Gut Aich

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Mitten auf der Wiese, hoch über dem Fuschlsee, steht ein großer Palmenbusch. Ich sehe ihn vom Bus aus. Er soll wohl zum Segen sein für die Menschen, die hier leben und für eine gute Ernte.

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Die Franziskanerinnen sind Anfang der 90er Jahre gegangen und 4 innovative Benediktinermönche haben Ende der 90er Jahre begonnen, das Europakloster mit herausragendem Idealismus zu gründen, aufzubauen, zu erweitern. Die Gemeinschaft selbst bleibt immer klein. Zurzeit sind 9 Mönche hier. Ihre individuelle Handschrift ist deutlich zu sehen und gleichzeitig ist sie typisch für Klöster, die dem Leben dienen. Sie verstecken sich nicht und zeigen sich mit Stärken und Schwächen. Außerdem gibt es hier neben vielen Mitarbeitenden eine besetzte Pforte, ein Hildegard-Zentrum für die Gesundheit, Kunstwerkstätten, eine Kellereimanufaktur, viel Garten und Wald, eine Noreia-Abteilung, einfache Schlafräume, eine Klausur, eine Kapelle und weitere großzügige Räume für Begegnung und Stille. Bienen, Hühner, Gänse. Etwas Kitsch, etwas Weihwasser, sehr viel Kerzenlicht und Brunnen, die ich zu lieben beginne. Die frischen Blumen. Die Einfachheit der Speisen, die besonders fein abgeschmeckt sind. Die Spiritualität, die es mir überlässt, ob ich mitkomme oder nicht, was ich mir davon nehme. Wie gut ist es, nicht reden zu müssen.
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Beim Essen in Gemeinschaft zu schweigen bedeutet für mich, aus Äußerlichkeiten Rückschlüsse zu ziehen. Obwohl ich versuche, genau diese Gedanken abzustellen. Und ich frage mich, wie weit es gelingen kann, sich bedeckt zu halten, wenn man nicht miteinander spricht. Ich möchte keine neuen Menschen kennenlernen und tu es trotzdem auf einer anderen Ebene. Wenn man in Stille isst, sieht man auf den Teller oder aus dem gegenüberliegenden Fenster auf die Wiese, in der die Hühner picken. Man schaut nicht in die Augen des Gegenübers. Das würde den Willen zu einem Gespräch implizieren. Ich denke an jene, die meistens in Stille essen.
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JedeR bringt etwas mit, auch Lasten. Einfache Gesten freundlicher Wertschätzung. Handwaschung und Reisesegen. Ein Tischgebet. Ein Begrüßungsschnaps und eine Schale gefüllt mit Äpfeln. Die unbeirrte Einladung zur Teilnahme an den Liturgien. Meine unbeirrte Gewissheit, ganz wenig davon zu brauchen.
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Mein Vorhaben, die Tage hier zur Konzentration zu nutzen, gelingt mir nach einer kurzen Eingewöhnungsphase gut. Ich muss auf viel Ablenkendes verzichten. Zum Beispiel eine Bergwanderung. Oder eine Schifffahrt auf dem Wolfgangsee.

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David Steindl-Rast fasziniert immer noch. Er ist eine lebende Legende: Wenn ich mich in den Abgrund der Stille fallen lasse, kann ich still die große Stille feiern, in der alle Worte noch schlummern. Aber auch als Guru verheddert man sich leicht, wenn man zum Beispiel erklären will, warum Gott ist. Oder wer Gott sein könnte. Es gibt in mir einen natürlichen Widerstand gegen das allzu Fromme.
Meine Tradition liegt in der Einsamkeit der Berge. Von dort kommt alles immer wieder zurück. Am letzten Tag meines Aufenthaltes sehe ich Bruder David am Marienaltar beten und segnen, zusammen mit zwei Fans von ihm. Er ist ein Greis. Beim Verlassen des Raumes dreht er sich noch einmal um und winkt uns zu wie ein Kind, das sich verabschiedet.
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Das jubelnde Geläut aus Glocken.

