Laufende Dokumentation

1
Ein Patient erzählt mir:  „Mein Vater hat mir sein Leben zu verdanken. Kurz nachdem ich geboren wurde, durfte er Fronturlaub machen, weil ich ein Junge war. Zur selben Zeit kam auch die Tochter seines Kriegskameraden zur Welt. Die Geburt eines Mädchens war allerdings kein triftiger Grund für einen Besuch in der Heimat. Der Kamerad starb genau in diesen Tagen meines Urlaubes an einer Schussverletzung. Mein Vater hat den Krieg überlebt.“

2
Ich frage eine Patientin: „Welche Ankerpunkte haben Sie?“ Sie antwortet: „Die Namen meiner drei Pferde, die Erinnerung an zwei tote Katzen und die Nibelungensage.“

3
Eine Mitarbeiterin ringt mit den Händen: „Ich brauch jetzt die Hilfe von oben!“

4
Was Kinder im vergangenen Jahr gelernt haben könnten: Rücksicht zu nehmen, zu kochen, die Welt rund ums Haus, rund um die Wohnung kennenzulernen, nachzudenken darüber, wie’s die Ameisen machen, verantwortlich zu sein, eigenständig zu handeln, die Schule zu vergessen, nicht alles machen zu können, mit dem Leben zu dichten, den Himmel abzuräumen, sich nach Freund*innen zu sehnen, die Unaustauschbarkeit der Eltern zu sehen, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, eine Scheinfährte zu legen,…

5
Die meisten Kräfte, die die Welt vorantreiben, sind nicht mess- und evaluierbar. Mein Cousin, der in den Hohen Tauern lebt, meint: „Denk mal, wenn sich ein Felsen löst und auf das Dorf stürzt, erübrigen sich unsere Diskussionen über die Sinnhaftigkeit von Schiliften. Die Natur siegt.“

 6
Ich will eine moralische Debatte führen über Dokumentationswahn, Herrschaftswahn, Kontrollwahn, Lenkungswahn, Qualtitätsmanagementwahn, Evaluierungswahn, Sicherheitswahn, Verwaltungswahn, Hygienewahn, Tätigkeitswahn, Aktionismuswahn. Sorglosigkeit. Sie führt mich in die innere Emigration.

 

 

 

 

 

 

 

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