht mehr kann, leisten kann.

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Zur Nachbesprechung im Oktober lassen wir uns Pizza liefern. Der Winzer ist dankbar. Und gerührt. Seine Leidenschaft wird geteilt.

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Viel später im Herbst, wird die Mutter sterben. Mitzi, sie steht auf den Weinetiketten an erster Stelle. Ein Kreis schließt sich.

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