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Am Wolfgangsee ist eine Entenmutter mit ihren 4 Jungen zu sehen, wie sie im Sonnenglitzer schwimmend das Seeufer erobern. Einer der Mönche hat bei der Einführungsrede darauf hingewiesen und jetzt sehe ich die schwimmende Bande.
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Der Marienbrunnen in der Kapelle hat etwas Anziehendes. Nicht nur für mich. Man kann was dazulegen, man kann was wegnehmen, man kann sich was wünschen. Und man weiß den See in der Nähe. Da kann der Antonius(leuchter) nicht mithalten, obwohl ich ohne ihn in meinem Leben ganz schön verloren wäre!
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In der Pforte lege ich ganz schön viel Geld für Bücher, Schnäpse, Heilkräutertinkturen und Salben. Mitbringsel für die Lieben daheim. Der Reliquienhandel funktioniert. Kreislaufwirtschaft.
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Augentrost für klare Sicht, Drei-Königs-Tropfen für ganzheitliche Wegweisung, Frauenmantel für weibliche Harmonie, Kardenwurzel für kraftvollen Widerstand, Herzgespann für Herzlichkeit, Mädesüß für Lebensfreude, Mariendistel für Entspannung, Alant für befreites Durchatmen, IM_PHI+ für eine goldene Beziehungsquelle, Vogelbeere für belebende Perspektive … das alles und noch viel mehr gibt es zu kaufen ….
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Natürlich ist ein Kloster gerade in Zeiten wie diesen eine ganz andere Welt, die auch nur mit sehr viel Hirnschmalz aufrechterhalten werden kann. Hier gibt es viele Stellvertreterposten oder Handelsabkommen: Ich bete für dich, du machst für mich die Wäsche. Ich bete für dich, du machst für mich den Garten. Ich denke für dich über Gott und die Welt nach. Du machst mir einen guten Vertrag. Ich habe eine Vision. Du verwirklichst sie für mich.

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Das kurze Eintauchen in den See bringt meinen Kreislauf in Schwung. Mehr als 10 Schwimmzüge gehen sich bei 12 Grad nicht aus. Nacken und Fußsohlen wehren sich, der übrige Körper freut sich.
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Der See ist Seelsorger.

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Vor dem Haus steht eine Sommerlinde. Ganz zart. Eine Franziskanerschwester aus Au am Inn hat sie 1967 gepflanzt. Sie ist schon ganz schön groß. 15
Aus dem Zimmerfenster schaue ich auf den Schafberg.
Die Berge. Nacht und Tag und Nacht. In der späten Dämmerung schauen sie gegen den Himmel betrachtet aus wie große Zauberwesen.
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Br. David:
In meiner schriftstellerischen Tätigkeit ist es mir immer klarer geworden, dass auch gesprochene und geschriebene Worte geheimnisvolle Gebilde sind.
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Das Beste an den Sternen ist, dass sie sich kaum verändern, obwohl alles rasend schnell unterwegs ist. Ich kann mich darauf verlassen, dass im Frühjahr das Sternbild des Löwen  aus dem Süden heraufsteigt, auch wenn ich es nicht auf Anhieb erkenne.

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Welchem Gegenstand oder welcher Richtung wende ich mich in der Kapelle für einen Augenblick des Innehaltens zu? Dem Licht, das durch die bunten Glasfenster fällt? Dem Blumenstrauß vor dem Altar? Dem Vogelgezwitscher von draußen?
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Die schönsten Gebete werden in der Nacht „gesungen“. Der Raum ist voller Kerzenlicht und Stille.
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Das Gegenteil von Arbeit ist Muße? Oder Freizeit? Oder gar Spiel?
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Ich schließe mich aus dem Haus aus, in dem mein Zimmer ist. Ich werfe ein paar Steine gegen ein Fenster, hinter dem ich Licht sehe, in der Hoffnung, dass mich jemand hört. Es gelingt, und ein freundlicher Herr lässt mich ein.
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Am frühen Morgen höre ich 12 Böllerschüsse. Ist Krieg? Nein, es ist 1. Mai und ich bin im Salzkammergut. Die Nacht vom 31. April auf den 1. Mai wird hier als Bosheitsnacht bezeichnet. Der Hausmeister  erzählt mir von einigen Streichen, die in dieser Nacht passieren.  Zum Beispiel werden Dinge, die nicht niet- und nagelfest sind, irgendwo hingebracht und an unorthodoxen Orten präsentiert. Da wird eine Scheibtruhe in den Baum des Nachbarn gehängt oder Nummernschilder vertauscht oder Blumen umgepflanzt oder Blumenkästen verschoben und so weiter und so fort. Er erzählt mir auch, dass er in einer Garconniere in einem der Klostergebäude wohnt. Das Kloster gibt ihm Arbeit. Man kümmert sich um ihn.
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Der Hausmeister war gestern den ganzen Tag zwischen den vielen Klostergebäuden unterwegs, mit dem Bagger, mit dem Rad, mit und ohne Anhänger, hat Kompost ausgebracht, neuen angesetzt, sich um das Auf- und Zusperren der vielen Räume gekümmert und …
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Vor dem Kloster hängt heute eine Fahne mit einem Wildschwein als Wappentier. Es ist die Fahne des Heimatortes des Seniorpriors, der gestern Geburtstag hatte. Da wurde sie gehisst. Er hat sich in den vergangenen 20 Jahren derart verausgabt, dass er sich jetzt bedenklich verrückten Bräuchen hingibt.
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Es ist immer ein Paradoxon im Raum.

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