Harmoniesucht

1
Im Bahnhof von Mistelbach sitzen und auf den Zug warten. Die Bänke im Warteraum hier sind auch nicht bohemien- und sandlertauglich. Der Bahnhofkiosk hat schon lange geschlossen und der dafür vorgesehene Raum hat immer noch keinen alternativen Zweck gefunden. Er ist leer, es gibt offene Elektrobüchsen und die Kabel hängen aus der Wand. Der Boden wird nicht gereinigt. Ich sehne mich nach einer Tasse Kaffee.
2
Heute spüre ich ganz deutlich, wie sehr ich auszugleichen versuche, während sich die beiden anderen unseres Dreiergespanns kaum um Kompromisse bemühen. Sie verlassen sich auf meine Harmoniebedürftigkeit. Dem will ich mich entziehen. So weit wie möglich. Was kümmern mich die Konflikte anderer!
3
Meine Schwester lässt sich am Straßenrand auf einer schwach befahrenen Landesstraße 50 Euro abknöpfen. Die britische Familie scheint zu herzergreifend echt: eine weinende Frau, ein weinendes Kleinkind, ein engagiert jammernder Vater. Daheim angekommen, hört sie in den Medien, dass solche Betrüger unterwegs sind.
4
Beim Krankenhaus Lilienfeld gibt es Extraparkplätze für Leitungspersonen. Das ist in Mistelbach auch so. Wenn ich so etwas sehe, möchte ich am liebsten nach Schweden oder Dänemark auswandern.
Dort gibt es diese verrückten hierarchischen Frechheiten nicht.
5
Wie geht das, meinen Charakter so zu festigen, dass er von keinem Menschen beleidigt und herabgesetzt werden kann? Derart ausgestattet wäre ich dann vielleicht frei von Ärger und Wut? Zum Beispiel auf Golfrasen?
6
Wir reden über unsere Sommerfrischen in unserer Kindheit. Also, alle anderen reden. Ich hör zu. Immer, wenn ich mir etwas denke, das passend dazu zu sagen wäre, kommt schon ein nächste Gesprächswendung daher und meine Geschichte passt nicht mehr.
7
Indifferent, dieses Wort ist nicht in meinem Wortschatz verfügbar. Ich treffe einen Mann, für den genau diese Bezeichnung zu passen scheint. Ein Freund hilft mir, den richtigen Begriff dafür zu finden. Sowohl der Mann als auch Indifferenz sind mir suspekt.
8
Traismauer. Kaffeehaus. Zwei Kellnerinnen und ein Mann unter sich. Ich sitze am Nebentisch und höre ganz deutlich, was die miteinander reden: „Du trägst ja keine Unterhose!“, sagt die eine zur anderen, die keine Unterhose unter dem kurzen, schwarzen Strickkleid trägt. „Natürlich trag ich eine Unterhose!“